ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Psychologische Betrachtungen auf Veranlassung einer von dem Herrn Oberkonsistorialrath Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung. a

Mendelssohn, Moses

(S. dieses Magazin 1. B. 2. St. S. 38.)

Bei jeder äußerlichen willkührlichen Handlung geschiehet eine Art von Uebergang aus der Seelenwelt in die Körperliche. Die Ursache ist geistig, die Wirkung körperlich. Die Veränderung im Körperlichen erfolgt, weil die Seele für gut findet, begehrt, will, einen Antrieb empfindet, oder einen Bewegungsgrund denkt; mit einem Worte, nach etwas zielet, das sie zu erreichen strebt. Absicht, Endzweck, Vorsatz, begehrtes Gut ist die wirkende Ursache, und die Wirkung ist Bewegung in den Gliedmaßen des Körpers. Was während diesem Uebergange aus dem Geistigen in das Materielle, noch geistig ist, [47]nenne ich würksame Idee; (im Gegensatz der blos spekulativen Ideen, die sich nicht über das Gehirn und etwa das System der Empfindungsnerven erstrecken, ohne auf die Bewegungsnerven Einfluß zu haben, und die ich dieserhalb unwürksame Ideen nennen will;) und was davon in die Materie zuerst übergeht, organischen Anstoß, erste Regung. Die in dem Augenblick des Ueberganges würksame Idee erzeugt den organischen Anstoß, und diese ist der Anfang einer Bewegung, die sich, nach den Gesetzen der körperlichen Bewegung, alsdann in der Materie weiter fortsetzt, und zum Ziele führet.

Ich weiß, daß nicht alle Weltweisen einen solchen Anfang der Bewegung zugeben; daß man gute Gründe hat, zu glauben, es entstehe überall keine neue Bewegung in der Natur; ja, wie einige hinzuthun, auch keine neue Richtung der Bewegung; sondern eine gewisse Quantität der Bewegungskräfte, so wie der Richtungen, bleibe vor und nach jedem Anstoße, vor und nach jeder Veränderung, gleich groß. Wenn Körper an Körper stoßen, hat dieses seine Richtigkeit. Ob sich aber dieses beim Uebergange aus der Ideenwelt in das Materielle eben also verhalte, und auch da keine neue Bewegung entstehe, und keine neue Direktion ihren Anfang nehme, scheint so ausgemacht noch nicht zu seyn, und die Analogie kann hier nicht völlig entscheiden. Indessen kömmt es mir hier auf diese spe-[48]kulative Untersuchung nicht an. Ich bleibe bei der bloßen Erfahrung stehn, die einen solchen Uebergang außer Zweifel setzt. Wie dieser Uebergang erklärt und begreiflich gemacht wird, lasse ich vor der Hand dahingestellt seyn, und halte mich an die Erfahrung selbst, die ein jeder mit seinem spekulativen System in Uebereinstimmung zu bringen, suchen mag.

Ist eine freiwillige, oder willkührliche Bewegung aus mehrern einfachen zusammengesetzt; so wird eine Folge von organischen Stößen a. b. c. d. mit einer ihr entsprechenden Reihe von würksamen Ideen A.B.C.D. gleichförmig fortrücken; dergestalt, daß in dem ersten Augenblicke der Veränderung, die Idee A, oder die Vorempfindung und Vorstellung von dem begehrlichen Gute, das Verlangen und Bestreben nach demselben, das größte Moment der Würksamkeit habe, und den organischen Stoß a hervorbringen wird. In dem zweiten Augenblicke, wird dem Vorsatze gemäß, das Moment der Vorstellung B. an Würksamkeit das größte seyn, und den Anstoß b. verursachen, u.s.w. bis am Ende die Absicht erreicht, und das Begehrte erzielt wird. Indem ich hier schreibe, entsteht in meiner Seele, Kraft des Vorsatzes; die Reihe der Buchstaben, die zu meiner Absicht gehören, erlangen in ihrer Folge, einer nach dem andern die größte Lebhaftigkeit, das größte Moment der Würksamkeit, und erzeugen in den Organen die ihnen ange-[49]messene Reihe von Bewegungen, bis der Vorsatz ausgeführt ist.

Daß das Moment der Wirksamkeit auf diese Weise von Idee auf Idee fortrückt, und so die ganze Reihe durchwandert, geschiehet Anfangs bei ungeübten und ungewohnten Handlungen, Kraft des Vorsatzes, der diesen Fortgang erfordert, und die Ideen auf diese Weise verbindet; geschiehet also in so fern noch mit vollem Bewußtseyn der Seele, und gleichsam unmittelbar auf ihren Befehl; wie an einem Menschen zu ersehen ist, der buchstabiren, schreiben oder ein Instrument spielen lernt. Wenn aber diese Handlungen öfter wiederhohlt werden, so entstehet eine so genaue Verbindung zwischen den Begriffen sowohl, als zwischen den organischen Stößen, daß sie sich einander, wie die Glieder einer Kette, nachziehen, sobald das erste Glied fortgezogen wird.

