ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Beobachtung jugendlicher Charaktere.

Spazier, Karl

Ich hatte einen Zögling, der etwas über eilf Jahre alt, schwerfällig und von stärkern Gliedern war, als sie in den Jahren zu seyn pflegen. Seine Seele war, und ist zum Theil noch, was man gemeine Seele zu nennen pflegt; außer einem ziemlich glücklichen Gedächtniß, zeichnet sie sich weder durch vorzügliche Anlagen, noch durch Reizbarkeit und Schnelligkeit der Empfindung aus. Er äußert wenig Theilnehmung an äußern Gegenständen; ich habe ihn öfters rührenden Scenen ohne sichtbare Theilnehmung beiwohnen, interessante Geschichten und Erzählungen mit anhören sehen, ohne daß er darüber besondere Mitfreude oder Traurigkeit geäußert hätte. Er bleibt in seiner behaglichen Ruhe, in der ihm allein wohl ist, und aus der ihn selten etwas, am wenigsten Musik herauszubringen im Stande ist. Dabei ist er ein äußerst gutmüthiger Knabe, wen er einmal liebt, an dem hängt er mit Leib und Seele; aber ein Druck der Hand, ein poßierliches Hinzudrängen zu ihm, ist alles, was man in dem Fall von ihm erwarten kann. [94]Selten überrascht man ihn bei einem treuherzigen Gespräche; nie hat er mich seiner Liebe zu mir versichert, aber ich weiß gewiß, daß er mich herzlich lieb hat, und um destomehr, je weniger er in dem Falle gewesen ist, es mir sagen zu dürfen.

Diese Schilderung mußte des Folgenden wegen vorhergehen. — Ich hatte die Gewohnheit, meine Kinder öfters, besonders in den langen Winterabenden, um mich her zu versammlen, ihnen entweder etwas vorzulesen oder vorzuerzählen, oder auch wohl auf dem Klaviere vorzuspielen und mit ihnen gemeinschaftlich einen Gesang anzustimmen, überzeugt von der wohlthätigen Wirkung der Harmonie auf weiche Kinderseelen. Ich hatte oft und viel gespielt, ohne daß jemals dieser Zögling das geringste Zeichen von Theilnehmung merken ließ. An einem Abend spielte ich zufällig eine Stelle aus Türks Sieg der Maurerei, wo die Hörner in leichten Sext- und Quintengängen eine simple Melodie spielen, und plötzlich sprang er vom Tische auf, umfaßte mich sehr heftig und begleitete mit dem ganzen Körper und unmäßigen Sprüngen jede Bewegung so nachdrücklich, daß mir seine Begleitung sehr beschwerlich fiel. Mit jeder Wiederholung dieser Stelle nahm seine Entzückung zu, sein Gesicht ward so heiter und froh, als ich es vorher nie gesehen hatte, und die Bewegungen seines Körpers gränzten ans Konvulsivische. Ja, [95]am Ende machte es ihm eine schmerzhafte Empfindung, er bat mich aufzuhören, und selbst dann, wenn er schon im Begriff war ins Bette zu steigen, und in einer Entfernung von dreien Zimmern den Satz spielen hörte, kam er mit flehendem Geschrei hervorgerannt und unterbrach mich. Mein Bitten, sich doch in seiner Ausgelassenheit zu mäßigen, mein Verbieten endlich, das Gelächter, dem er sich dabei aussetzte, der Spott der kleinern, meine Versuche ihn festhalten zu lassen, alles half eine Zeitlang nichts, und er riß sich entweder loß, oder er strengte sich bis zur gänzlichen Erschlaffung an. Daß er nicht affektirte, nicht betrog, dafür bürgte mir seine ehrliche Einfalt und sein natürliches Unvermögen, eine ihm so fremde Rolle zu spielen; und warum sollte er es auch thun? Niemand konnte weniger geneigt seyn, sich bemerkt zu machen, als er; überdem bewiesen seine Thränen und das Mißvergnügen, dem ihn die allgemeine Neugierde und Verspottung der andern Zöglinge aussetzten, das Gegentheil zur Genüge.

Ich spielte die Stelle lange nicht mehr, um ihn ganz davon abzuführen und dem ganzen Spiel ein Ende zu machen; oder ich mischte die Stelle so sehr unter fremde Sachen, wich in der Form und Harmonie so aus, daß er mich bei seiner gänzlichen Unwissenheit in der Musik, und bei seinem [96]Mangel alles musikalischen Gehörs, unmöglich hintergehen konnte. Aber dennoch merkte er den Satz, wenn er noch so sonderbar mit andern verbunden war, und er that gleiche Wirkung auf ihn. Wie denn am Ende sich alles abstumpft, so verlor sich auch bei ihm diese zufällig erregte Reizbarkeit, man that ihm Gewalt an, hatte ihn beständig zum Besten, und peinigte ihn vom Morgen bis zum Abend damit.

