ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VI.

Bemerkungen über das vorhergehende Bekenntniß vom Herrn Oberkonsistorialrath Silberschlag*). 1

Silberschlag, Johann Esaias

(Aus einem damaligen Gutachten desselben über diesen Vorfall.) a

Ew. Hochedelgebohren haben die Geneigtheit gehabt und mir Gelegenheit gegeben, unter dem Bei-[51]stande Gottes an der Zurechtbringung und Errettung der Seele des Delinquenten Brünings zu arbeiten.

Da ich nun bei meinem ersten Besuche deutliche Merkmale wahrnahm, daß meine geringen Bemühungen nicht ganz ohne Segen seyn dürften; so mache mich mit Freuden anheischig, darin fortzufahren.

Eben dieser Besuch und die von Ew. Hochedelgebohrnen gründlich geführten Acten setzen mich in den Stand, die mir vorgelegten drey wichtigen Fragen, so weit es meine schwachen Einsichten zulassen werden, zu beantworten.

Die erste Frage: wie ich den Inquisiten bei dem ersten Besuche in Absicht seiner Art, seine Ideen auszudrücken und andern zu erkennen zu ge-[52]ben, gefunden? nehmlich: ob solche deutlich oder undeutlich oder umschweifend sei?

Grade dieses war einer von denjenigen Punkten, worauf ich bei meinem Besuche mein Augenmerk zu richten mir vorgenommen hatte.

Daß der Inquisit Verstand und Vernunft, ja sogar eine messende Vernunft besitze, beweiset nicht nur der Inhalt der Acten, sondern auch jede Uhr, die er verfertigt hat.

Es ist die Frage: ob er seine Gedanken durch Kennzeichen auszudrücken fähig, die uns veranlassen können, eben das zu denken, was er gedacht wissen will, oder welches einerlei: ob seine Gebehrden die Stelle der Sprache vertreten können?

Ich kann diese Frage nicht eher beantworten, bevor ich nicht die Denkungsart dieses tauben und stummen Menschen untersuchet habe.

Er kann nicht so denken wie wir, die wir durch Zusammensetzung einzelner mit Worten verknüpfter Begriffe das Ganze einer Idee in unsrer Seele bilden: sondern jeder Brüningischer Gedanke ist eine totale Idee, ein Bild, in welchem sich alles, was zu demselben gehört, auf einmal in seinem Zusammenhange vorstellet.

Seine Gedanken sind viel grösser vom Umfange, viel lebhafter, viel schneller, nicht so zerstückt und unterbrochen als die unsrigen.

Daher ist er den Augenblick mit der Antwort fertig, sobald er die Gebehrden des Fragenden ver-[53]standen; daher müssen Fragende sich hüten, ihn anders als durch ganze Ideen zu fragen und eben daher höret er nicht eher auf, zu demonstriren, als bis er die ganze Idee durch seine Gebehrden sichtbar gemachet hat.

Ja eben dieses ist die Ursache, warum er so gern seine Gedanken mahlet, und wenn er sie mahlet, so bemerket er die geringsten Nebenumstände, weil sie per legem associationis idearum mit seiner Hauptidee verknüpfet sind.

Ob nun gleich seine Gedanken von einem weitläuftigeren Umfange, auch größerer Stärke sind, als die unsrigen, so haben sie doch den unvermeidlichen Fehler an sich, daß es einer solchen Seele schwerer wird, zu reflectiren und präscindiren, wie die Philosophen reden, das ist, er kann wenig abstractas ideas in dem Felde seiner Vorstellungen haben; er ist bei jeder Subsumtion in Gefahr, zu irren; er übersiehet nicht genugsam die Folgen seiner Handlungen: das Gebiet seiner Wissenschaft erstreckt sich nicht viel weiter, als die Gränzen seiner Empfindungen.

Dieses alles bestätiget folgender Versuch:

Als ich bemerkte, daß der Delinquent mehr von der Religion wußte, als ein Taub- und Stummgebohrner wissen kann, so war ich begierig zu untersuchen, wann er und wie er in dieses Unglück gerathen.

[54]

Ich fragte ihn durch Gebehrden, welche keiner Zweideutigkeit unterworfen waren; augenblicklich war er mit der Antwort fertig.

Hier ist sie: Er zeigte erst auf sich, darauf erniedrigte er sich zum Kinde von ohngefähr sechs bis sieben Jahren, mit Herablassung der Hand.

Auf den Fingern zählte er mir neun Jahre ab. Dieses wäre Antwort gnug für mich gewesen.

