ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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V.

Die Nichtigkeit des Ahndungsvermögens oder sonderbare Wirkungen eines melancholischen Temperaments.

F. G.

—— Da dieser Gegenstand noch von so vielen Dunkelheiten begleitet wird, und ich Ursach zu haben glaubte, an einem solchen Ahndungsvermögen der Seele zu zweifeln, so kann man leicht denken, [57]wie angenehm mir's seyn mußte, als sich mir vor einigen Jahren eine Gelegenheit darbot, einige Erfahrungen hierüber zu machen. Ich wurde nemlich mit einer Frau bekannt, die mich in der Folge durch so manche sonderbare Auftritte oft in Verwunderung gesetzt hat, und deren Bekanntschaft mir in dieser Rücksicht immer merkwürdig seyn wird. Sie war eine Frau im mittlern Alter, von gesetztem Charakter, gutem Verstande, und was ich immer an ihr bewunderte, ziemlich frei von Vorurtheilen und Aberglauben.

Dabei hatte sie vermöge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in düstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wünschen konnte.

Ich mogte ungefähr etwas über ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte.

Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewöhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je näher der Abschied heranrückte.

[58]

Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Mühe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Unglück zustossen würde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages über, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe.

Da die jetzige Lage ihres Gemüths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich hätte zweckmäßig mit ihr über diesen Auftritt unterreden können, so nahm ich mir vor, einen günstigem Zeitpunkt abzuwarten.

Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, darüber zu sagen, doch nicht in einem lächerlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemüthsart oft auf immer verdächtig und wohl gar verhaßt machen kann.

Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt hätte, ohne nur jemals eine ähnliche Traurigkeit und Angst gefühlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Unglück zustoßen könnte, in ihr aufgestiegen [59]wäre, hätte er auch gleich solche Gewißheit für sie erlangt, daß sie sich bis jetzt seiner noch nicht entledigen könnte. Ich, weit entfernt, dieß für eine wirkliche Ahndung zu halten, suchte alle Gründe auf, die mir Erfahrung und Räsonnement an die Hand geben konnten, ihr die Nichtigkeit ihres Phantoms, wofür ich es hielt, zu beweisen, aber ich richtete nicht viel mehr damit aus, als daß sie sagte: sie wollte wünschen, daß sie sich getäuscht hätte. —

Ungefähr nach einem Vierteljahr, da ich einmal des Nachmittags sie zu besuchen kam, fand ich sie sehr traurig, und da ich nach der Ursach fragte, gab sie mir einen Brief, den sie heute aus L... von ihrem Vetter erhalten hatte, mit den Worten: da lesen Sie die Widerlegung einer ihrer Meinungen.

Ich las und erstaunte, als es eine Nachricht von einem sehr unglücklichen Vorfall war, der sich mit dem jungen Menschen zugetragen hatte, und der zugleich seiner ganzen Familie einen Schlag versetzte*) 1. Ich war also dem Anschein nach durch den Erfolg überwiesen worden, daß meine Freundin eine wirkliche Ahndung gehabt hatte. Ich gesteh' es: dieser Vorfall machte mich anfangs stutzig, ich untersuchte noch einmal aufs genaueste, ob sie nicht etwa auf irgend eine Weise wenigstens entfernt etwas von der unglücklichen Begebenheit nach [60]einigen wahrscheinlichen Gründen hätte vorhersehn können, aber ich erhielt von meiner Untersuchung nur aufs Neue die Ueberzeugung, daß dieß auf keine Art möglich gewesen sei.

Allein vielleicht, dacht' ich, hat sie irgend einen andern verdrüßlichen Vorfall vermuthet, und diese Vermuthung hat ihre damalige Traurigkeit und Angst verursacht, in welchem Fall denn ihre Ahndung sehr erklärbar wäre. Um auch hierüber etwas Zuverlässiges zu erfahren, dacht' ich erst selbst hin und her, ob ich nicht dieß oder jenes auffinden könnte, davon meine Freundin hätte vermuthen können, daß es ihr oder ihrem Vetter zustoßen würde, aber ungeachtet ich sehr gut mit der ganzen Verfassung und fast mit allen Personen dieser Familie bekannt war, könnt' ich doch nichts dergleichen ausfindig machen.

Ich befragte sie nun durch allerlei Umwege selbst darum, aber auch hier war das Resultat meiner Bemühung dasselbe.

