ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Geschichte einer merkwürdigen Krankheit, in Rücksicht auf den damaligen Seelenzustand des Kranken. a

Mauchart, Immanuel David

Aus einem Briefe.

Tübingen den 31sten May 1784.

Die folgende Geschichte einer, mir wenigstens, merkwürdig und für die Seelenlehre interessant scheinenden Krankheit, habe ich gröstentheils selbst mit beobachtet. Die Umstände sind alle genau so beschrieben, wie sie wirklich erfolgten, und buchstäblich wahr, so, daß ich im erfoderlichen Falle sie nicht nur mit Zeugnissen der übrigen dabei gegenwärtigen Personen belegen, sondern auch die Namen des Kranken und aller übrigen bei der Geschichte verwickelten Personen Ihnen vorlegen könnte.

Der Kranke war ein junger, feuriger, lebhafter Mensch von siebzehn Jahren; ein Mensch von der festesten Leibeskonstitution, die, so wie er an Alter wuchs, immer unantastbarer zu werden schien.

Von seiner ersten Jugend an genoß er einer beinahe ganz ununterbrochenen Gesundheit, die auch von keiner Krankheit leicht überwältigt werden zu können schien.

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Dabei hatte er einen immer freien, offenen Geist, ein zum Verwundern lebhaftes und hitziges Temperament, das wohl zu seiner nachherigen Krankheit, wenigstens zur Verstärkung derselbigen, viel beigetragen haben mag.

Es war gegen den Anfang des vorigen Sommers 1783, als er plötzlich über dem Mittagessen von einer Art von Brustkrampf überfallen wurde, wozu sich nachher ein Fieber schlug, das vier Wochen lang währte; und, da man nun einige Besserung zu verspüren glaubte, so brachen plötzlich in der Nacht die entsetzlichsten Konvulsionen aus, die vierundzwanzig Stunden lang ohne Aufhören mit einer beinahe unbegreiflichen Heftigkeit tobten.

Und hier fängt nun die Krankheit auch in Rücksicht auf den Seelenzustand des Kranken an merkwürdig zu werden.

Nachdem nemlich die Konvulsionen aufgehört hatten, fiel er in eine Hitze, in der er wieder mit entsetzlicher Heftigkeit phantasirte. Weil sich die Aerzte noch zu der Zeit, als er bloß ein Fieber ohne Konvulsionen hatte, verlauten ließen, es könnte, wenn das Fieber noch lange so hartnäckig anhalten würde, endlich eine Auszehrung daraus entstehen, und überdieß sein ganzes Nervensystem, ohnerachtet seiner Festigkeit, doch ausserordentlich reizbar war: so war der Gedanke des Todes ganz herrschend bei ihm geworden.

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Dieser und seine Geschäfte, ― er arbeitete auf einem Handlungscomtoir ― waren nun der Gegenstand seiner Phantasien.

Es war in der That kaum zu begreifen, mit welcher Ordnung dabei Gedanken auf Gedanken folgten, mit welcher Ordnung er sogar seine Worte zu setzen wußte.

Er betete, nahm von seinen Freunden Abschied, ohne daß man in dem allem irgend einen Mangel an Zusammenhang, oder irgend ein unschickliches Wort, irgend einen Absprung von einem Gedanken auf einen andern fremden, nicht hieher gehörigen, bemerken konnte. Diese Phantasie währte jedesmal so lang, bis er durch einen Anfall von Brustkrampf davon aufgeweckt wurde.

So stellte sich der Paroxismus immer des Tags drei- bis sechsmal ein, und was am meisten dabei zu verwundern war, so war der Kranke, nachdem der ganze Paroxismus, Konvulsionen, Phantasie, und Brustkrampf vorbei waren, so ausserordentlich heiter, und wirklich widernatürlich lustig, daß, wer ihn in diesem Zustande sah, ihn für den gesundesten Menschen müßte gehalten haben, wenn er von seiner Krankheit nichts gewußt hätte.

Die Aerzte aber sagten immer, daß, wenn er auch seine heitersten, vergnügtesten Stunden hätte, wenn er auch allem äusserlichen Ansehen nach so vernünftig als möglich redete, so sei es doch immer nicht natürlich, seine Seele befinde sich dessen un-[15]geachtet doch nicht im völligen Genuß des Bewußtseyns.

