ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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III.

Geschichte eines im frühesten Jünglingsalter intendirten Brudermords.

Vieweg, J. Gottfried

Als ich, ungefähr im vierzehnten Jahre, mit meinem jüngsten leiblichen Bruder eine Zeitlang in einem Bette schlief, übereilte mich eines Abends, da ich etwas spät in dem Zimmer, wo wir schliefen, mit Schularbeit beschäftiget war, plötzlich der Schlaf; ich legte mich zu ihm nieder, nachdem er schon ziemlich lange sanft geruhet hatte. Aber statt des Schlafs überfiel mich nun eine fürchterliche Angst, ich hörte gleichsam eine Stimme, die mir sagte: nimm das auf dem Tische liegende Federmesser und stoß es ihm in den Hals —

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Die brüderliche Liebe kämpfte mit dem vermeinten Berufe ihn zu tödten je länger je heftiger, ich bewunderte die sanfte Ruhe desselben, umarmte den so unbekümmert Schlafenden, küßte ihn, stand auf, ergriff das Messer — — legte es zusammen, verbarg es sorgfältig zwischen Bücher und Papier,legte mich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und — betete.

Meine Ruhe und Seelenstille kehrte nach und nach wieder, und unaussprechlich groß war meine Freude, daß mir kein anderes als gerade ein Einlegemesser zur Hand gewesen, und daß ich meinen lieben kleinen Bruder nun nicht tödten sollte. Ihn rettete also vom Tode und mich von der fürchterlichsten Angst und unmenschlichsten That, schwärzer in der Ausführung, als je eine Kainshandlung — das versteckte Einlegemesser und ein inbrünstiges Gebet, wodurch das verwirrte Gewebe meiner gegenwärtigen Ideen vereinfachet, die unwillkührlichen abgeleitet, und freiwilligere wieder herrschend wurden.

Wie fest nun dieser Mordentschluß bei mir war, beweiset theils die immer noch von ängstlichem Mißtrauen begleitete Freude, da der Paroxismus bereits vorüber war; theils, daß ich nicht an die daraufgesetzte Todesstrafe dachte, da ich doch damals von der, diesem Alter in solchem Falle bewilligten Begnadigung, zuverläßig noch nichts [60]wußte. Dieß erschwert die Ergründung der Ursachen dieses mörderischen Vorsatzes sehr, und die damals noch so wenig entwickelte Anlage des Kopfes und Herzens macht diesen in seiner Art einzigen Zustand des Gemüths noch unerklärbarer.

Woher also dieser Sturm — woher diese unerhörte Mordlust in einer so jungen Seele? Rachbegierde war es nicht, denn er hatte mich nicht beleidiget, jener nicht selten nach überspannter Seelenanstrengung tobende Geist des Unmuths und der Mißlaune, wenn die Thätigkeit durch irgend ein entgegenstrebendes Hinderniß, wie hier vom Schlafe, gehemmt wird, konnte es in diesen Jahren wohl auch nicht, so wenig als eigentliche Bosheit oder Verzweifelung, seyn. Unzufriedenheit, daß er so sanft schlief und ich nicht schlafen konnte, war vielleicht eine entfernt wirkende Triebfeder, wer weiß, selbst die Dunkelheit der Nacht, die mich damals oft zu schwarzen ängstlichen Gedanken veranlaßte, konnte hier mit im Spiele seyn. Freilich war es mir auch eben so recht nicht gelegen, einen Beischläfer zu haben, aber überzeugt von der Nothwendigkeit und guten Absicht meiner Aeltern, hatte ich mich schon längst darein ergeben.

Vielleicht, aber nur vielleicht, war es an einem Tage, wo ich einen Mörder vom Leben zum Tode hatte bringen sehen. Vor solchen schauder-[61]vollen Auftritten war ich in jenen Jahren, gewöhnlich des Delinquenten wegen, sehr ängstlich und bekümmert, sobald aber die Handlung geendigt war, empfand ich eine Art von Gleichgültigkeit und Verachtung des Todes.

Ist es nun mehr Stärke oder Schwäche der Seele, wenn sie oft zu raschen Entschließungen übergeht? Schwäche kann wenigstens eben sowohl eine Mutter grausamer als schändlicher Handlungen seyn. Jenes Selbstgeständniß beweißt, daß uns die geringfügigsten Umstände zu Handlungen von den wichtigsten Folgen verleiten können. Das frey und offen liegende spitzige Messer ängstigte mich eben so sehr, als es mich hinterher beruhigte, da ich es zusammengelegt und versteckt hatte. Durch diese Täuschung gewann meine Seele Zeit, jenen höllischen Todesengel zu besiegen, und ich schlief freudig ein.

Wer wünscht mir nicht Glück, daß ein so schrecklicher Gedanke seitdem nicht wieder in mir erwacht ist; so wie ich auch von dem innern heißen Drange, am unrechten Ort laut reden zu müssen, da ich mir öfters in der Kirche mit der Hand den Mund fest zuhalten mußte, seit einigen Jahren nichts mehr weiß.

Das Resultat ähnlicher Selbstgeständnisse und Erfahrungen wird am Ende unwidersprechlich dar-[62]auf hinauslaufen; es drängen sich oft Vorstellungen und Vorsätze auf, die wider unsern Willen zu lebhaft werden, wo die Freiheit der Handlungen in Gefahr kommt, weil sich unsre Seele in einem fieberähnlichen Zustande, in einem Stande der Sklaverei befindet, worin sie sich blos leidend zu verhalten scheint: und da die Seele überhaupt das Neue liebt, so handelt der Mensch oft in dieser Art von Betäubung nach dunklen Gefühlen und Empfindungen, die ihm selbst unerklärlich bleiben. Ferner: die Seelenkrankheiten haben, gleich den Krankheiten des Körpers, ihre Paroxismen, wo sich die Krankheit vermehrt; so auch ihre Intervalle, wo der Mensch ungesäumt Gegenstände und Gedanken verändern muß, um sich, immer doch mit nicht geringem Widerstande, von der Tyrannei widerstrebender Ideen loszuwinden.

V...s. in Br—g.