Alsdann ist das deutliche Bewußtseyn der Seele bei jeder einzelnen Handlung nicht mehr nöthig. Das Bewußtseyn des Vorsatzes im Ganzen erzeugt die erste wirksame Idee und die ihr entsprechende organische Regung; alles übrige erfolgt von selbst, vermittelst des festen Zusammenhangs der Ideen, immer noch als eine Wirkung der Seele, aber ohne deutliches Bewußtseyn derselben. Ich sage, die ganze Reihe der Veränderungen hört deswegen nicht auf, eine Wirkung der Seele zu seyn; ob diese sich gleich derselben nicht mehr bewußt ist. Denn da [50]dergleichen Handlungen Anfangs nicht anders als mit Bewußtseyn der Seele und durch ihre thätige Einwürkung erfolgen, das Bewußtseyn aber in der Folge allmälig und nach dem Gesetze der Stetigkeit abnimmt; indeß der Einfluß der Seele noch immer dieselbe Wirkung hervorbringt; so muß auch alsdann, wenn das Bewußtseyn völlig verschwindet, die Handlung selbst der Einwirkung der Seele nicht entzogen werden. Anfangs beim Buchstabiren z.B. muß jede Silbe, jeder Buchstab mit Bewußtseyn der Seele betrachtet und zum Laute gebracht werden. So wie die Fertigkeit von der einen Seite zunimmt, nimmt von der andern Seite das Bewußtseyn allmälig und stetig ab, bis es am Ende ganz verschwindet, und wir ohne deutliches Bewußtseyn fortlesen können. Diese ganze Folge von dem deutlichsten Bewußtseyn, bis auf die schnellste Fertigkeit, gehet so ununterbrochen fort, daß es nirgends absetzende Gränzen giebt, wo die Handlung selbst eine Wirkung der Seele zu seyn aufhöret, und eine blos mechanische Wirkung des Körpers zu werden, anfangen sollte.

Im Vorbeigehen sei es erinnert, daß ich diese Beweisesart für sehr fruchtbar in der Philosophie, und insbesondre in der Seelenlehre halte; und ich weiß mich keines Logikers zu erinnern, der sie ausdrücklich angeführt hätte. Im allgemeinen würde ich sie folgendergestalt ausdrücken:

[51]

Wenn x, und y veränderliche Grade vorstellen, und wir bemerken, daß Ax und By, unter mancherlei Ab- und Zunahme von x und y, in Causalverbindung stehen; so muß diese Causalverbindung nicht aufhören, wenn auch x oder y, oder beide = o werden.

Es ist, wie es scheint, eine bloße Anwendung der in der Algebra so nützlichen Fluxionalmethode auf die unausgedehnte Größe, die aber in der Philosophie mit gutem Nutzen gebraucht werden kann. So läßt sich z.B. durch diese Methode beweisen, daß die Seele im tiefsten Schlafe nicht aufhöre, Vorstellungen zu haben; daß die Gegenstände, die mit ihrer Entfernung, immer schwächer auf die sinnlichen Organe würken, in der größten Entfernung doch niemals ihre Einwirkung auf die Sinne völlig verlieren; und daß alle Lebensbewegungen in dem Körper Mitwirkungen der Seele seyn müssen, so daß eben die Seele, welche in den heftigsten Leidenschaften auf die Verdauung, Umlauf des Geblüts u.s.w. einen so merklichen Einfluß zeigt, auch in dem ruhigsten Gemüthszustande nicht ganz ohne Einwirkung auf diese Lebensverrichtungen bleiben könne. Dergleichen psychologische sowohl als physiologische Sätze giebt es so manche, die von verschiedenen Weltweisen in Zweifel gezogen werden, und, wie mich dünkt, auf diese Weise unumstößlich zu beweisen sind. Jedoch ist hier der Ort nicht zur weiteren Ausführung derselben. Ich begnüge [52]mich, sie hier dem Nachdenken der Leser empfohlen zu haben, und kehre zu meinem Thema zurück.