Ich habe aber behauptet, seine Seele könne keine andere als totale Ideen haben, das ist: er könnte nicht eher glauben, mir geantwortet zu haben, als bis er alle mit diesem Unglück verknüpfte Umstände mir erzählt oder vielmehr nachgewiesen hätte.

Hierauf bezeichnete er einen Ort, wo dieses bezeichnete Kind gestanden, ging zurück, stellte sich in Positur eines, der eine Flinte anleget, auf das Kind zielet, losschießet (indem er mit dem Munde einen Schlag erregte) und davon läuft.

Er ging wieder an den Ort, wo er das Kind hingestellet hatte, zeigete, wie das Kind sich herumgewälzt und kläglich gethan hätte, wieß auf das rechte Ohr, that, als ob er aus dem Munde etwas kleines herausrisse und in die Hand nähme: er machte in der rechten Hand mit dem Finger der linken einen kleinen Zirkel, stellete sich, als ob er dieses Schrotkorn auf den Tisch würfe, wies nochmals auf seine Ohren, und machte mit beiden Hän-[55]den eine Bewegung, die ein jeder Mensch machet, wenn er einen Verlust anzeiget.

Ich bin sicher, daß kein Vernünftiger diese Gebehrden für zweideutig, undeutlich oder ausschweifend ausgeben wird.

Vollständig war wohl seine Antwort, aber nicht ausschweifend. Es ist die Frage: ob diese Aussage wahr gewesen? Gesetzt, er habe die Anwesenden hintergehen wollen, so bleibet dennoch diese Probe ein Beweis, daß der Inquisit seine Gedanken vollständig auszudrücken im Stande sey, sogar wenn er lügen wolle.

Aber nachdem ich hierauf in Gegenwart des Herrn Hofraths und Criminalraths W** b dieses Ohr untersuchte, so fand sich nahe am Gehörgange eine Narbe.

Es kann seyn, daß das Schrotkorn hier nur angeschlagen und seinen Weg bis in das Gehörgewölbe fortgesetzet hat: es kann seyn, daß einige Körner durchgefahren und die obern Theile der Luftröhre verletzet und wohl gar die Nerven des gegenüber liegenden Ohrs zerrissen haben, daraus zugleich die Ursache seines Unvermögens, einen lauten Schall hervorzubringen, erhellet.

Es kann endlich seyn, daß alle diese Wunden ohne innere und äußere Narben wieder zugeheilet worden, weil der Verletzte noch ein Kind war, und daß bloß die Narbe in dem knorplichten Gehörgange übrig geblieben.

[56]

Das gebe ich zu, daß keine Kugel diesen Schaden verursacht habe, sonst würde das Wundmahl größer gerathen seyn. Daß aber Inquisit in der Kindheit habe hören können, bleibet gleichwol richtig, wenn er auch gelogen.

Wie könnte er sonst etwas von der Dreieinigkeit und von den Ständen Christi wissen? Er buchstabirt auch, wenn er eine gedruckte Schrift vor sich liegen siehet, mit den Fingern, wie ein Kind.

Es kann seyn, daß er eben damals, als er den Schuß empfangen, im Buchstabiren begriffen gewesen.

Hieraus wird die Anwendung auf die Ausmahlung seiner Mordthat leicht gemachet werden können.

Sind seine Mahlereyen undeutlich und zweideutig, so zeige man an, was sie sonst bedeuten können, und wie es möglich, daß sie mit den übrigen Nachrichten in einem so vollkommenen Zusammenhange stehen.

Ort, Zeit, das Vorhergehende, das Nachfolgende, alles bestätiget sein Bekenntniß.

Ueberdem ist zu bemerken, daß Lügen niemals im Zusammenhange mit der würklichen Welt stehen: eine Seele, die allemal totale Ideen denkt, mit ihren Nebenumständen, ist nicht zum Lügen sonderlich fähig; sie verfällt gar bald wieder in das Wahre.

Ich meine: es wird die Erschaffung einer totalen Lügenidee ihr schwerer, als einem andern Menschen, der unterbrochen durch Worte denkt.

[57]

Daher kommt es, daß die Lügen am leichtesten durch den Mangel des Zusammenhangs sowohl der einzelnen Ideen untereinander, als auch des vorhergehenden und nachfolgenden Wörtlichen entdecket werden können.

Eine so große Seele hat Inquisit nicht, daß er unentdeckt lügen könne. Ein Vorrecht verschlagener und witziger Köpfe, welche die Welt aus Erfahrung und durch Gelehrsamkeit kennen gelernet, und doch werden sie in ihrem Nebel erhaschet.

