ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Merkwürdiger Gang der Phantasie in einem Delirium.

Dunker

Aus einem Briefe.

Klitschdorf bei Bunzlau in Schlesien a den 20sten April 1784.

Im März des Jahrs 1779, da ich als Feldarzt beim Lazareth in Neisse diente, befiel mich, wie viele andere, ein Fieber, dessen Heftigkeit sich bald durch Verwirrung des Verstandes ankündigte.

Gegen Mittag verschrieb ich mir noch ein den Umständen angemessenes Brechmittel. Bald folg-[2]ten dem Rezept, und zwar schnell hintereinander, noch einige, deren auffallende Zusammensetzung den Feldapothecker veranlaßte, den Oberfeldmedicum Herrn Doktor Riemer davon zu benachrichtigen.

Dieser besuchte mich gegen sechs Uhr, besprach sich mit mir über die Krankheit, mit dem Beifügen: ich möchte nur meine medizinische Kenntnisse für jetzt ungebraucht lassen; man werde die sichersten und besten Mittel zu meiner Wiederherstellung anwenden.

Da ich fühlte, wie meine Krankheit von einem Augenblicke zum andern heftiger wurde, kostete es nicht viel Mühe, mich von der Unzulänglichkeit meiner Kräfte zu überzeugen.

Der Herr Doktor Knape (jetzt Professor der Anatomie in Berlin) übernahm meine Besorgung. Seiner Geschicklichkeit und unermüdeten Vorsorge habe ich, nächst Gott, mein Leben zu danken.

Nun erst wurde mir das genommene Brechmittel verdächtig, und gegen den Herrn Doktor Riemer äusserte ich, daß ich wohl selbst an der schnellen Zunahme der Krankheit und besonders an dem heftigen Toben in meinem Kopfe schuld sey.

Man suchte mir das zwar auf alle ersinnliche Art auszureden; aber ganz verlor sich mein Verdacht nicht. Bald gingen die fürchterlichsten Krankheiten, bald eine Menge Arzneimittel durch meinen Kopf und das Resultat hiervon war, daß ich mir, wegen des zur Unzeit genommenen Brech-[3]mittels, für die nächste Nacht ein heftiges Delirium prognostizirte.

Gegen eilf Uhr war der zu meiner Wartung bestellte Feldscheer abwesend, es näherte sich meinem Bette eine Frau, deren ruhige, schläfrige Miene mir gleich anzeigte, daß ich nicht der erste Kranke war, bei dem sie wachen sollte.

Kurz, die Frau mißfiel mir, daher befahl ich ihr auf das dringendste, ja sorgfältig auf mich Acht zu haben, weil ich sonst gewiß davon laufen würde.

Das Bewußtseyn verging mir gänzlich, bis ich endlich, wie es in dergleichen Krankheiten gewöhnlich ist, gegen Morgen etwas ruhiger wurde. Jetzt schuf meine Einbildungskraft, nach einer gewissen Ordnung, folgende Geschichte:

Die Frau schlief bald nach meiner Ermahnung ein; sogleich nahm ich den Zeitpunkt wahr, um zu entwischen; ich ging im Schlafrock in ein öffentliches Haus, wo ich eine zahlreiche Gesellschaft antraf, die ich zum Theil kannte.

Einige verwiesen mir meine Unanständigkeit, andere lachten; für die ersten hatte ich Entschuldigungen genug, die andern wieß ich durch Lachen und Scherz ab; ich war nicht lange da gewesen, als mein Vater (er war damals über hundert Meilen von mir entfernt) in Reisekleidern in die Stube trat.

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Er sagte mir einige Ursachen, die ihn bewogen hätten, mit meiner Mutter, meinen Geschwistern, einigen Personen aus meinem Vaterlande und einigen aus Berlin (diese letztern hatten mir vorher viele Freundschaft erwiesen) nach Neisse zu kommen. Nun wurde der rechtschafne Vater meine unanständige Kleidung gewahr, wendete sich, ohne ein Wort weiter zu reden, von mir und ging in seine Wohnung.