Gewohnte und geübte Handlungen, in welchen wir einige Fertigkeit erlangt haben, können wir verrichten, und zugleich etwas anders deutlich denken; das heißt, wir können eine Reihe von wirksamen Ideen fortsetzen und die ihnen gemäßen organischen Veränderungen hervorbringen, indem wir eine heterogene Reihe von unwirksamen Ideen mit den Gedanken verfolgen, deren wir uns bewußt sind; ja wir können neben einer Reihe von unwirksamen Vorstellungen, mehr als eine Reihe von wirksamen Ideen verfolgen, auf mehr als ein Organ des Körpers zugleich wirken, ohne daß sich diese verschiedene Reihen einander hemmen oder verwirren. So kann ein geübter Musikus z.B. auf einem Instrument mit beiden Händen und Füssen spielen, das heißt in jedem dieser Organe eine andre Reihe von organischen Bewegungen hervorbringen, und zugleich etwas ganz anders denken und sprechen. Man kann gehen, singen, und nachsinnen zugleich. Frömmlinge, die sich gewöhnt haben, gewisse Gebetsformeln, ohne Andacht herzuplappern, können unterdessen ganz heterogene Gedanken verfolgen, und ihre Formel gleichwohl ganz richtig hersagen.

Auf solche Weise kann die Seele fünf bis sechserlei Bewegungen in den Gliedmaßen willkührlich [53]hervorbringen*), 1 das heißt, so viele Reihen von wirksamen Ideen zugleich durchzusetzen, und neben denselben eine heterogene Reihe von deutlichen Gedanken verfolgen, ohne sie zu verwirren. Sie muß indessen ihre Kraft theilen, und die dunkeln Ideen mancherlei Art, die zugleich wirken sollten, vermittelst der Ideenverbindung durcheinander weben, ohne ihre Aufmerksamkeit von den Gedanken abzuziehn, die sie nebenher fortsetzen will. Ich glaube aber nicht, daß es möglich sei, mehr als eine Reihe von unwirksamen Begriffen zugleich zu haben; das heißt, mehr als eine Kette von deutlichen Gedanken auf einmal zu führen, ohne sie zu verwirren. Daß so mancher mehr als einem Schreiber, und jedem eine andre Reihe von Gedanken zugleich diktiren kann, macht hierinn noch keine entscheidende Erfahrung. Es scheint, daß man genöthigt sey, jedesmal den Faden der übrigen Gedanken gleichsam fallen zu lassen, indem man Einen verfolgt, und so wechsels-[54]weise einen Faden nach dem andern wieder aufnehmen muß, um das Gewebe zu vollenden. Dieses heißt aber nicht, verschiedene Reihen von Gedanken zu gleicher Zeit denken, so wie man verschiedene willkührliche Bewegungen zu gleicher Zeit hervorbringen kann.

So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Ideen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch die Stärke des Eindrucks, oder des Antheils, den die Seele daran nimmt, ihre ganze Aufmerksamkeit an sich ziehet. Sobald dieses geschiehet, wird die Wirkung der Ideenverbindung gehemmt; die Handlung wird unterbrochen, und es entsteht ein Stocken und Anhalten in der Fortschreitung, bis die Seele sich sammlet, und Kraft des deutlich bewußten Vorsatzes, wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennen wir Zerstreuung. Wir sagen, der Mensch sei zerstreut, wenn er durch fremde, ihm angelegentliche Vorstellungen verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehöriger Ordnung zu verrichten. Wenn er nicht gegenwärtiges Geistes ist, das heißt, öfters durch interessantere Vorstellungen abgerufen wird.

Hierdurch läßt sich erklären, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden. Dem Redner, der eine gewisse Rede auswendig gelernt hat, wird sein Gedächtniß treuer bleiben, [55]wenn er solche mit der gewohnten Geschwindigkeit hersagt. Der Schreibmeister muß seine gewundenen Züge, und der Maler seine Pinselstriche mit Keckheit gleichsam hinwerfen, wenn sie gelingen sollen; und dieses wird hauptsächlich in allen Fällen nöthig seyn, wo die zusammengesetzte Handlung Ein stetiges Ganzes ausmachen soll, wie in den schönen Künsten und Wissenschaften der Fall ist. Alsdann muß durch die Schnelligkeit verhütet werden, daß keine fremde Nebenidee sich einschleiche, und der Zusammenhang der wirksamen Begriffe, so wie der organischen Regungen, die sich einander von selbst anrufen sollen, unterbreche. So oft dieses geschiehet, geräth die Handlung, wie wir gesehen, ins Stocken; die Seele muß, durch Bewußtseyn des Vorsatzes, von neuem wieder anfangen, und den ersten organischen Stoß geben; daher das Ganze seine Einheit und Stetigkeit verlieret. Das öftere Ablassen und Ansetzen der willkührlichen Handlung giebt ihr ein Ansehn der Aengstlichkeit, das Mißfallen erregt, wie solches an mühsamen Copien nach einer fremden Hand wahrgenommen wird, wo der Künstler nicht aus eigener freier Kraft und Ideenverbindung, sondern immer nach Vorschrift und Muster wirken, das heißt, wo er die organischen Regungen nicht in ununterbrochener Reihe fortrücken lassen kann, sondern öfters absetzen, und wiederum von Neuem anfangen muß.

