ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Ueber Anstrengung des Geistes.

Anonym

Bemerkungen von eben diesem ehemaligen Hypochondristen. a

Anstrengung des Geistes ist für Gelehrte schlechterdings in einigem Grade unvermeidlich; man kann sich zwar nicht ganz davor hüten, aber unter gewissen Regeln, kann man sie sich weniger schädlich machen.

Erstlich suche man seine Gesundheit so stark wie möglich zu machen: so wird eine stärkere Anstrengung weniger schaden, als unter andern Umständen eine weit geringere. Vorzüglich ist der Gebrauch des guten Weins und Obstes ein Mittel, stärkere Anstrengung des Geistes länger zu ertragen.

Zweitens, arbeite man nicht lange unmittelbar aneinander mit dieser Anstrengung. Sobald es damit nicht recht mehr fort will, so lasse man dies sein Werk nicht nur sogleich liegen, sondern suche sich, wenn schon nur auf eine kurze Zeit, zu zer-[106]streuen. Man gehe im Zimmer umher, in die Luft, in den Garten u.s.w. oder zerstreue sich mit kleinen Arbeiten und Gesprächen.

Je abgelegener diese von unserer Gedankenreihe, je simpler, in Absicht der nöthigen Aufmerksamkeit, je lustiger sie sind, desto besser. Drittens, suche man die hohen Arbeiten des Geistes in solchen Zeiten vorzunehmen, worinn wir am stärksten sind; des Morgens, nach starken Bewegungen und Erholungen, nach den nicht schwächenden Vergnügungen u.s.w. Durch eine möglichst weise Einrichtung der Geschäfte gehe man vom Schwerern nur zum Leichtern fort; nie aber umgekehrt. Dadurch werden wir unendlich mehr thun, als sonst möglich ist, und immer mit genugsamer Kraft. Zwingt man sich aber zu Anstrengungen dieser Art, wenn just die Seele nicht heiter ist, so trift das Virgilanische

― ― frustraque laborem / Ingratum trahit ― ― b

ein. Man sieht hieraus, daß die Stunden gegen Abend und die Nacht gerade, auch aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, die unschicklichsten sind.

Wer hypochondrisch ist, und dabei freiwilligen grossen Geistesanstrengungen obliegt, ist de tempore der größte Thor und Selbsthasser. Man wende nicht ein, daß man aus seiner Erfahrung und Gewohnheit wisse, daß die Stunden gegen und nach Mitternacht die besten Zeiten zu starken See-[107]lenarbeiten seyn. Ich gebe es zu, daß es bei Manchem fürs erste wirklich so ist. Ich habe diese scheinbar beweisende Erfahrung und Meinung auch gehabt. Aber es ist nichts weiter als die Frucht der Gewöhnung der Seele und des Körpers an eine gewisse periodenmäßige Epoche, wornach wir, wie mit vielen Dingen, z.E. dem Essen geschieht, wenn diese Zeit wiederkömmt, wieder vorzüglich Lust zur Sache haben, weil wir einmal dazu gewöhnt sind.

Aber man kann es a priori schon einsehen, daß dieses schlechterdings nicht die bequemste Zeit dazu sei, da es doch immer am Ende der Thätigkeit eines Tages ist, wornach die Kräfte doch allemal etwas geschwächt werden. Wie kann das gesund auf der einen, und die Arbeit erleichternd auf der andern Seite seyn, jetzt vorzüglich die Seelenkräfte und Nerven anzustrengen? Man versuche es, und verlege diese epochenmäßige Thätigkeit der Seele in die Morgenstunden, so wird man finden, sobald man dazu gewöhnt ist, daß man dennoch jetzt noch mehr, als damals, und mit grösserer Leichtigkeit arbeiten könne, und weniger Schaden für die Gesundheit davon habe. Da ich jene Mode ehedem gehabt, und nachher mit völliger Ueberzeugung diese hier vorgezogen habe, so sind diese Sätze lauter Erfahrung.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Anonymus 1782, S. 319-321.

b: Georgica, Liber III, Z. 97f. In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß: "[frostig schleicht der Verlebte zur Braut,] und müht sich vergebens / Im undankbaren Frohn." (Voß 1797-1800, Bd. 4, S. 473.)