Kam denn der Paroxismus wieder, der jedesmal so heftig war, daß fünf starke Männer mit aller Anstrengung ihrer Kräfte ihn doch kaum zu halten vermochten, so zeigten sich auch da wieder sonderbare Phänomene.

Er wurde jedesmal über seine Wärter in einen solchen Zorn gebracht, daß er, so wie der Paroxismus aufhörte, öfters einem, den er erwischen konnte, mit der größten Heftigkeit eine Ohrfeige versetzte, und sie mit einem zornig ausgestossenen: Zurück! von sich entfernte.

Im Anfang der Krankheit, da die Paroxismen noch weit heftiger waren, und sich auch noch viel öfter einstellten, konnte er sogar auch in den Zwischenzeiten viele Dinge gar nicht vor sich sehen.

Alles, was nur einen Strich von schwarzer Farbe trug, mußte aus dem Zimmer entfernt, alle Spiegel mußten mit einem Tuche zugedeckt werden, keine Person, die er nicht schon vorher etlichemal hintereinander gesehen hatte, durfte sich ihm nähern; Leute, die er vor seiner Krankheit ganz genau gekannt hatte, z.E. seine Eltern und Geschwister kannte er anfangs auch in den ruhigen Zwischenzeiten nimmer, ja, was am meisten zu verwundern war, so konnte er unter allen übrigen Sachen nur Uhrenbänder und Uhrenketten gar nicht vor sich sehen.

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Kam ihm eines von diesen Dingen zu nahe, so stellte sich plötzlich der ganze Paroxismus ein, und zwar weit heftiger, als wenn er ungereitzt erschien.

Auch bei lebhaften Gemälden, sie mochten seyn von welcher Art sie wollten, bekam er den Paroxismus, wenn er sie scharf anblickte.

Selbst, da die Krankheit in etwas nachließ, mußte man doch immer noch grosse Präparationen machen, ehe er eine Person, die nicht sonst beständig um ihn war, vor sich ließ.

So mußte ich, den er doch vorher genau kannte, und mit dem er immer in enger Verbindung stand, als ich ihn in der Mitte der Krankheit einst besuchte, doch noch zwei volle Stunden warten, ehe er mich vor sich ließ, ohnerachtet man es ihm vier Stunden vorher gesagt hatte, daß ich kommen würde; und auch da überfiel ihn bei meinem Anblick ein konvulsivischer Schrecken, bei dem es aber doch sein Bewenden hatte.

Da sein Blut nach dem Zeugniß der Aerzte in der heftigsten widernatürlichsten Wallung war, so wollte man auf ihr Anrathen es versuchen, ob man ihm nicht durch Aderlassen einige Linderung verschaffen könnte; nun war aber die Frage, wie man es ihm beibringen sollte.

Man versuchte es in einer seiner heitersten Stunden, ihn dazu zu bereden, allein er bezeigte dawider einen so entsetzlichen Abscheu, alle seine Gesichtszüge, seine Minen wurden so wild, daß, wenn [17]man nicht plötzlich davon abgelassen hätte, er den heftigsten Anfall von seinem Paroxismus würde bekommen haben.

Als man ihn aber in einer andern Stunde endlich dazu überredete, und er die Kur mit sich vornehmen ließ, so behagte es ihm so vortreflich, daß er sich nun alle Stunden eine Ader wollte öfnen lassen.

Das Blut, das herausfloß, oder vielmehr mit Gewalt sich herausdrängte, war beinahe schwarz, schäumte ausserordentlich, und war überhaupt so beschaffen, daß man leicht begreifen konnte, wie es diese sonderbare Veränderung im ganzen Menschen habe hervorbringen, und alle diese schreckliche Phänomene verursachen können.

Wenn der Patient den Tag über mit diesen tobenden Anfällen geplagt gewesen war, dann hatte er zwar des Nachts Ruhe, allein nicht selten hatte er dann doch mit vielen Träumen zu schaffen, deren Gegenstände meistens schwarze und fürchterliche Bilder waren.