Versichert, daß ich nun das Faktum ziemlich ausser Zweifel gesetzt hatte, wußt' ich anfangs selbst nicht, was ich davon halten sollte. Alle Umstände genau erwogen, schien es, daß ich nicht anders umhin könnte, ich müßte diese Erscheinung für eine wirkliche Ahndung halten, deren Ursprung ich in nichts andern, als in einem Ahndungsvermögen der Seele zu setzen hätte.

[61]

Allein so geschwind konnt' ich mich nicht entschliessen, eine Meinung anzunehmen, gegen die sich noch zur Zeit so viel triftige Gründe anführen lassen. Denn einmal ist es doch gewiß sonderbar, daß dieß Vermögen (in dem Fall, daß es ein solches geben sollte) so wenigen Menschen zu Theil geworden ist, so daß man es von jeher für eine sehr seltene Erscheinung hat halten müssen.

Ist dem Menschen eine solche Fähigkeit nützlich, und das müßte sie doch nach den ewigen Gesetzen der Natur seyn, wenn sie mit der Weisheit Gottes bestehn sollte, so frägt sichs, warum dieß nützliche Geschenk so vielen Tausenden ganz und gar versagt worden ist?

Hier könnte mir freilich mancher feindistinguirende Kopf einwerfen, daß dieß Vermögen eigentlich niemanden fehlte, sondern daß es sich nur nicht bei allen wirksam bezeigte. Aber mit Erlaubniß aller der Herren, die dieser subtilen Art von Distinktionen zugethan sind, mögt' ich wohl fragen, durch welche Offenbarung sie denn den Unterricht von dem Daseyn eines solchen Vermögens bei allen Menschen erhalten haben, weil bekanntlich die Existenz eines Dinges, das sich so geradezu mit leiblichen Augen nicht schauen läßt, doch nur aus seinen Wirkungen erkannt werden kann?

Meinten sie aber, daß weil es sich bei einigen Menschen findet, man folglich schliessen könnte, daß es alle übrigen auch hätten, so machen sie sich hier [62]der petitio principii schuldig, indem ihr Beweiß gerade das Ding ist, darum noch gestritten wird.

Wer würde wohl sagen, daß ein Wesen, das nie gedacht hat, Verstand hätte? Oder um noch ein besseres Beispiel zu geben, wenn einer von den besagten Herrn in einer Gesellschaft wäre, wo es nun weder etwas zu distinguiren gäbe, noch daß von einer neuen Edition irgend eines alten Schriftstellers, noch von römischen und griechischen Antiquitäten auf eine seichte Art gesprochen würde, und er sich folglich bei so bewandten Umständen entschliessen müßte, keinen Laut von sich hören zu lassen, würde er da nicht für die Gesellschaft so gut, als nicht da seyn? Und wenn er nun durch irgend einen Talismann seine pedantische Figur noch dazu verunsichtbaren könnte, würde es da nicht vollends unmöglich seyn, seine Gegenwart zu beweisen?

Alles sehr handgreiflich, denk' ich, allein da es nun einmal im 18ten Jahrhundert noch Gelehrte giebt, die vor übermäßiger Gelehrsamkeit sehr oft das handgreifliche für unbegreiflich halten, so muß man sich schon darin fügen, daß man sucht, ihren etwanigen nonsensikalischen Einwürfen schon im voraus zu begegnen, um den werthen Herren aus christlicher Liebe Papier und Dinte zu ersparen.

Wenn es also nicht geläugnet werden kann, daß man bei den mehresten Menschen auch nicht die geringste Spur von einem Ahndungsvermögen an-[63]trift, so glaub' ich, daß man hieraus schon mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthen kann, daß die angeblichen Ahndungen mancher Personen in ganz andern Dingen ihren Grund haben.

Es giebt für das menschliche Geschlecht, so wie für alle übrigen Gattungen von Geschöpfen gewisse allgemeine Eigenschaften, worin jedes Individuum mit dem andern seiner Art übereinkommt.

So haben alle Menschen Urtheils- Gedächtniß- und Imaginationskraft, obgleich die Verschiedenheit des Körperbaues, feinere Nerven und Gehirnfibern, oder eine etwas andre Lage derselben und mehrere dergleichen Ursachen, nebst fortgesetzter Uebung dieser Vermögen einen ausserordentlichen Unterschied in den Graden der Stärke und Schwäche derselben verursachen. Dieß findet sich aber bei dem angeblichen Ahndungsvermögen anders, und folglich kann es gewiß nicht zu dieser Klasse der allgemeinen Eigenschaften gerechnet werden.