[56]

Ferner müssen auch nie zwei wirksame Ideen zusammenstoßen, die auf eben dasselbe Organ würken, und Verrichtungen verschiedner Art hervorzubringen bemüht sind. Denn so oft eine solche Collision entstehet, erfolgt eine Art von Schwanken und Ungewißheit in der Seele, ein Zittern in den Organen der Bewegung, das wir in Rücksicht auf die Organen der Sprache, mit einem besondern Namen zu belegen, und Stottern zu nennen pflegen.

Man sollte glauben, dieser Fehler sey den Organen zuzuschreiben; es müsse nehmlich in der Anlage und dem innern Baue der Sprachwerkzeuge etwas mangelhaft und unrichtig seyn, woraus sich diese Unfähigkeit erklären lasse. Es ist aber aus mancherlei Beobachtungen abzunehmen, daß der Fehler mehr psychologisch, als mechanisch oder organisch seyn müsse. Ich will einige derselben, die ich anzustellen, die beste Gelegenheit gehabt, hier anführen.

1) Im Affekt sind wir alle, mehr oder weniger, dem Fehler unterworfen.

2) Man ist demselben in einer fremden Sprache, die uns nicht so geläufig ist, mehr ausgesetzt, als in der Muttersprache.

3) Mehr, wenn jemand zugegen ist, vor dem wir uns scheuen, diese Schwachheit merken zu lassen.

4) Am wenigsten, wenn man allein ist, laut und langsam spricht, oder gar singet.

[57]

5) Wenn der Stotternde zu sprechen fortfahren will, so wiederholt er einige Silben, die er bereits ausgesprochen, um gleichsam auszuholen, und fährt mit der äußersten Geschwindigkeit über die schwierige Silbe, sehr oft ohne Anstoß, hinweg; zuweilen aber gelingt es das erstemal nicht, und die Operation muß öfter wiederholt werden.

Alles dieses würde unbegreiflich seyn, wenn ein Mangel in dem Baue der Organen die Ursache des Stotterns wäre. Die Hypothese, nach welcher ich mir alle diese Erscheinungen zu erklären suche, ist diese. Wir haben gesehen, daß die Seele zu gleicher Zeit mehrere Reihen von wirksamen Ideen verbinden könne, im Falle sie nur nicht in Collision kommen, daß nehmlich mehr als eine Idee auf dasselbe Organ zugleich wirken wolle. Mit diesen Reihen von wirksamen Ideen kann sie auch noch eine Reihe von spekulativen, deutlichen Gedanken verbinden, die, so lange sie für die Seele kein hervorstechendes Interesse haben, den Lauf der willkührlichen Verrichtungen nicht unterbricht.

Gesetzt nun, es trete in der Reihe der würksamen Ideen A.B.C.D. u.s.w. an die Stelle von D., eine fremde, auf eben dasselbe Organ wirksame Idee, oder interessante Vorstellung K. ein, die mit D. gleiches Moment von Wirksamkeit hat; so wird in der Seele gleichsam ein Hin- und Herschwanken zwischen D und K entstehn, und indem sie bemühet [58]ist, den organischen Stoß d. hervorzubringen, kann wider ihren Willen und Vorsatz, der Anstoß k. erfolgen. Sobald nehmlich K. so wirksam wird, daß es der Vorstellung D. die Wage hält; so entstehet ein Stocken im Sprechen. Es ist nehmlich zwischen den Gliedern der Kette, die sich einander nachziehen sollen, ein Hinderniß eingetreten, das ihre fernere Bewegung hemmet. Nimmt K, durch Nebenideen etwa, an Kraft und Wirksamkeit zu; so erfolgt der unzweckmäßige Anstoß k, anstatt des zweckmäßigen und verlangten Anstoßes d. Die Seele wird dieses gewahr, hält ein, und ziehet sich gleichsam zurück, um durch Lenkung der Aufmerksamkeit, die Gewalt der Vorstellung D. zu verstärken, und den Anstoß d. hervorzubringen. Dieses gelinget zuweilen; aber zuweilen entsteht durch diese Bemühung blos ein zweites Stocken, das mit dem vorigen denselben Weg nimmt. Die fremde Vorstellung, welche diese Verwirrung verursacht, kann zuweilen von der Beschaffenheit seyn, daß sie in die Reihe der zweckmäßigen Ideen gar nicht passet, sondern aus einer ganz andern Folge von Begriffen sich hier eingemischt hat. Mehrentheils aber scheint es eine spätere Idee zu seyn, die der Stotternde anticipirt, ein Glied der Ideenkette, das zu früh eintreten will, und dadurch die Bewegung hemmet. Die Vorstellung K. nehmlich, die nach dem Erfordern des Vorsatzes, erst in der Folge, nach I. ihren Platz hat, erhält etwas zu früh das größte Moment der [59]Kraft, und unterbricht dadurch die Einwirkung der zweckmäßigen Vorstellung D.