Wenn die Bildersprache nicht deutlich und vollständig wäre, was bedeuten denn die Warnungstafeln, welche auf obrigkeitlichen Befehl an Orten aufgehangen werden, welche nicht ungestraft beschädiget werden sollen?

Folglich kann man, meiner Meinung nach, das Gemälde des Brünings, im Ganzen betrachtet, als ein vollständiges Bekenntniß seiner Mordthat ansehen. Denn ich kann nicht wissen, ob ein Bekenntniß durch Worte nothwendig erforderlich sey.

Es folget die zweite Frage: Ob seine Art und Weise, sich zu erklären, mit derjenigen übereinkomme, die man bei andern Taub- und Stummgebohrnen wahrzunehmen pfleget?

In meiner Jugend habe ich Gelegenheit gehabt, einige Jahre eine taub- und stummgebohrne Tagelöhnerin in dem Hause meiner Eltern zu sehen und mit ihr umzugehen; man machte sich endlich ihre Gebehrden bekannt, mit welchen sie Männer [58]und Weiber, Alte und Junge, Vornehme und Geringe, die vergangene und künftige Zeit, alle Arten der Arbeit u.s.w. zu erkennen gab: da konnte man sie nicht nur bedeuten und in Ansehung des Lohns mit ihr handeln, sondern die Zeit wurde in ihrer Gesellschaft niemanden langweilig; sie berichtete Neuigkeiten; sie gab guten Rath und warnete vor Schaden; sie beklagte erlittenes Unrecht, und wenn sie nebst andern zugleich arbeitete, so verrieth sie ihre Mitarbeiter, wenn sie faul oder untreu gewesen waren.

Und weil man keine strengere Aufseherin sich wünschen konnte als diese war, so mußte man es als ein Glück ansehen, wenn man ihrer habhaft werden konnte.

Ueberdem war sie zornig, falsch und habsüchtig. Sie wieß und seufzete oft zum Himmel hinauf mit lauter Stimme; sie drohete auch bei dem Himmel und zuweilen faltete sie die Hände zum Gebet. Aber dieses war auch ihre ganze Theologie, so wie Mja ihre immerwährende Sprache ausmachte.

Ihre symbolische Sprache aber beruhete auf eben dem Grundsatze, der den Inquisiten Inquisit in Stand setzet, seine Gedanken kennbar zu machen, nehmlich: verwandele die Bilder deiner Phantasie in Gebehrden.

Ich habe oben bemerket, daß die Gedanken dieser Leute sehr lebhaft seyn müßten, weil sie aus lauter Gemälden der Phantasie bestehen.

[59]

Dieses taube und stumme Weibsbild begleitete eben sowohl ihre Gebehrden mit einem heftigen Affekte, wie Brüning.

Das Angenehme konnte sie nicht ohne Lachen, und das Unangenehme nicht ohne Verdruß erzählen, sogar, daß man manchmal sich mit der Flucht zu retten Ursach hatte, um nicht das selbst auszustehen, was sie andern drohte, wenn man bei ihren Erzählungen sich kaltsinnig anstellte.

Die zweite taube Person, mit welcher ich Umgang gehabt, war eine Tagelöhnerin in Wolmirsleben, Nahmens Köhlerin: diese konnte sprechen und lesen, auch aus der Bewegung des Mundes die Worte verstehen, wenn man gleich keinen Schall mit ihrer Bildung verknüpfte.

Alle Buchstaben, die einerlei Bewegung der Sprachgliedmaßen erfordern, z.E. k und z, ch und k, sp und p verwechselte sie beständig bei der Aussprache.

Die Ursache von dem allen war keine andere, als daß sie erst im neunten Jahre, durch einige heftige Ohrfeigen des damaligen Schulmeisters, ihr Gehör verlohren.

Lesen konnte sie damals, las auch noch im funfzigsten Jahre, aber sie verstand kein Wort von dem, was sie las, ausgenommen solche Wörter, deren Bedeutung ihr durch den Augenschein gezeiget werden konnte: ganze Redensarten aber wußte sie nie zusammen zu reimen.

[60]

Als ich einige Monathe hindurch Prediger in Wolmirsleben gewesen war, brachte man diese Person nebst einem Stricke zu mir, mit welchem sie sich hatte erhenken wollen.

Sie selbst gab zur Ursache an: daß sie gemeint, der neue Prediger solle sie mit andern Christen zum Abendmahle gehen lassen; weil sie sich aber ausgeschlossen sehe, so wolle sie auch nicht länger leben.