Untersucht man anderntheils die Beschaffenheit desselben, so muß es der Vernunft allerdings etwas fabelhaft scheinen, daß ein Mensch künftige Ereignisse vorhersehn könne, ohne sich im geringsten ihrer Ursachen bewußt zu seyn. Ich gestehe ein, ich habe hiervon keinen Begrif, und ich glaube, daß selbst Gott auf diese Weise das Zukünftige nicht vermögend ist, vorauszusehn.

[64]

Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande wären, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind.

Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natürlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemässesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernünftigste, die: daß Gott das Zukünftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick übersieht, oder die: daß er die Reihe künftiger Begebenheiten voraussehn könnte, ohne nöthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn?

Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermögen den Menschen überdem weit mehr zum Unglück, als zum Glück gereichen würde, so [65]muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussähn, daß uns etwas Unglückliches begegnen würde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so wären wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen.

Wozu könnte uns also diese Kenntniß anders nützen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel beträfe, zu unsern Geschäften untüchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Unglück, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen würde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hören, daß es glücklich vorübergegangen ist, die lebhafteste Freude einflößt.

So giebt es tausend Fälle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermögen zur höchsten Qual gereichen würde, dahingegen man nur weit weniger anführen kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben?

Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen könnte.

Die meisten hingegen sind Erzählungen, für deren Wahrheit ich mich keineswegs verbürgen [66]möchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht können nicht einige kleine, für das Ganze aber beträchtliche Umstände weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergrössert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schön sagt, wunderbare Vorfälle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwälzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzählt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Mühe haben würde, sie für die seinige zu erkennen.

Ueberdem ist es ein anders, einen merkwürdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Räsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht möchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn.

Also auch die über diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermögend, uns von unsern Zweifeln dagegen zurückzuhalten, und vielleicht setzen uns gründlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu überzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphänomene nicht aus einem Ahndungsvermögen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz

Prudens futuri temporis exitum

Caliginosa nocte premit Deus! a

behauptet daher für jetzt immer noch sein altes Ansehn.

[67]

Nach einer kurzen Rekapitulation dieser Gründe hielt ichs der Vorsicht gemäß, mein Urtheil über die vermeinthliche Ahndung meiner Freundin zur Zeit noch aufzuschieben, und abzuwarten, ob ich nicht noch mehrere Erfahrungen dieser Art machen könnte.

Ich nahm mir vor, das Betragen der Frau noch genauer zu beobachten, als es bisher geschehn war, um mich noch mehr von ihrer Denkungsart und besonders von den mancherlei Wirkungen ihres melancholischen Temperaments zu unterrichten, in der Hofnung, vielleicht auf diesem Wege die Quelle ihrer angeblichen Ahndung zu entdecken.

Ich war begierig, ob sich nicht etwa einmal der Fall ereignen würde, daß ihre Vorempfindung eines Unglücks ohne Erfolg bliebe, alsdann glaubt ich mich im Stande zu sehn, desto gründlicher von dem gehabten Auftritt urtheilen zu können.

Es vergingen einige Monathe darüber, ohne daß etwas Merkwürdiges vorfiel. Endlich trafs sichs, daß sie eines Tags, da sie auch sehr traurig war, und durch nichts konnte aufgeheitert werden, in meinem Beiseyn einen Brief erhielt. Ohne ihn nur angesehn zu haben, sagte sie schon im zuversichtlichsten Tone: daß er ganz gewiß ein unglückliche Nachricht für sie enthalten würde, und daß dieß gewiß die Ursach ihrer den ganzen Tag über gehabten Angst gewesen wäre.

Sie erbrach den Brief, und wie wunderte ich mich, als er wirklich eine verdrüßliche Nachricht [68]für sie enthielt. Ich fragte sie, ob sie vielleicht schon etwas davon gewußt, oder einen andern unangenehmen Vorfall vermuthet hätte, aber sie bewieß mir die Unmöglichkeit des erstern, aus Gründen, denen ich meinen Beifall auf keine Weise versagen konnte, und von dem letztern behauptete sie, daß sie mit Wahrscheinlichkeit sich auch nicht des geringsten Widrigen hatte gewärtig seyn können.

Ich sprach nach einiger Zeit die Person, von der der Brief war, und erhielt in Rücksicht des erstern dieselbe Versicherung. Ich war also auch hier überzeugt, daß ich nichts versäumt hatte, um die wahren Umstände dieses Vorfalls auszumitteln.