Das Stottern wäre also, nach dieser Hypothese, nichts anders, als eine Art von Collision einer zweckmäßigen mit einer unzweckmäßigen Idee, welche beide auf die Sprachwerkzeuge zugleich wirken wollen, und fast gleiche Momente der Kraft haben. Die Glieder der Ideenkette, die sich, ohne unmittelbare Lenkung der Seele einander nachziehen sollen, werden, durch eine fremde Idee, die sich dazwischen gelegt, aufgehalten, und nunmehr findet die hinzutretende Seele ihre Schwierigkeit, das Hinderniß aus dem Wege zu nehmen.

In einer Gemüthsbewegung drängen sich gewisse Ideen mit einer solchen Lebhaftigkeit und Wirksamkeit vor, daß sie gar leicht den Lauf der zweckmäßigen Ideen unterbrechen können.

Wenn wir uns in einer fremden Sprache ausdrücken wollen, so pflegen wir selten, so lange sie uns nicht sehr geläufig ist, in derselben zu denken, sondern wir denken noch immer in der Muttersprache, und übersetzen uns selbst, in währendem Sprechen, aus der geläufigen in die fremde Sprache. Wir haben also zu gleicher Zeit, nicht nur für das Gegenwärtige, in einer Sprache zu denken, in welcher sich der Ausdruck von selbst darbietet, und in einer andern den Ausdruck aufzusuchen, der uns zu fliehen scheinet; sondern müssen auch für das Nächstkünftige sorgen, denken und übersetzen, damit wir [60]nicht stocken. Wie leicht ist hier nicht Collision möglich?

Je mehr Personen auf die Worte des Redenden aufmerksam sind, destomehr fremde Vorstellungen können sich einmischen, und ihn in Verwirrung bringen, und dieses um desto leichter, wenn sich die Furcht mit einmischt, ihnen durch den Fehler in der Sprache zu misfallen.

Beim langsamen Lesen oder Singen würkt die Seele weniger durch dunkele Ideenreihen und sich selbst überlassene Fertigkeiten, als durch rege Aufmerksamkeit, mit Willen und Bewußtseyn, und kann daher weit weniger von einer fremden, unzweckmäßigen Vorstellung beschlichen und in Verwirrung gebracht werden. Das laute Lesen hat noch überdem den Vortheil, daß die Seele vermittelst des Gehörs, sinnlich beschäftiget und an das Gegenwärtige in der zweckmäßigen Ideenreihe gleichsam befestiget wird; dadurch sie weit weniger ausschweifen und auf etwas fremdes zu verfallen, aufgelegt wird.

So kann auch auf die entgegengesetzte Weise, durch die äußerste Schnelligkeit, mit welcher der Stotternde die Reihe der Worte durchfährt, die innige Verknüpfung der würksamen Begriffe verstärkt, das Eintreten fremder unzweckmäßiger Ideen verhindert, und die Sprachwerkzeuge in den Stand gesetzt werden, über die schwierige Silbe ohne Anstoß hinzurollen. Eben so, wie in der physischen [61]Bewegung ein Hinderniß, das im Wege liegt, leichter zu überkommen ist, wenn wir ausholen, und mit der möglichsten Geschwindigkeit darauf zueilen.

Das beste Mittel wider dieses Uebel ist, meiner Erfahrung nach, folgendes: Man gewöhne sich frühzeitig niemals anders, als laut und langsam zu lesen, und vornehmlich nicht mit den Augen zuvoreilen, und das Folgende zu schnell vorausnehmen zu wollen. Man belege sich vielmehr das Folgende mit der Hand, und lasse Silbe nach Silbe, so wie sie ausgesprochen werden soll, erst in die Augen fallen. Hierdurch werden nicht nur fremde Vorstellungen entfernt, sondern hauptsächlich das Zuvoreilen späterer Begriffe verhindert, welches in den mehresten Fällen die Ursache des Stotterns zu seyn pflegt. Anfangs wird diese Uebung am besten mit solchen Sachen vorzunehmen seyn, die noch unbekannt sind, davon man also das Folgende nicht aus dem Gedächtnisse vorausnehmen kann. Nach und nach versuche man es mit bekanntern Sachen. Man wiederhole die Bemühung öfters in Gegenwart andrer und vornehmlich solcher Personen, denen man Ehrerbietung schuldig ist, und zu gefallen Ursache hat. Dadurch wird die Seele in der Fertigkeit gestärkt, ihre Ideenreihe in Ordnung zu halten, und alle fremden und unzweckmäßigen Vorstellungen zu entfernen.