Ich fragte ihn einst, wie es ihm denn wäre, wenn er fühlte, daß der Paroxismus sich nähern wollte? worauf er mir antwortete, daß es ihm immer vom Magen an ganz heiß zu werden anfinge, worauf sich die Hitze endlich auch des Kopfes bemächtigte, und er so nach und nach ganz betäubt würde, so, daß ihm anfangs alles ganz dunkel vor den Augen würde, bis er das Bewußtseyn vollends [18]verlöre. Und dieß war auch, wie ich es selbst mit ansah, der Zeitpunkt, wo die Konvulsionen ausbrachen, und immer wenigstens acht Minuten, öfters aber auch eine halbe Stunde lang tobten.

So währte die Krankheit ungefähr acht bis zehn Wochen, ohne daß man einen merklichen Nachlaß in der Heftigkeit der Anfälle verspürte, bis endlich der Kranke nach einem der heftigsten Paroxismen selbst sagte, nun werde es aufhören, und er werde von nun an keinen Anfall mehr auszustehen haben.

Und so ging es auch wirklich. Von dieser Zeit an hörten die Konvulsionen auf, die Hitze des Bluts äusserte sich nicht mehr in so heftigen Ausbrüchen, und der Kranke hatte zur allgemeinen Verwunderung weder von seinen Kräften, noch von der Stärke seiner Leibeskonstitution, noch von der Lebhaftigkeit seines Temperaments im geringsten etwas verloren.

Man verordnete ihm nun eine Badekur, die ihn vollends ganz vor allen künftigen Anfällen sichern sollte. Allein nach Verlauf von drei Wochen, zu einer Zeit, wo man ihn am sichersten glaubte, stellten sich doch die Paroxismen, wiewohl mit weit geringerer Heftigkeit, wieder ein.

Anfänglich waren es bloße Ohnmachten, die auch nicht lange dauerten, als er aber einst durch [19]einen Zufall plötzlich erschreckt wurde, zeigten sich auch wieder Konvulsionen, doch nur in sehr geringem Grade.

So währte es wieder ungefähr vierzehn Tage, bis er endlich durch eine starke Disenterie völlig von seinem Uebel befreit wurde. ― Nun war nach der Versicherung der Aerzte nicht so leicht wieder ein Rückfall zu besorgen. ― Und von dieser Zeit an genießt nun der ehemalige Patient wieder der blühendsten Gesundheit, seine Leibes- und Seelenkräfte sind wieder in der vollkommensten Ordnung, nur scheint die Lebhaftigkeit seines Temperaments in etwas gewachsen, und überhaupt heftiger geworden zu seyn.

Was aber bei seinem gegenwärtigen Zustand am meisten zu verwundern ist, ist das, daß er von seiner ganzen Krankheit, selbst von den Vorfällen in denen Stunden, wo er von den Anfällen frei war, keine Erinnerung mehr hat.

Er weiß, nach seinem eigenen Geständnisse, sogar das nicht mehr, daß ihn Personen, an die er am meisten attachirt war, und an deren Gegenwart er in seiner Krankheit so viel Vergnügen hatte, besuchten. ―

Was die Kur der Krankheit betrift, so arbeiteten die Aerzte immer auch darauf, dem Kranken seine ohnehin heitern Zwischenstunden soviel als möglich zu erhalten, ihn vor allen Vorfällen, die ihn [20]hätten niederschlagen können, zu verwahren, und ihm keine Gelegenheit zu geben, wodurch seine Seele in einen düstern, melancholischen Zustand hätte versetzt werden können.

Denn dieß, sagten sie, hätte immer der Krankheit mehr Stoff gegeben, und sie also niemals gehoben. Und dieß ist auch noch gegenwärtig ein Hauptpunkt, den er in Ansehung seiner Diät zu beobachten hat, sich vor Verdruß, Betrübniß, Schrecken u.d.gl. so viel als möglich zu hüten.

Dieß ist die Geschichte einer nach dem Zeugniß nicht nur der erfahrensten Aerzte, sondern auch aller übrigen, die dabei Zuschauer waren, höchst merkwürdigen und ausserordentlichen Krankheit. Nun sei es mir erlaubt, auch noch einige Gedanken über eben dieselbe hinzuzufügen.