Jetzt war nun dem Ansehn nach kein andrer Rath übrig, als alle meine Zweifel fahren zu lassen, und geduldig die Wirklichkeit eines Ahndungsvermögens zu bekennen. Zwei so merkwürdige, und wie ich wohl sagen darf, mit einiger Genauigkeit untersuchte Fakta, verdienten allerdings Aufmerksamkeit, und ich gesteh' es, ob sie mich gleich nicht von allen Zweifeln gegen ein Ahndungsvermögen befreyen konnten, so hätten sie mich doch natürlicher Weise etwas wankend machen müssen.

Allein die mehreren Kenntnisse, die ich indessen von dem Charakter meiner Freundin eingesammelt, und eine Bemerkung, die ich bei dem letztern Vorfall zu machen Gelegenheit gehabt hatte, sicherten mich nicht nur dafür, sondern brachten mich auch auf eine Vermuthung, die bald zur [69]Wahrscheinlichkeit, und in der Folge durch überzeugende Beweise zur Gewißheit erhoben wurde.

Es ist bekannt, daß Aengstlichkeit eine von den Haupteigenschaften des melancholischen Temperaments ist; man trift sie bald in einem stärkern, bald in einem geringern Grade an, je nachdem die Mischung des Temperaments verschieden ist. Der Melancholiker empfindet oft ihre Wirkung in ihrer ganzen Stärke, er bildet sich Gefahren und Schrecknisse ein, wo entweder gar keine anzutreffen sind, oder wo sie wenigstens nur in Kleinigkeiten bestehn.

Bei geringen Anlässen hält er sich zuweilen schon für verloren, und wenn manchmal eine Ursach im Körper, oder eine äussere Ursach ihn vorzüglich zur Traurigkeit gestimmt haben, so sieht er oft jeden, der sich ihm naht, für einen Schreckensbothen an.

Ich habe einen solchen Menschen in dieser Stimmung sogar das freundliche Lächeln seines Freundes für verdächtig erklären hören, weil es sich gerade traf, daß dieser lächelte, als jener etwas erzählte, wo er sogleich argwöhnte, daß dieser etwa seine Erzählung lächerlich finden möchte.

Noch mehr Bemerkungen hierüber hab' ich — aber bei meiner Freundin gemacht, die, wie ich schon oben erwähnt habe, sehr melancholischen Temperaments war.

Befand sich ihre Seele in dieser traurigen Stimmung, so waren alle ihre Ideen in die schwar-[70]ze Farbe der düstern Melancholie gekleidet; alles sahe sie dann aus einem traurigen Gesichtspunkt an, sie erwartete nichts als Unglück, und ihre Phantasie war alsdann über alles geschäftig, tragische Bilder aufzuhäufen.

Was sie sonst entzückt hatte, gab ihr jetzt Gelegenheit, sich in düstre Betrachtungen zu vertiefen, und so unerträglich dieser Zustand des überspannten Trübsinns für sie war, so wenig war es doch in ihrer Gewalt, auch sogar in der fröhlichsten Gesellschaft, sich davon loszumachen.

Ein Grund, wie mich dünkt, wie ungerecht es seyn würde, solchen Personen das Verdammungsurtheil zu sprechen, die in dergleichen, vielleicht noch durch wirkliches Elend verstärkten Anfällen, verzweiflungsvoll ihrer Laufbahn auf dieser Welt ein Ende machen ——

An dem Tage nun, da meine Freundin den Brief erhielt, befand sie sich gerade in einer solchen traurigen Lage, so wie auch damals, als sie sich von ihrem jungen Verwandten trennte. Allein dießmal wußt ich, waren verschiedene Ursachen vorhergegangen, die sie zu dieser melancholischen Laune herabgestimmt hatten, wozu vielleicht noch eine schlechte Verdauung, oder eine andre physische Ursach beigetragen haben mochte.

Da ich also hier die Ursachen ihrer Traurigkeit wußte, und es mir sehr widersinnig schien, diese ohne Grund fahren zu lassen, und alles auf die Rech-[71]nung einer unerwiesenen Ahndung zu schreiben, so gerieth ich ganz natürlich auf den Gedanken, ob es nicht weit vernünftiger und wahrscheinlicher sey, daß die vermeynte Ahndung vielmehr nichts anders, als die Wirkung ihrer Traurigkeit gewesen sey? Je mehr ich diese Meynung untersuchte, und mit meinen hierüber gesammelten Erfahrungen verglich, je mehr gewann sie an Wahrscheinlichkeit.