In den übrigen Gliedmaßen der freiwilligen Bewegung kann sich etwas ähnliches zutragen, als [62]hier zur Erklärung des Stotterns in Absicht auf die Gliedmaßen der Sprache angenommen worden ist, und hieraus läßt sich das Schwanken und Taumeln der berauschten und fieberhaften Personen, so wie das Zittern der Alten und Schwächlichen begreiflich machen. Bei jenen folgen die Ideen zu schnell auf einander, und die Gliedmaaßen der Bewegung können ihnen in eben der Geschwindigkeit nicht folgen. Es durchkreuzen sich auch bei ihnen verschiedene Ideenreihen, und laufen dermaßen durcheinander, daß sie öfter in Collision kommen, und sich einander hemmen; daher wechselsweise das schnelle Zufahren in der Bewegung und das öftere Stocken, welches zusammengenommen das Taumeln genennt wird. Bey alten und schwächlichen Personen aber folgen zwar die Ideen mehrentheils in ihrer natürlichen Geschwindigkeit aufeinander; allein die Gliedmaaßen der Bewegung sind bey jenen zu steif, bey diesen zu schwach, mit den würksamen Ideen gleichen Schritt zu halten, und ihnen in eben der Zeit harmonisch zu folgen. Es mischen sich also fremde und itzt nicht zum Zweck dienliche Begriffe mit ein, und bringen die Reihe der organischen Stöße, die der Reihe der würksamen Ideen entsprechen soll, in Unordnung und öftere Unterbrechung. Der Schwindel selbst scheint nichts anders zu seyn, als das Durchkreutzen und Ineinanderlaufen verschiedener Reihen von unwürksamen Begriffen, die sich mit einer solchen Lebhaftigkeit ineinander verlieren, daß [63]die Seele zu schwach ist, sie dem Bewußtseyn unterzuordnen, und sich derselben zu bemeistern. Man wird sich dieses deutlich machen können, wenn man auf die verschiedne Art aufmerksam ist, auf welche der Schwindel zu entstehen pflegt. Jedoch ich verlasse diese besondere Krankheit, die ein philosophischer Arzt von meinen Freunden mit mehrerer Ausführlichkeit zu behandeln im Werke hat, b und verweise meine Leser auf die Abhandlung desselben, die wahrscheinlicherweise nächstens zum Vorschein kommen wird.

Ich komme zu der seltnen Beobachtung, die Herr Spalding an sich selbst gemacht hat, und die zu diesem Aufsatze die Veranlassung gewesen. Jener Weltweise spricht: die Frage eines Weisen führet die Antwort zur Hälfte mit sich. Mich dünkt, dieses treffe allhier vollkommen ein. Herr S. hat mit so vieler Genauigkeit beobachtet, und die Umstände, die er wahrgenommen, so treffend beschrieben, daß die Hypothese, aus welcher sie erklärt werden können, sich gleichsam von selbst darbietet. Man darf nur seiner Erzählung folgen, und dabei nicht aus der Acht lassen, was oben von der Harmonie zwischen den würksamen Begriffen und organischen Stößen ist angeführt worden.

»Ich hatte, erzählt Herr S., denselben Vormittag in geschwinder abwechselnder Folge viele Leute sprechen, vielerlei Kleinigkeiten schreiben müssen, wobei die Gegenstände fast durchge-[64]hends von sehr unähnlicher Art waren.« Diesem nach entstunden in ihm viele Ideenreihen mancherlei Art, deren verschiedene auf dieselben Organe des Sprechens und Schreibens wirksam waren. Diese mußten sich einander desto öfter durchkreutzen und in Verwirrung bringen, je weniger Verbindung sie unter sich hatten, und je mehr die Aufmerksamkeit, wie Herr S. hinzusetzt, immer auf etwas anders gestoßen ward. Dergleichen vielerlei Geschäfte, die durcheinander laufen, pflegen bei jedem andern schon Zerstreuung zu verursachen; einen Zustand, in welchem wir etwas anders verrichten, als wir verrichten wollen. Bei einem Manne, der gewohnt ist, anhaltenden, bündigen Betrachtungen nachzuhängen, und vielleicht geringfügige Geschäfte dieser Art mit Unlust verrichtet, mußte die Wirkung stärker und von längerer Dauer seyn. Seine Aufmerksamkeit ward desto härter angegriffen, da sie nicht gewohnt ist, sich so zerren und stoßen zu lassen, und jeder Kleinigkeit, die sie auffordert, sogleich zu Dienst zu seyn; daher sie am Ende so eingenommen und gleichsam betäubt ward, daß sie seiner freyen Willkühr den Gehorsam versagte, und sich nicht mehr von dem Bewußtseyn des Vorsatzes lenken ließ.