Dies machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich mich nach Hause begab, mit der festen Entschließung, nach meiner Wiederherstellung den Abschied zu nehmen, um dadurch der Schande zu entweichen.

Die arme Frau ließ ich nun, unter den heftigsten Verwünschungen, meinen Zorn empfinden. (Ich habe vielfältig bemerkt, daß Leute, die im gesunden Zustande frey von der Thorheit des Fluchens sind, einen Hang dazu bekommen, wenn ihr Verstand verrückt wird. Andre, denen diese besondre Art zu sprechen von Kindheit an zur Gewohnheit geworden war, haben in solchen Umständen mich und die verwunderten Umstehenden durch erbauliche Gebete gerührt.)

Mein Eifer würde der Frau das Leben gekostet haben, wenn man nicht die nöthigen Anstalten getroffen hätte. Ich wüthete; aber die Vorstellung von Schande erstickte, so daß ich's selbst gewahr wurde, alles Religionsgefühl.

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Schwer wurde es meinen Freunden, mich so weit zu besänftigen, daß ich, in Ermangelung einer andern, die Gegenwart der Frau, doch nur in einer gewissen Entfernung duldete.

Mein Vater, der nun einmal böse war, besuchte mich nicht, verkaufte mir aber durch einen dritten um einen billigen Preis seine Pferde.

Dieses war mir um desto empfindlicher, weil ich überzeugt war, daß ich, unter andern Umständen, gar nichts, oder doch weniger dafür hätte bezahlen dürfen.

Ich glaubte ― wieder besser, und meinen Geschäften vorzustehn, im Stande zu seyn, konnte aber, zu meinem Verdruß, den Abschied nicht erhalten, weil die Menge der Kranken sehr groß und an Aerzten ein Mangel war.

Man sendete mich zum Lazareth nach Brieg, b dahin ich auf einem Wagen allein abfuhr, indem ich die Funktion des Kutschers selbst übernahm.

Unterwegs fiel mir der Gedanke ein, die Gegend zu besehen. Ohne meine Pferde im mindesten zu schonen, fuhr ich Bergauf Bergnieder, bis ich endlich müde und matt auf einer grossen Eisstrecke, nahe an der Meerenge von Novazembla, mich befand.

In dieser kalten Gegend erwachte das Gewissen. Mit Verdruß übersah ich die grosse Strecke Landes bis Neisse hin. Eine Menge Städte und Dörfer lagen da ganz klein, doch deutlich, wie an [6]dem Abhange eines grossen Gebirges. Vor mir, wo es am dunkelsten war, bis Neisse wurde es immer heller, so daß es hier nur dämmerte, oder höchstens so helle war, wie an einem trüben Wintertage.

Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, wie ich, im Aerger über die Vernachlässigung meiner Pflichten, bei einem kümmerlichen, erstarrten Bäumchen schnell umkehrte und schneller als fliegend davon fuhr. Ohne etwas versäumt zu haben, kam ich in Neisse an. Warum nicht in Brieg? Hier schweigt die Geschichte.

Halb todt trat ich in meine Stube und kaum hatte ich mich niedergelegt, als ich schon fühlte, daß ich mich nicht recht besinnen konnte; ich zweifelte, ob ich in meiner ehemaligen Wohnung sei. Da man mich zu überzeugen suchte, half ich mir selbst, indem ich mich der Gesichter einiger Heiligen, die an der Wand hingen, wieder zu erinnern bemühet war.

Auf diese Art gelang es mir wirklich, daß ich wieder wuste, wo ich war. Jetzt machte ich mir die bittersten Vorwürfe, durch eine so unbesonnene Reise mir eine Krankheit zugezogen und mich dadurch aufs neue zum Dienst des Lazareths untüchtig gemacht zu haben.

