ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Beitrag zur Schilderung jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

*** Etwa sieben Jahr alt, gehört zu den vielversprechenden Kindern. Freilich ist auch er noch in dem Alter, worinn sich von seinen itzigen Anlagen und Aeußrungen, auf etwas daraus folgendes, nur mit einem geringen Grade der Wahrscheinlichkeit schliessen läßt; allein das, was er jetzt ist, mit seiner häuslichen Erziehung zusammengenommen, lassen viel hoffen. Er ist ernsthaft, gesetzt, und verräth in seinen Fragen und Antworten oft eine Beurtheilungskraft, die man in dem Alter für sehr etwas seltnes ansehen muß. Seine Ernsthaftigkeit ist Natur, und fällt also, wenn man ihn einmal kennt, nicht mehr auf; überdieß ist sie mit einer sanften, gutherzigen Mine verbunden, daß er gleich einnimmt, und er ist einer von den wenigen, die sich gleich bleiben, die sich Liebe zu gewinnen und zu erhalten wissen. Sein Fleiß ist seinen Kräften angemessen; und da er immer aufmerksam auf alles ist: so begreift er nicht allein eine Sache leicht; sondern findet auch oft noch hie und da eine Frage nöthig, die für ihn die Sache deut-[106]licher und eindrücklicher macht. Unrichtige Antworten auf die ihm vorgelegte Fragen giebt er sehr wenig; lieber sagt er grade heraus, daß er es nicht wisse; und ich denke, daß auch diese anscheinende Kleinigkeit von einem Lehrer nicht ohne Wohlgefallen bemerkt werden müsse, da sie wirklich einen festen, zuverläßigen Charakter verspricht. Er hat die Liebe aller seiner Mitschüler ohne Ausnahme, und kann zuweilen vieles - dadurch ausrichten. Er läßt sich aber in keinem Stücke von ihnen übertreffen. Er hat seine eigne Art zu handeln, die zuweilen ins drolligte fällt, und davon mag die folgende ein Beispiel seyn. Da er noch nicht Fertigkeit genug hatte, um eine kleine Fabel oder Erzählung, die ich zum Auswendiglernen diktirte, mitzuschreiben: so bat er mich um eine Abschrift. Ich versprach sie ihm den folgenden Tag mitzubringen. An Zutrauen und Liebe zu mir fehlte es ihm sicher nicht; aber er mußte wohl in einiger Verlegenheit seyn, wie er mich daran erinnern wollte. Er kam also zu mir, nannte meinen Namen, sah ernsthaft vor sich, und sagte weiter nichts, als: »Sie haben es wohl vergessen;« und da dieß wirklich geschehen war: so kam er zum zweitenmal mit eben der Frage zu mir; und dankte nun sehr herzlich, da ich ihm die Abschrift gab.

Einmal hatte ihm einer seiner Mitschüler beim Herausgehen aus der Schule einen Schlag gegeben; sein Bruder sagte es mir, und da ich den [107]Nachmittag darauf von ihm selbst wissen wollte, ob es wahr wäre, so antwortete er: Nein! und wiederholte es einigemal, bis ich ihn erinnerte, daß er unrecht thun würde, wenn er mir die Wahrheit verschwiege. Nun gestand er es mit der Bitte, daß ich den kleinen Thäter nicht strafen möchte. Welche Gutmüthigkeit in einem so zarten Alter! Und ich kann es hier nicht verschweigen, daß er es ist, den ich bei der ersten Schildrung im vorigen Stücke im Sinne hatte, daß er eben so wenig Beleidigungen vergelten würde, auch wenn er es könnte und wenn es ihm sogar erlaubt wäre.

Was aus ihm werden kann? ― Ein früh zur Ewigkeit gereifter Engel ist er geworden! und gleichwohl glaube ich, daß das Wenige, was ich von ihm gesagt habe, hier nicht ganz am unrechten Orte stehn soll. Vielleicht daß die Kräfte seiner Seele sich zu früh entwickelten! Vielleicht daß dieß einen ungemein zarten Nervenbau und eben dadurch einen schwächlichen Körper verrieth! und vielleicht daß dieß Anzeigen eines frühen Todes seyn konnten! Vor seiner Krankheit schon dachte er an seinen Tod. Einmal bat er seine Mutter, da sie mit seinen übrigen Geschwistern spatzieren ging und auch ihn mitnehmen wollte, daß er bei dem Mädchen zu Hause bleiben dürfe. Er zeichnete unterdessen einen Leichenwagen, so gut ers vermochte, zeigte den hernach seiner Mutter, und als diese ihn fragte, warum er grade so etwas gezeichnet habe, [108]gab er zur Antwort: man müsse ja auch an sein Ende denken.

Ich bin im geringsten nicht dafür, zufällige, unbedeutende Kleinigkeiten, die im menschlichen Leben sehr häufig vorkommen können, für erheblich und bedeutend zu halten; und ich habe dieß nur erzählt, wie man überhaupt etwas nach dem Tode einer Person erzählt, was man sich von ihr erinnert. Aber sollte nicht schon der Keim einer Krankheit im Körper gelegen, nicht vielleicht schon ein Wurm an dieser Knospe genagt, und so vielleicht ein dunkles Gefühl von einem nahen Tode veranlaßt haben?

In seiner Krankheit selbst behielt er eben das Gesetzte für sein Alter; er tröstete seine Aeltern, sagte, daß es doch besser wäre, wenn er, als wenn sein Vater stürbe, weil dieser noch für die Seinigen sorgen könnte; er redete oft vom Tode, ließ sich Lieder solchen Inhalts vorlesen und zeigte auch so noch durch sein ganzes Verhalten eine fast männliche Seele. Einmal frägt ihn seine Mutter, ob er sich nicht vor dem Tode fürchte ― Warum sollt ich das thun? antwortete er; es ist damit wie mit dem Gewitter: viele Menschen fürchten sich auch davor, und wenn es vorüber ist, ist es doch so nützlich gewesen. ― Ein andermal frägt er seine für ihn schon besorgte Mutter: ob er wohl eine Sünde begangen habe? und erzählt dabei: wie er sich erinnere, daß er in der Schule zwischen zwei seiner [109]Mitschüler gesessen, die unruhig gewesen und besonders worüber gelacht hätten. Zuletzt sei es ihm auch lächerlich geworden, und da hätte ich ihn mit den beiden übrigen erst gewarnt und dann aufgeschrieben. Nach geendigter Schulstunde sei er zu mir gegangen, und habe mich gebeten, ihn wieder auszustreichen; worauf ich zu ihm gesagt hätte: er solle nur ganz ruhig seyn, ich hätte ihn bereits ausgestrichen! O wahrlich, es muß sich süß in die Zukunft hinüberschlummern lassen, wenn man sich keiner andern Sünde, als einer ähnlichen bewußt ist! Aber auch dieser Zug von ihm, seine Geduld in seiner Krankheit; seine Bereitwilligkeit, zu sterben ― die Begriffe davon mögen bei ihm gewesen seyn, welche sie wollen; ― und daß er seine Aeltern zu trösten wußte; ― sollte das nicht wieder dem Psychologen etwas seyn, wobei er zu verweilen, zu denken und dann zu folgern hat?

Und nun zuletzt, warum sollt' ich diesen meinen gewesenen Liebling nicht öffentlich nennen? Er war der zweite Sohn des würdigen Herrn Professor Heindorf am vereinigten berlinischen und köllnischen Gymnasium.

Seidel.