Ich kann mir diese sonderbare Begebenheit nicht anders erklären, als daß in seiner frühesten Kindheit eine ähnliche Melodie, die ihm seine Mutter oder seine Amme vorgesungen haben kann, sich in seiner zarten Seele festgesetzt hatte, nun durch den Zufall wieder aufgeweckt wurde und in eine lebhafte Empfindung überging. Mir schien der Vorfall des Aufzeichnens immer werth zu seyn, und ich wünsche, daß er wenigstens dazu diene, Erzieher aufmerksamer auf die Aeußerungen ihrer Kinder zu machen, und ihnen Gelegenheit gebe, den ersten Quellen ihrer öfters sonderbaren Gewohnheiten, Neigungen und Abneigungen nachzuspüren, bei Ausrottung schädlicher, und Einpflanzung guter Neigungen immer, wo möglich, einen Hinblick auf ihr ganzes Selbst, besonders auf ihren Unterricht, auf die Umstände, auf die Gesellschaft und auf die Personen zu werfen, die sie zuerst umgaben und von denen sie den ersten Gebrauch ih-[97]rer Sinne lernten, und so auf dieser Grundlage fortzubauen. Wie wichtig dieß freilich etwas mühsame Studium, hingegen wie schädlich die Vernachläßigung dieser Bemühung sey, lehrt die Erfahrung den, der sich selbst einmal in dem Falle befand, wo man auf verkehrte Voraussetzung ihn verkehrt behandelte, wo man ihn zu etwas determinirte, wovon kein Funke in seiner Seele lag, oder wo man ihn von etwas zurückzog, wohin sein inneres Streben ging, und seinen Anlagen und Empfindungen gerade entgegenarbeitete.

Die ersten Jahre des Lebens, wahrlich sie sind die wichtigsten. Das entschieden schon Montagne, Locke, Rousseau, und Dank diesen und vielen andern verehrungswürdigen Männern unserer Zeit, daß sie sich mit solcher Wärme der Säuglinge und Unmündigen öffentlich annahmen. Leichter wärs freilich immer gewesen, das Verderben und die Ausartung der menschlichen Seele auf die sündhafte Natur zu assekuriren, und das, was Mütter und Väter und Ammen und Schulmeister verdarben, nach dem Stammbaum in gerader Linie bis zum Adam hinauf, auf die Vorwelt zu schieben, als durch Streben und Forschen und Wegräumen schon in der ersten Lebensperiode die Erziehung anzufangen. Und doch haben die Folgen davon von jeher sichtbar seyn müssen. Vorausgesetzt, was nun bewiesen genug ist, daß wir ohne bestimm-[98]te Neigungen auf die Welt kommen, und das abgerechnet, woran die nothwendig individuelle Verschiedenheit der Organisation und die von den Eltern uns mitgetheilte Empfänglichkeit, die ich Empfindungsfähigkeit nennen möchte, Theil hat, so ist gewiß, daß in dieser Periode der Grund zu sehr vielen gelegt wird, was uns noch in spätem Jahren karakterisirt. Nur ein Beispiel. Musikalisches Talent, Leichtigkeit, von Tönen afficirt zu werden und sie in ihrer Verbindung zu fassen, die sich augenscheinlich bei einem Kinde mehr als bei dem andern, besonders bey dem Genie, äussert; das durch das stete Unterhalten und Studiren der Harmonie beförderte Gefühl für Schönheit und Kunst; — vielleicht liegt dazu schon der Keim in den ersten Tagen der Kindheit, wurde vielleicht schon im ersten Moment des Daseins, bei dem ersten wundervollen Entwinden des Embryons aus dem Schooße der nachtvollen Dunkelheit der Seele eingewebt, eingepflanzt: vielleicht faste die noch schlummernde Seele einen Ton auf, der sie erschütterte und bis in ihr Innerstes erbeben machte: oder — wenn es nicht zu sinnlich ist — vielleicht drückten sich die Töne den zarten Fibern seines Gehirns zu stark, zu mächtig ein, ruhten wie feiner Staub auf der Maschine, bis sie, von erschütternder Thätigkeit angestoßen, sich mit dem heiligen Denkmarke vermischten und sich unter die übrigen Ideen gesellten. Kann seyn, wir wissens nicht. [99]Ist aber die Seele nur im allerfeinsten Verstande materiel, so läßt sich der Traum schon hören, und wenigstens soviel daraus abziehen, daß die ersten Eindrücke, die die Seele durch irgend einen Sinn auffast, sehr mächtig seyn müssen.