Dieses bewog mich, sie mit unglaublicher Mühe zum heiligen Abendmahle zuzubereiten.

Von Christo wußte sie vorher sehr wenig und vom heiligen Geiste *) 2 gar nichts, und ich hatte viele Mühe, sie zu überführen, daß Diebstahl, Lügen und Zorn, nebst der daraus entspringenden Rachsucht, welche der Zunder ihrer Leidenschaften waren, Sünde wären.

Tages nachher, als sie zum Abendmahle gewesen, und ich sie in meinem Garten arbeiten ließ, um sie eine zeitlang in meiner Aufsicht zu erhalten, erzählte sie den übrigen Mitarbeitern, was sie für Freude des vorigen Tages genossen; in der Nacht sey sie im Himmel gewesen, wo alles so herrlich ihr geschienen, daß sie nichts mehr wünsche, als beständig an dem Orte der Freuden zu wohnen.

Sie fuhr fort, sich vernehmen zu lassen: da sie nun wisse, wie sie seelig werden könne, und da sie durch Christum Recht an dem Himmel habe; so [61]begehre sie nicht mehr, in einer sündlichen und mühseligen Welt zu leben: sie werde nach verrichteter Arbeit ein Gebet thun und darauf sich im Garten an dem mitgebrachten Stricke erhenken.

Man brachte sie unverzüglich zu mir, und ich hatte neue Mühe, sie zu überzeugen, daß der Selbstmord der Weg zum Himmel nicht sey.

Nachmals hat sie ein christliches, arbeitsames und stilles Leben fortgesetzet, und es kann seyn, daß sie noch lebt.

Diese Person sah sich nach jeden Knalle um; sie konnte auch wissen, wenn die Orgel in der Kirche gerühret wurde.

Auf Befragen, wie solches zugehe? versetzte sie: ihre Füße benachrichtigten sie davon (durch die Erschütterung). Ja, als sie einsmal sich Glas in die Fußsohle getreten hatte, war sie mir anmuthend, zuzuhören, wie der Fuß brumme.

Ein Beweis, daß es möglich sey, daß Taube zuweilen scheinen können, etwas zu hören: aber auch ein Beweis, wie schwer es hergehe, diese Leute von der Sittlichkeit ihrer Handlungen zu unterrichten.

Aus dem allen erhellet, daß man den Inquisiten in die Mitte dieser beiden Personen zu stellen habe. Es ist nicht möglich, daß er taub und stumm gebohren seyn könne; aber er muß sein Gehör zugleich mit der Sprache und zwar sehr frühzeitig, noch eher als er lesen gelernet hatte, verlohren haben.

[62]

Nun habe ich mir zugleich den Weg zur Beantwortung der dritten Frage gebahnet: Wie Brüning in seiner moralischen Erkenntniß, insonderheit in der Erkenntniß biblischer Geschichte befunden worden?

Hierin einiges Licht zu bekommen, nahm ich Gelegenheit, durch Gebehrden ihn zu fragen: ob er etwas von Gott wisse? er beantwortete diese Frage durch Gegengebehrden, die mich nicht zweifeln ließen, daß er nicht nur Gott, sondern auch eine Dreifaltigkeit glaube.

Ich zeigte ihm aus Hübners biblische Historie die Person des Heilandes: er berichtete durch Gebehrden, daß er wisse: diese Person sei gebohren, getaufet, am Kreutze gestorben, begraben und gen Himmel gefahren.

Es ist schlechterdings unmöglich, einen Taubgebohrnen diese Begriffe beizubringen; er wird sie nicht gehörig zusammen reimen können, und nicht wissen, was man damit sagen wolle. Brüning aber stellte sich, als betete er diese Person an.

Hierauf zeigte ich ihm den Brudermord Kains: hier stellete er sich ganz ungeberdig und bezeugte seinen höchsten Abscheu vor dieser That.

Also weiß Brüning, daß Todtschlag Sünde sei.

Gleich unmittelbar hierauf bediente ich mich seiner eignen Gebehrden und bezeugte eben denselben Abscheu vor seiner Mordthat.

[63]

Was geschah? der Inquisit schlug sein Gemälde auf und zeigte auf den Messerhändler.

Hieß das nicht so viel: meine Handlung ist durch die That des Entleibten entschuldiget? hätte jener mich nicht bestohlen, so hätte ich ihn nicht entleibet?