»Zuletzt, fährt Herr S. fort, war noch eine Quitung zu schreiben. Ich setzte mich nieder, schrieb die beiden ersten dazu erforderlichen Wörter.« Hier trat, nach meiner Hypothese, eine [65]fremde, auf eben das Organ würkende Idee dazwischen, hielt der zweckmäßigen Idee die Wage, und unterbrach die Folge der organischen Stöße. »In dem Augenblicke, erzählt der Beobachter, war ich nicht weiter vermögend, weder die übrigen Wörter in meiner Vorstellungskraft zu finden,« (die Menge der mannigfaltigen Ideen hatte diese Dunkelheit verursachet) »noch die dazu gehörigen Züge zu treffen« (die zweckmäßigen Vorstellungen waren am Moment der Kraft in diesem Augenblicke nicht die stärksten). »Ich strengte aufs äusserste meine Aufmerksamkeit an, suchte langsam einen Buchstab nach dem andern hinzumahlen« (grade so, wie die Stotternden beim Sprechen, zuweilen mit gutem Erfolge, zu thun pflegen,) »mit beständigem Rückblick auf den vorhergehenden, um sicher zu seyn, ob er auch zu demselben passe« (daß sich Hr. S. dieses Rückblicks und der Bedenklichkeit, ob auch der Buchstab passen würde, so deutlich bewußt war, mag wohl den Zustand in etwas verschlimmert haben; indem dadurch die Aufmerksamkeit noch mehr getheilt, und unzweckmäßigen Ideen mehr Gewalt eingeräumt wurde) »merkte aber doch, und sagte es mir selbst, daß es nicht diejenigen Züge würden, die ich haben wollte.« (Eben so, wie der Stotternde eine Silbe nicht herausbringen kann, und eine andre dafür hören läßt. Er merkt es, daß es nicht die zweckmäßige Silbe sei, hält ein, und setzt zu verschiedenen Malen von neuen an, [66]um die rechte, zur Absicht dienliche Silbe tönen zu lassen.)

»Ich brach also ab, fährt Hr. S. fort, hieß den Mann, der darauf wartete, theils einsilbigt, theils durch Winken, weggehen, und überließ mich unthätig dem Zustande, in welchem ich mich befand. Es war eine gute halbe Stunde hindurch eine tumultuarische Unordnung in einem Theile meiner Vorstellungen« (in der Region der würksamen Ideen) »in welchen ich nichts zu unterscheiden vermochte: nur daß ich sie ganz zuverläßig für solche Vorstellungen erkannte, die sich mir ohne und wider mein Zuthun aufdrängten, deren Unwichtigkeit ich einsahe, auf deren Wegschaffung ich arbeitete, um den eignen und bessern Ideen, deren ich mir im Grunde meiner Denkkraft« (in der Region der unwürksamen, spekulativen Ideen,) »bewußt war, mehr Luft und Raum zu verschaffen. Ich warf mich nehmlich, so viel ich unter dem Schwarm der andringenden verwirrten Bilder konnte, auf die mir geläufigen Grundsätze von Religion, Gewissen, und künftiger Erwartung zurück: ich erkannte sie für gleich richtig und fest: ich sagte mir selber, mit der größten Deutlichkeit und Gewißheit: wenn ich, das eigentliche denkende Wesen, jetzt gleich, etwa durch eine Art von Tod, aus diesem in dem Gehirn erregten Getümmel, welches mir, nach meiner innersten Empfindung, immer etwas fremdes außer mir selbst vor-[67]gehendes blieb, herausgesetzt würde; so würde ich in der besten glücklichsten Ordnung und Ruhe fortdenken und fortdauern. Bei dem allen war nicht die mindeste Täuschung der äusserlichen Sinnlichkeit: ich sahe und kannte alles um mich herum in seiner wahren Gestalt: nur des fremden Andranges und Gewirres im Kopfe konnte ich nicht loswerden. Ich versuchte zu reden, gleichsam zur Uebung, ob ich etwas zusammenhangendes hervorzubringen im Stande wäre; aber so sehr ich auch Aufmerksamkeit und Gedanken zusammenzwang, und mit der äußersten Langsamkeit dabei verfuhr; so merkte ich doch bald, daß unförmliche und ganz andere Gedanken erfolgten, als die ich wollte: meine Seele war itzt eben so wenig Herr über die innerlichen Werkzeuge des Sprechens, als vorhin des Schreibens.«

