ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: III, Stück: 1 (1785) >  

III.

Ein Korbmacher, der oftmals, gleichsam in einer Betäubung, ausnehmend erwecklich prediget.

Varnhagen, J. A. T. L.

Wetterburg den 3ten October 1784.

Johann Conrad Mohk, in Buhlen, einem im Fürstlich-Waldeckischen Amt Waldeck a liegenden [42]geringen Dorfe, wohnhaft, wo er auch am Ende Novembers oder im Anfang December 1709 ehelich geboren worden*), 1 ist der Mann, mit dem ich das Publikum bekannt machen möchte, da er noch zur Zeit in einem 75 jährigen Alter lebet, folglich ein jeder noch im Stande ist, sich von der Wahrheit meiner Angaben weiter zu überzeugen. Ich bin von 1777 bis 1780 viertehalb Jahr in der Stadt Waldeck, davon jenes Dörfchen nur eine halbe Stunde entfernet ist, Rektor, und zugleich Pastor zweyer nahegelegenen Dörfer gewesen. Dieses hat mir Gelegenheit gegeben, den Mann genau kennen zu lernen, von dem ich hier rede. Er führt ein unbescholtenes christliches Leben, und hat in seinem niedrigen Stande ein würklich ehrwürdiges Ansehen. Sein bescheidenes Wesen, sein guter natürlicher Verstand, vermöge dessen er im gemeinen Umgange mit jedermann wohl zu reden weiß, sein offenes ehrliches Gesicht, seine im Alter noch gerade Statur, seine grauen Haare: alles dieses nimmt für ihn ein. Wahrscheinlich ist in ihm ein guter rechtschaffener Prediger der Kirche verdorben, der wohl manchen seiner Zeitgenossen an Geschicklichkeit weit übertroffen haben würde. Er nähret sich hauptsächlich vom Korbflechten und Strohdachdecken, und lebt in einer unfruchtbargebliebenen Ehe. Was ihn aber vor vielen tau-[43]senden seines Gleichen merkwürdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu ändern ist) als wann er allein ist. Insonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kännchen (das ist für drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*). 2 Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als möglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vorträge, derer ich mehrere und über unterschiedliche biblische Texte angehöret habe**), 3 sind Bußpredigten oder Er-[44]mahnungen zur Besserung der Gesinnungen und des Betragens. Seine Aussprache dabei ist sehr angenehm und der Sache, die er vorträgt, angemessen, deutlich, mehrentheils sanft und erweichend. Er bedenket sich nicht auf das, was er sagen will; auch stottert und stocket er nicht. Wo etwas rührendes vorkommt, weinet er auf eine anständige Weise. Nachdem er die Predigt mit Amen geschlossen hat, so betet er das Vater Unser etc. und der Herr segne uns etc. Zuweilen lasset er auch den Segen weg. Während seinem ganzen Vortrag sitzet er in einer Art von Betäubung; hat die Augen starr offen, ohne zu sehen, wer oder was vor ihm ist; geräth dabei in einen Schweiß und in Engbrüstigkeit, ob er gleich weder sehr laut noch lange redet; und wenn alles geendiget ist, scheinet er sehr ermüdet, schöpfet tief Athem, und erholet sich nur langsam wieder. Nachdem er wieder zu [45]sich selber gekommen ist, bedauert er gegen die Umstehenden, daß sein schlechter Vortrag wohl von manchem möge verspottet werden: und bezeuget dabei zu seiner Entschuldigung, er könne es nicht zurückhalten.

Dieses ist das Faktum selbst. — Nun will ich aber auch zur Auflösung dieser sonderbaren Erscheinung einige Data mittheilen.

Als ich eine seiner Predigten am 25sten Mai 1779 angehöret, und durch nachherige freundliche Unterredung sein Zutrauen gewonnen hatte, erzählete er mir in Ausdrücken, die das Gepräge der Aufrichtigkeit hatten : der im Jahr 1740 verstorbene Conrektor Brumhard zu Niedern-Wildungen b habe einstmals auf einen Sonntag für den Pastor zu Afholdern, wohin Buhlen eingepfarret ist, geprediget. Die Predigt sei besonders erwecklich und eindringend gewesen, und er durch selbige dermassen gerühret worden, daß er während derselben bis zum Ausgang aus der Kirche geweinet habe. In der nächstfolgenden Nacht habe er im Schlaf die angehörete Predigt mit lauter Stimme wiederholet; seine noch lebende Ehegattin*) 4 sei darüber aufgewacht, und habe sich bemühet, ihn [46]aufzuwecken, welches aber vergeblich gewesen sei; denn er sei an Hersagung der Predigt und im Schlaf geblieben. Da alles vorbei gewesen und er wieder stille geworden sei, habe seine Gattin ihn gefragt: Wie ihm sey? Worauf er erwiedert habe: Gut! Hiernach habe sie ihm in grosser Bestürzung erzälet, was mit ihm vorgegangen sei. Davon habe er aber nichts gewußt. Und seitdem müsse er oft predigen, ohne daß er wisse, wie er dazu komme.

Man merket an ihm nichts Schwärmerisches, als ob er seine Predigten für etwas Uebernatürliches hielte: und eben so wenig bildet er sich darauf ein. Betrug und Verstellung kann, nach allen Umständen, hierbei, meines Erachtens, auch nicht vermuthet werden; zumalen, da er dadurch nichts zu gewinnen suchet, und in so langer Zeit nichts gewonnen hat, weder an Ehre noch Gut.

Mit Schrifterklärungen giebt er sich niemals ab; sondern seine Vorträge sind aus den nöthigsten und bekanntesten Religionswahrheiten und deutlichen Sprüchen der Bibel, welche er nach dem Kapitel ordentlich citiret, leicht zusammengesetzet, und eben deswegen für jedermann sehr faßlich; gleichwohl fehlet es ihnen nicht an Zusammenhang, doch ohne ins Aengstliche zu fallen. Und in dieser Rücksicht sind seine Vorträge wahre Muster für Dorfprediger.

[47]

Ueberdieß habe ich bemerket: Der Mann besitzet ein besonders gutes Gedächtniß; denn er weiß noch ganze Stücke aus den im Jahr 1728 gehaltenen Leichenpredigten auf die kurz nacheinander verstorbenen beiden Fürsten von Waldeck, Friedrich Anton Ulrich und Christian Philipp. Ausserdem aber muß er auch eine sehr lebhafte Einbildungskraft haben, wie aus dem erwähnten Vorgang, da er die angehörte Predigt im Schlaf laut wiederholet hat, abzunehmen ist.

J. A. T. L. Varnhagen,

Pastor zu Wetterburg bei der Fürstl. Waldecki-
schen Residenz Arolsen.

Fußnoten:

1: *) Er wurde am 2ten December 1709 getauft.

2: *) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven müssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst wäre jenes wohl nicht möglich.

3: **) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten hält, weiß und sagt er selbst. Ich habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hörete ich ihn über Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls über jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kännchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals über Apost. Gesch. 20, v. 27. Ich habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhörer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und künstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er hält wahre paränetische Vorträge, nur ungefähr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas darüber.

4: *) Dieser Johann Conrad Mohk wurde zu Buhlen am 3ten Julii 1732 mit Maria Margarethen Rien ehelich verbunden. Der Anfang seines Paroxysmus fällt folglich zwischen dieses 1732ste und das 1740ste Jahr.

Erläuterungen:

a: Stadt im Landkreis Waldeck-Frankenberg in Nordhessen.

b: Heute Bad Wildungen, Stadt im Landkreis Waldeck-Frankenberg im westlichen Nordhessen.