Hier war es, wo ich von Verbindlichkeiten, Pflichten, Gewissen, Verantwortung u.d.gl. bis zur gänzlichen Ermattung, wie meine Freunde nach-[7]her versicherten, ziemlich zusammenhängend deklamirt habe.

Zwei Wagenpferde, die ich nun nicht brauchen konnte, ließ ich mit einigen Vortheil an den General von Rothkirch (den ich nur gesehn hatte) verkaufen; ein Reitpferd behielt ich, um nach meinem Aufkommen vom Reiten Nutzen zu haben.

Die in meiner Einbildung gegenwärtigen Freunde besuchten mich; da konnte es denn nicht fehlen, daß mein Komplimentiren meine Wärter nicht zum Lachen bewegt hätte.

Daß mein Vater gar nicht kam, that mir sehr weh, und vielleicht erinnert sich der Doktor Knape noch, wie oft ich ihm mit meinen Klagen hierüber beschwerlich gewesen bin.

Vierzehn Tage lag ich in dieser Raserey. Ein einzigesmal hatte ich wenige Augenblicke, in denen ich, ohne einen Zusatz von falschen Ideen, an Gott und meinen Zustand dachte.

Die Krankheit ließ nach, ich hatte mein völliges Bewußtseyn wieder, war schon von Zeit zu Zeit aufgestanden, als mich an einem Morgen mein Wirth besuchte.

Unser Gespräch hatte schon lange gedauert, da ich fragte: Haben Sie nicht gehört, wie sich mein Vater befindet? ― Der Mann erschrack heftig und schien schon auf Sicherheit bedacht zu seyn, als ich ihn lachend beim Ermel faßte: »bleiben Sie doch, warum befremdet Sie diese Frage?«

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O! gab er zur Antwort, Sie wissen nicht, was Sie reden. Ich versicherte ihn hoch und theuer, mein Vater werde den Nachmittag Kaffee bei mir trinken.

Während dieses Streits trat der Doktor Knape herein, erkundigte sich nach der Ursache desselben, nahm eine ernsthafte Miene an und sagte: Freund, hören Sie endlich einmal auf, so etwas vernunftwidriges zu verlangen.

Soll Ihr Vater sein Unglück vergrössern, indem er sich bei Ihnen eine Krankheit holt und dieselbe vielleicht auch seiner Familie zubringt? Dies hatte die gute Wirkung, daß ich ruhiger wurde. Nach und nach gewann die wahre Vorstellung wieder die Oberhand, in dem Grade, wie ich anfing zu merken, daß ein gewisser Ueberdruß in die Stelle des Mitleids trat, wenn ich jemanden mit meinen Fragen belästigte.

Mein Gedächtniß war, die lebhafte Erinnerung der erzählten Umstände abgerechnet, äusserst geschwächt, ich muste sogar, um einen zitternd geschriebenen Brief zu endigen, mich bei meinem Wirth nach der Jahrzahl erkundigen lassen. Leben und Tod waren mir gleichgültig, diesen hätte ich vielleicht vorgezogen.

Von Gott waren mir nur die allgemeinsten Begriffe übrig. Ein besseres Leben nach dem Tode hielt ich wohl für möglich; aber die Vorzüge des-[9]selben vor einer gänzlichen Vernichtung waren mir nicht einleuchtend.

Kurz, meine Sinneswerkzeuge fingen zwar wieder an, ihrer Bestimmung und dem Willen der Seele zu gehorchen; allein meine Schlüsse waren viel schwächer und langsamer, als die, welche während der Krankheit durch gesetzwiedrige Bewegung der Lebensgeister waren verursacht worden.

Ich kam mir vor, wie ein Mann, der unter der Menge seiner durch den Zufall untereinandergeworfenen Schriften an einem bestimmten Orte etwas zu finden glaubt und sich betrogen sieht.