Daß Veränderungen im Blut und im Nervensystem auch Veränderungen in der Seele hervorbringen, ist ein in der Seelenlehre allgemein angenommener und durch die Erfahrung bestätigter Satz. Wenn wir nun aber die speziellen Vorfälle dieser beschriebenen Krankheit betrachten, so finden wir dabei auch einige für die Experimentalseelenlehre nicht ganz unwichtige Phänomene.

Schon das ist eine nicht unbedeutende Frage: In was für einem Zustand befindet sich in diesem Fall die Seele des Kranken? und es gehört, glaube ich, nicht wenig dazu, sie ganz und auf eine befriedigende Weise zu beantworten.

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Ich nehme mir auch nicht heraus, dieses zu thun, denn, wenn wir auch das abrechnen, daß die Seele während einer solchen Krankheit unendlich viele Veränderungen in der Aeusserung ihrer Kräfte auszustehen hat, wenn wir sie auch in dem einzigen Moment betrachten, wo sie ganz der Gewalt des Körpers unterliegen muß, so bleibt doch immer noch die Frage übrig: wie geht es zu, daß der Körper eine solche Gewalt über die Seele, dieses einfache Wesen erhält? und wie läßt sichs erklären, daß die Seele in solchen Augenblicken gar nicht thätig zu seyn scheint? eine Frage, deren Beantwortung auf dem uns immer noch unerklärlichen Band der Seele und des Leibes beruht.

Eben so wichtig, aber auch eben so räthselhaft, eben so schwer zu beantworten ist die andere Frage: wie ist es zu begreifen, daß die Seele in eben dem Augenblick, wo sie ganz der Gewalt des Körpers unterliegt, wo sie all ihr Bewußtseyn verloren zu haben scheint, doch noch mitten in der größten Unordnung ihrer Kräfte Ideen so geschickt miteinander verbindet, Gedanken in einer so natürlichen Ordnung auf Gedanken folgen läßt, daß sie sich nie untereinander verwirren, wie es der Fall bei der obigen Krankheit war? eine Frage, deren Beantwortung wieder in unauflösliches Dunkel gehüllt ist.

Nimmt man ferner den in den Zwischenstunden so heitern Gemüthszustand des Patienten, und bedenkt dabei das, daß er aller seiner so vernünftig [22]scheinenden Reden und Handlungen ungeachtet, sich doch nicht in der vollen Ausübung seines Bewußtseyns befand, welches hauptsächlich durch den nachherigen gänzlichen Mangel an Rückerinnerung an die Vorfälle der Krankheit bestätigt wird, so stößt man da wieder auf undurchdringliche Geheimnisse.

Daß dem Kranken Spiegel und lebhafte Gemälde zuwider waren, läßt sich meines Erachtens so erklären: Seine Nerven waren durch die Krankheit selbst schon auf einen sehr hohen Grad gespannt, und also auch äusserst reitzbar, mithin mußten Spiegel und dergleichen Gegenstände einen sehr lebhaften Eindruck auf sie machen, und sie vollends bis auf den höchstmöglichen Grad spannen.

Schwarze Farbe konnte ihrer Natur nach gar keinen Eindruck auf die Nerven des Patienten machen, dieß mußte ihm aber eben so widrig seyn als jenes, weil ein gänzlicher Mangel an Eindruck die so überspannten Nerven eben so sehr beleidigen mußte.

Daß er endlich Uhrenbänder und Uhrenketten gar nicht vor sich sehen konnte, dieß beruht auf einem Nebenumstand. Er hatte sich nemlich vor seiner Krankheit sehr viel mit dergleichen Tändeleien abgegeben, mithin konnte die Seele die Eindrücke davon leicht behalten haben. Wunderbar ists aber immer, daß nun der Eindruck von diesen Dingen [23]gerade das Gegentheil bei dem Kranken bewirkte, und daß sie ihm, da er vorher eine Freude daran hatte, nun eben so sehr zuwider waren.

I. D. Mauchart,

der Weltweißheit Magister im theologischen

Stift.

Erläuterungen:

a: Zur Vorlage in der Schwäbischen Chronik (ab dem 3. März 1788 in drei Teilen) vgl. Sindlinger 2010, S. 333f., 712f.