Gesetzt, es sei nicht wahr, daß er von jenem bestohlen worden, der Inquisit habe sich solches eingebildet oder fälschlich vorgegeben, so beweiset solches gleichwol, daß er eine Einsicht in die Unrechtmäßigkeit, sowohl seiner als des Entleibten Handlung habe, indem er eine Uebertretung durch die andre zu entschuldigen gedenket.

Ob aber Brüning gewußt, daß vorsetzlicher Todtschlag mit nichts, wenigstens mit keiner gefahrlosen Beleidigung des andern Theils verantwortet werden könne? dieß ist eine Frage von andrer Art.

Wie hat Brüning von dem ausdrücklichen Verbote Gottes, als einem Positivgesetze, Nachricht haben können? Noch vielweniger hat er die Gesetze der Obrigkeit lesen und sich davon unterrichten können.

Wenn Brüning Soldaten und andere Leute mit Gewehr einhertreten gesehen, was hat er anders daraus schließen können, als jedermann hat Erlaubniß, sich seiner Haut zu wehren und seinen Gegenpart mit dem Tode zu bestrafen.

Dieses ist, meiner Meinung nach, der einzige und wahre Stoff zu seiner Vertheidigung.

[64]

Bei Inquisiten sind alle Regeln seiner Handlungen nichts anders, als bloße Muthmaßungen und natürliche Triebe, unter welchen keine einzige den Werth eines Gesetzes behaupten kann.

Ferner, wenn er würklich so weit künftig könnte gebracht werden (bisher ist keine Spur eines von seinem Gewissen gehuldigten Gesetzes vorhanden), daß er gewisse Vorstellungen als Gesetze, die ihn zum Gehorsam verpflichten, ansehen könnte, so habe ich oben schon gemeldet, daß er in Ansehung der Subsumtion entweder ungewiß oder irrig verfahren müsse.

Denn da jeder Gedanke ein Bild und jedes Bild mit andern Umständen verknüpfet ist, so kann er nicht wissen, welches die eigentlichen Umstände sind, auf welchen die Subsumtion beruhet.

Ihn dünkt, daß die Besteigung des Baums so wesentlich zu seiner That gehöre, als die Plünderung des Entleibten.

Aus diesem Umstande kann man erklären, warum er zuweilen seinen Mord als eine Heldenthat ansiehet, zuweilen Angst und Reue drüber bezeuget; warum er so willig ist, sie vorzumahlen, warum er auch die geringsten Umstände bemerket, weil er nicht gewiß weiß, was zu seiner Entschuldigung gereichen könnte.

Ich wüßte nicht, ob ein Umstand von Wichtigkeit bei dieser Mordthat noch möglich seyn könne, [65]den nicht Ew. ... mit der grösten Genauigkeit herausgebracht hätten.

Bei Worten ist allemal die Frage: ob beide Theile, der sprechende und der hörende, völlig einerlei Begriffe mit demselben verknüpfen? die Hermeneutick ist ein Beweiß, wie schwer solches sei; ja wie viele Processe laufen auf ein Mißverständniß der Gesetze hinaus?

Die Bildersprache ist bloß alsdann zweideutig, wenn Dinge ausgedrückt werden sollen, die keine Figur haben.

Man weise den Delinquenten und seine Gemälde allen Nationen; alle Nationen werden in ihrer Sprache ihn der Mordthat beschuldigen.

Aber ob Brüning als ein vorsetzlicher Uebertreter göttlicher und menschlicher Gesetze anzusehen sei? diese Frage wird durch richterlichen Ausspruch entschieden werden.

Fußnoten:

1: *) Dieser Aufsatz des Herrn Oberkonsistorialrath Silberschlag scheint mir äusserst merkwürdig, und eine wichtige Parallel zu den Aufsätzen über taube und stumme Personen im ersten Bande dieses Magazins zu seyn, indem eine Geschichte der andern immer mehr Licht giebt.
Im 3 ten Stück des 1 sten Bandes dieses Magazins pag. 76. u.s.w. finden sich ähnliche Beobachtungen über einen Taub- und Stummgebohrnen, der in Ansehung der Religionsbegriffe, eben so viel Kenntnisse, als dieser Brüning, besaß, ohne daß er je hätte hören können.
Ferner kann auch die Geschichte eines taub- und stummgebohrnen Frauenzimmers in eben dem Stück pag. 82. hiermit verglichen werden.
M.

2: *) Wird auch wohl nicht viel davon gelernt haben.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Beiträge 1780, Erster Abschnitt, Praejudicia juris, S. 90-103.

b: In der Vorlage: Werner.