Die Vernunft wählet und verbindet die Ideen, sie mögen ihr durch die Sinne, oder aus der Phantasie dargeboten werden. Das Bewußtseyn des verschiedenen Ursprungs, mit einem mehr oder weniger kräftigen Bestreben, selbst mangelhafte Ideen zu berichtigen, scheint der Ursprung oder der Anfang der Vernunft zu seyn.

Nicht leicht wird man einen verwirrten Menschen sehen, ohne diesen Keim der Vernunft, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, und wenn er zu Boden gedruckt wird, so liegt die Schuld im Körper.

Galen erzählt: er selbst habe einst im hitzigen Fieber allerlei aus seinem Bette und Kleidern hervorragende schwarze Splittern und Fasern zu sehen geglaubt, und da er sie wegzunehmen sei bemüht gewesen, hätten zwei gegenwärtige Freunde davon [10]geredet. Er habe ihr Gespräch verstanden und deswegen gesagt: »Kommt mir zu Hülfe, weil ihr so etwas gewahr werdet, damit meine Verwirrung nicht in Raserei übergehe.«

Ich kannte einen hypochondrischen Mann, der wichtigen Geschäften vorstand und in denselben ― noch brauchbar war. Er bildete sich ein, daß die Bänder und Muskeln, die seinen Kopf fest hielten, so sehr geschwächt wären, daß zum Hinunterfallen Unachtsamkeit und ein unsanfter Tritt hinreichende Ursachen seyn würden.

Vernünftigerweise und ungezwungen unterstützte er deswegen mit einer Hand den wackelnden Kopf am Kinn.

Zuweilen that er, vom Ungrunde dieser Furcht überzeugt, auf eine kurze Zeit die Hand weg, wenn er merkte, daß die Gesellschaft darauf aufmerksam war; bald aber, wenn er die ängstlichen Zweifel nicht mehr zu bestreiten vermochte, fühlte er schnell, ob noch nichts verschoben sei.

Ich hatte einst eine Nacht am Bette einer Kranken mir sehr werthen Person gesessen; da die Heftigkeit des Fiebers gegen Morgen nachließ und der Kranke ruhig schlief, begab ich mich nach Hause, legte mich ohne Zeitverlust nieder und schlief bald so fest, wie einer, dem ein grosser Theil Sorgen abgenommen ist.

Etwa nach ein paar Stunden erwachte ich, und erblickte, indem ich die Augen aufthat, das [11]Bette des schlafenden Kranken, es machte mit dem meinigen zu den Füssen einen rechten Winkel. Ich fragte mich, ob ich träumte, verwarf das aber sogleich, weil ich ohne alle Vorstellungen geschlafen hatte.

Ich sahe bei der Morgendämmerung alle Gegenstände in meinem Zimmer. Den Anzug des Kranken und das weisse Bette unterschied ich ganz genau, sogar die dunkele Farbe der Vorhänge schien mir einen durch das noch schwache Licht bestimmten Grad der Kenntlichkeit zu haben.

Geistererscheinungen könnten doch möglich seyn, gegen deine Ueberzeugungen ― ich will nicht leugnen, daß mich hier einige Furcht anwandelte. ― Aber möglich könnte es doch auch seyn, daß das Bild durch eine fehlerhafte Beschaffenheit der Augennerven hervorgebracht würde? ich hatte mich aufgerichtet, das Fenster und einige andere Gegenstände angesehen; ich hatte die Augen gerieben und wenn ich sie schloß, sahe ich nichts.

Vielleicht werden die Augennerven durch das Licht gerade in die Umstände gesetzt? ― die Furcht verlor sich, das Bild wurde blasser, durchsichtig, einige Dinge, die hinter ihm standen, schimmerten durch. Endlich verging es und zwar stückweise ― nachdem es einige Minuten ohngefähr gedauert hatte.

D. Dunker.

Erläuterungen:

a: Heute Kliczków bei Bolesławiec, Niederschlesien.

b: Heute Brzeg, Niederschlesien.