Die Empfindungen, in den ersten Jahren erweckt und hervorgebracht, halten sich sehr lange, und sie lassen sich mindern, auf einen andern Zweck leiten, aber, wie ich glaube, nie ganz aufheben. Es bleibt gewiß immer etwas übrig, was wir aus unsern Jugendjahren ins reifere Alter mit hinübernehmen, eine Art der Empfindung, der Neigung, eine gewisse Form zu denken und die Gegenstände unserm Denken und Empfinden anzupassen, die, sie mag auch mit der Zeit noch so künstlich modificirt worden seyn, doch immer den scharfsichtigen Beobachter das erste Jugendgepräge unverkennbar bemerken läßt. Die Schwärmerei in der Liebe, z.B. die das Herz eines Jünglings ansteckt, der von einiger lebhaften Empfindung ist, kann nach mehrern Jahren zu erkalten scheinen; ja, er kann es sogar dahin bringen, alles das, was ihm ehemals so heilig und von seiner Glückseeligkeit so unzertrennlich schien, nun im vollen Ernst lächerlich zu finden, und auf Empfindeley und platonische Seelenschwärmerey Epigrammen zu machen; aber man glaube ja nicht, daß nun seine Empfindsamkeit ganz aufgehört hat, und aus ihm ein ganz anderes We-[100]sen geworden ist. Er kann dem Tone der Welt, ja seinem Verstande selbst das Opfer bringen; aber in seinem Herzen glimmt immer noch ein Funken der Schwärmerey fort, der sich bald entzündet und unvermuthet irgendwo auflodert. Der Mann mit der ersten herrschenden Empfindung findet sich immer wieder. Sterne, Petrarka und unser großer vaterländischer Dichter W. würden sich auf dem Wege, der am weitesten von ihrem Herzen abführt, wiederfinden lassen, und ich rechne es dem letztern als große Kenntniß des menschlichen Herzens an, daß er seinem Agathon in seinen spätem Jahren eben die Reizbarkeit, eben die Fühlbarkeit, nur in einem andern Grade, giebt, die er in den bezaubernden Myrthenhainen des delphischen Apolls früh einsog. — Ich hatte einen Freund, der sich von aller Empfindsamkeit, zu der sein Temperament und die Nahrung der Modeschriftsteller ihn trieben, mit gewiß männlichem Muthe losgemacht hatte, der am Ende selbst Religionsempfindungen verwarf, und alles auf kalte Schlüsse und strenge philosophische Beweise gründen wollte. Aber ich sah ihn öfters, wenn er unter eine Bauergemeine trat und einen einfachen Choral in herzlichlautem Tone von einer Orgel begleitet, von andächtigen Landleuten ihrem Gotte entgegentönen hörte; da überwältigte ihn seine Empfindung so sehr, daß er wie ein Kind in Thränen zerfloß. Ich sah ihn einmal vor süßer Wehmuth hinter einem [101]Kirchstuhle unbemerkt niedersinken, und sich da dem unwiderstehlichen Ausbruche seines Gefühls überlassen.

Er hatte als Kind und Knabe mit seinem Vater die Versammlungen der mährischen Brüder fast alle Abend besuchen müssen, und die Bilder, die damals seine junge Phantasie erhitzten, waren in Empfindungen übergegangen und drangen sich ihm noch in seinen spätem Jahren mit ungemeiner Lebhaftigkeit auf.

Es erfolgt aus dem allen nun wohl von selbst, wie sehr man uns vor falschen, verderblichen Bildern in Acht nehmen müsse. Schade, ewig Schade, daß die Kraft der schönen Künste nur zu oft in verrätherische Hände kömmt, warum wollen wir uns nicht vor der Sünde hüten, und wahrlich das Tödten der Unschuld — durch thätliche Verführung, leichtsinnige Reden und Schriften, durch schlüpfrige Gemälde, im Grunde alles Eins — ist eine der größten. — Warum wollen wir unsere Kinder und Zöglinge, durch Veranlassung schädliche Dinge früh zu sehen und zu hören, um das herrlichste Geschenk des Himmels, um den Sonnenschein ihrer Unschuld bringen, an dem sich ihre Seelen bis zum männlichen Alter hin erwärmen sollten? —