Ich war oft ein Zeuge gewesen, wie sehr diese Frau in einem solchen Anfall der Melancholie alles verdächtig fand, und oft von den gleichgültigsten Dingen Unglück erwartete, war es nun nicht sehr natürlich, daß sie dieses von dem überdieß etwas unverhoft erhaltenen Brief auch glaubte, da sie aus eigner und fremder Erfahrung wußte, daß Briefe zuweilen unglückliche Nachrichten enthalten? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß dieß eben der Fall bey dem Auftritt mit ihrem Vetter war? Ihre Seele war damals in dieselbe Traurigkeit versenkt, die gewiß von nichts anderm, als von der Vorstellung des Abschiedes herrührte.

Nichts ist aber gewöhnlicher, als daß man sich bey solcher Gelegenheit allerley Einbildungen macht, daß man vielleicht die geliebte Person nicht wiedersehe, oder daß ihr oder uns ein Unglück zustoßen möchte u.s.w., welches bey einem düstern und ängstlichen Charakter in einem hohen Grade Statt finden muß, da man es sogar bey den heitersten Personen antrift.

[72]

Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Unglück begegnen würde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemüths gemäß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Ideen bemächtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage übereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natürliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so äußerst lebhaften Gemüthszustandes.

Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kümmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufällig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfälle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstände nur oft in die Lage gesetzt werden, zukünftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen.

Es ist damit eben, wie mit dem Argwöhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natürlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegründet, aber niemand hält ihn deshalb für einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al-[73]ler der Personen, bei denen sein Argwohn eingetroffen ist, wirklich gekannt habe.

Die beiden scheinbaren Ahndungsphänomene meiner Freundin waren also weiter nichts, als Wirkungen ihres melancholischen Temperaments gewesen. Ich wurde hiervon in der Folge noch deutlicher überzeugt, da mein fortgesetzter Umgang mit ihr mir Gelegenheit gab, noch verschiedene Erfahrungen zur Bestätigung meiner Meinung zu machen.

So dachte sie zum Beispiel einmal in einer langen Zeit, wo verschiedene Familienumstände und andre Dinge sie in einer beständigen Zerstreung und Heiterkeit erhielten, an keine Ahndung eines Unglücks, ohnerachtet ihr in der Zeit verschiedene verdrießliche Unfälle begegneten.

Auf der andern Seite sah ich sie hernach einmal wieder in jenem Zustand der Traurigkeit, wo sie den Ausgang einer ihrer Angelegenheiten im voraus mit Gewißheit für unglücklich erklärte, da nachher gerade das Gegentheil erfolgte.

Genug, es ist mir jetzt kein Zweifel mehr übrig, daß jene Erscheinungen nur bloß von einem überspannten, aus dem Temperament herrührenden Trübsinn verursacht wurden, und auch sehr wohl [74]daraus hergeleitet und erklärt werden können. Ich glaube hierbei die Vermuthung wagen zu dürfen, daß es wahrscheinlich um die meisten Ahndungsgeschichten dieselbe, oder eine andre eben so natürliche Beschaffenheit haben würde, wenn man sich nur die Mühe gäbe, sie gehörig zu untersuchen.

In dieser Rücksicht glaub' ich, daß wenn ich mir auch von meinem Aufsatz keinen andern Nutzen versprechen könnte, ich mir doch wenigstens schmeicheln darf, die Wahrheit dadurch aufs neue einleuchtend gemacht zu haben, daß in dergleichen Fällen Vorsicht und Sorgfalt bei ihrer Untersuchung nicht leicht zu weit getrieben werden kann, weil dabei so viel betrüglicher Schein vorhanden ist — Und diese Wahrheit allein verdiente es schon, die Feder angesetzt zu haben.

F. G.

Fußnoten:

1: *) Man wird mir verzeihn, daß ich nicht die nähern Umstände davon angeben kann, weil ich sonst den dabei interessirten Personen zu nahe treten müßte.

Erläuterungen:

a: Carmina (Oden), Buch 3, Ode 29, Zeile 29f. "Gott hat, was künftig soll geschehen, / Nach weisem Rath mit Finsterniß bedecket." Solms-Wildenfels 1756-1760, Bd. I, S. 229 (1756); auch Bd. III, S. 229 (1757).