ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Beobachtungen über Ahndungsvermögen.

Zimmermann, Friedrich Albert

Schon in meinen frühen Jahren merkte ich in mir bei gewissen oft ganz gleichgültigen Dingen, [100]ehe ich sie unternahm, eine ungewöhnliche Empfindung dagegen, nicht Abneigung, denn ich hatte Lust dazu, eher eine Art von Warnung; folgte ich dieser Warnung nicht, so hatte ich allemal Schaden oder Unglück, Verdruß etc.

Dieß brachte mich zuerst auf die Idee: Hat der Mensch auch ein Vorhersehungsvermögen? Ich las darüber Verschiedenes, und die Gründe dafür nahmen zu. Folgende besondere Beispiele bestärkten meine Meinung. Hier sind sie:

1) Der Archidiakonus Kirchner in Strehlen a studierte in Königsberg, ging von der Akademie mit einer Landkutsche; bald fuhr er, bald ging er. An einem Sonntage war er müde, setzte sich auf die Kutsche, und stellte über verschiedene Gegenstände der Religion Betrachtungen an. Auf einmal entstand in seiner Seele der lebhafte Gedanken: Springe vom Wagen! Er konnte sich, so lebhaft war der Gedanke, fast nicht besinnen, sprang vom Wagen, und ging. Kaum war er einige dreißig Schritt gegangen, als der Wagen umfiel, und Tonnen und Kasten, welche der Fuhrmann geladen, herabstürzten. Blieb er sitzen, so wurde er sicher zerquetscht.

2) Meine Großmutter wurde, wider ihren Willen, in der katholischen Religion erzogen, (sie hatte Eltern zweierlei Religion) in ein Kloster gesteckt, aus dem sie entfloh und sich verehlichte. Neunzehn Wochen nach ihrer Heirath wurde sie [101]aufgegriffen, in ein fremdes Kloster gebracht, gestraft, und mußte ein ganzes Jahr in einem Loche unter der Erde zubringen, nachher wieder eingekleidet, und blieb drei Jahr Nonne.

Sie mochte freilich oft den Wunsch gehabt haben, wegzugehen, aber sie sahe keine Gelegenheit. Eine Nacht soll sie ins Chor läuten; es entstehet eine ungewöhnliche Neigung zu entfliehen, sie betet, die Neigung wird stärker, bis zum Entschluß, gehet mit vielen Gefahren, ohne zu wissen wohin, weg, läuft fünf Meilen, kömmt in ein Dorf in der Grafschaft Wernigerode, findet im Wirthshause ihren Mann, der auch als Reisender da herberget, sie gehn darauf nach Halberstadt, wo sie beide in dem bekannten Dorfe Ströbke b bis 1754 gelebt haben. ― Wahr sind die Geschichten.

Breslau, den 24sten März 1784.

Zimmermann,
Königl. Kammer-Calculator.

Erläuterungen:

a: Heute Strzelin, südlich von Breslau, Niederschlesien.

b: Auch Ströpke genannt. Damals im Fürstentum Halberstadt. Heute Ströbeck bei Halberstadt. Bekannt als Schachdorf.