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Es folgt ferner daraus, wie gut es wäre, wenn man Allem, was den jungen Menschen umgiebt, das Gepräge des Geschmacks, der Anmuth, der Ordnung und Schicklichkeit geben, und ihm dadurch schon früh Gelegenheit verschaffen könnte, seinen Geist und sein Herz durch das Gefühl des Vollkommenen zu reitzen, und seine Empfindungen und alle Seelenkräfte allmälig an dem Anschauen des Schönen und Guten zu entwickeln und zu verfeinern. Alles reizt den Geist zu Beobachtung solcher Dinge, wodurch er selbst seine Ausbildung bekömmt, und alles flößt dem Herzen durch die angenehmen Empfindungen, die von jedem Gegenstande erweckt werden, ein sanftes Gefühl ein. Und dieß ist das wahre Gefühl, das man erregen, anfachen muß, seiner darf sich auch der gesetzteste Mann nicht schämen. Nicht jene leere, schale Empfindelei, woran unser halbes Deutschland seine Söhne und Töchter darnieder liegen sahe. Weise Leitung ist also nöthig, damit unsere Empfindungen stufenweise so geleitet und gemäßigt unterhalten werden, daß sie uns zur Ausübung des von der Vernunft erkannten Guten Wärme geben und uns zum lebhaftern und stärkern Genuß der edlern Menschenfreuden zu jeder Zeit empfänglich machen.

Die Frage: wie und wiefern muß man Kindern die Religion versinnlichen und sie zur Andacht [103]gewöhnen, damit sie vor religiöser Schwärmerei verwahrt und zu vernünftigen, warmen Gottesverehrern gebildet werden — liegt hier gar nicht aus dem Wege. Ich wünschte sie von einem Andern, der mir an Kräften und Erfahrung weit überlegen wäre, in ihrem ganzen Umfange beantwortet zu sehen, weil sie von äusserster Wichtigkeit ist, und sich nach dem, was der geschickte Kinderschriftsteller Salzmann darüber gesagt hat,*) 1 noch immer viel interessanter sagen lassen müßte.

Was könnte man endlich in den Jahren für den Künstler thun, der überhaupt schnelle und scharfe Empfindungen haben und leicht das schöne in der Natur und in den Werken der Kunst fühlen und wahrnehmen muß. Aus diesen Theil der Erziehung, da man auf Leitung und Richtung der Empfindungen Rücksicht nähme, ließe sich allerdings viel von der Beförderung des Zwecks und der Wirkung oder Nichtwirkung der schönen Künste, erklären, die mehrentheils auch darum noch nicht in aller ihrer Kraft, auf menschliche Seelen haben wirken können, weil diese zu wenig Sinn, vorbereitetes Gefühl und die gehörige Empfänglichkeit dafür hatten.

Geleitet müssen die Empfindungen immer werden, sie mögen seyn von welcher Art sie wollen. [104]Freilich giebts dabei manche mislungene Versuche, und gewissenhaftes Studium der menschlichen Seele ist darum das erste Erforderniß eines Erziehers. Erfahrung auch; denn es gehöret ein scharfes Auge dazu, wahre Empfindungen von geheuchelten und scheinbaren, die vom Eigensinn, der Laune, der Disposition des Körpers oder von einem andern zufälligen Umstande abhängen, zu unterscheiden. Indessen darf man die Natur doch schlechterdings nicht in allen Fällen sich selbst überlassen. Soll der Jüngling seine Ideen und Empfindungen, selbst, so gut er kann, bilden, entwickeln und berichtigen, so ist die Gefahr unvermeidlich. Eigene Erfahrung ist zwar unterrichtend, aber sie kömmt in den mehrsten Fällen auch theuer zu stehen. Man wird öfters das traurige Opfer seines empfindungsvollen, jeder Leidenschaft entgegen glühenden Herzens, und macht sich unglücklich, ehe man sich einen Spruch der Weisheit daraus abstrahirt hat. — Zur Bestätigung dieser Wahrheit schließ' ich mit den Worten eines großen Dichters, den man hoffentlich an der Sprache erkennen wird:

»Es giebt ein zweifelhaftes Licht, worin die Grenzen der Tugend und der Untugend schwimmen; worin Schönheit und Grazien dem Laster einen Glanz mittheilen, der seine Häslichkeit übergoldet, der ihm sogar die Farbe und Anmuth der [105]Tugend giebt. Es ist allzuleicht, in dieser verführerischen Dämmerung sich aus dem Bezirke der letztern in eine unmerkliche Spirallinie zu verlieren, deren Mittelpunkt ein süßes Vergessen unsrer selbst und unsrer Pflichten ist.«

Fußnoten:

1: *) Ueber die wirksamsten Mittel, Kindern Religion beizubringen. a

Erläuterungen:

a: Salzmann 1780.