Man siehet gar deutlich, daß die Seele unsers Beobachters, was die unthätigen spekulativen Ideen betrift, ihre Funktion ohne Fehler und Verwirrung verrichten konnte: das Widernatürliche lag bloß in der Funktion der eigentlichen wirksamen Ideen, die in die Gliedmaßen des Sprechens und Schreibens wirken und die ihnen gemäßen körperlichen Veränderungen hervorbringen sollten. Hier hatten sich mancherlei andre, unzweckmäßige Ideen dermaßen gehäuft und zusammengedrängt, daß sie sich zwar einander das Licht benahmen und dunkel in der Seele schwebten; aber das Moment ihrer Kraft ward [68]dadurch nicht vermindert, und sie stellten sich der Seele gleichsam in den Weg, so oft sie eine von den ihr sonst so willigen Saiten, nach Erforderniß ihres Endzweckes, berühren, und in Bewegung setzen wollte. Wir sind zwar Meister über unsre Aufmerksamkeit, und im Stande, sie nach unserm Vorsatze zu lenken; aber nur bis auf einen gewissen Grad. Die Gewalt der Ideen kann aber so sehr zunehmen, daß wir mit aller Anstrengung die Aufmerksamkeit von ihnen nicht abrufen können, und in der Region der wirksamen Ideen können die dunkelsten Begriffe eine solche Gewalt besitzen, oder vielmehr die Begriffe, die eine so große praktische Gewalt haben, sind mehrentheils undeutlich, wegen der Geschwindigkeit, mit welcher sie aufeinander folgen, wie bei allen Fertigkeiten und Geschicklichkeiten der Menschen zu ersehen ist.

Daß in der Region der Gedanken alles wohl und in Ordnung sey, und gleichwohl in der Region der wirksamen Ideen etwas widernatürliches, oder gar eine gänzliche Unfähigkeit obwalten könne, habe ich selbst, bei der Nervenschwäche, an der ich seit vielen Jahren leide, nur zu oft erfahren. Die Zufälle meiner Krankheit hat mein Freund, der D. Bloch, der mich, als Arzt und Freund genau zu beobachten Gelegenheit gehabt, in seinen Beobachtungen c mit vieler Deutlichkeit beschrieben. Im Anfalle, der mich beim ersten Erwachen aus einem unruhigen Schlafe anzuwandeln pflegte, hatte ich mein völliges [69]Bewußtseyn, war im Stande, jede Gedankenreihe, die ich mir vornahm, mit Ordnung und Deutlichkeit zu verfolgen; nur daß ich aller willkührlichen Bewegung schlechterdings unfähig war; weder ein Glied am Leibe regen, noch einen Laut von mir geben, oder die Augen aufthun konnte, und jede Bemühung, die ich anwandte, irgend ein Glied zu bewegen, war völlig fruchtlos, und vermehrte nur die sehr widrige Empfindung, von welcher dieser Zustand begleitet war. Es war mir nehmlich dabei, als wenn etwas glühendes vom Gehirn herab, den Rückgrad entlang, einströmen wollte, und Widerstand fände, oder als wenn jemand mit glühenden Ruthen mir den Nacken geisselte. Ich mußte mich also vollkommen ruhig halten, bis ein Eindruck von außenher den Lebensgeistern gleichsam die Schleusen öfnete, daß sie freien Einfluß hatten, und nunmehr war auch in demselben Augenblick alles wieder hergestellt, und ich völlig wieder Herr über meine freiwilligen Bewegungen.

Demohngeachtet aber ist es immer dieselbe Seele, dieselbe einfache Substanz, welche beides verrichtet, Gedanken hat, und Willkühr oder freien Willen ausübt; nur daß sie, so wie der Körper, in Absicht auf Eine von ihren Funktionen in einen widernatürlichen Zustand gerathen und gehemmet werden kann; das heißt, die Seele kann, so wie der Körper in Ansehung dieser Verrichtungen, gesund und wohl, und in Ansehung einer andern hingegen [70]schwach oder krank seyn. Dasselbe denkende Wesen, das Hr. S. sein eigentliches Ich nennet, und das von Seiten seiner Gedankenfähigkeit völlig gesund war, empfand von Seiten seiner Bewegungsfähigkeit, die Verwirrung, das Fremde, Widernatürliche, die Indisposition, die leicht in eine Krankheit hätte übergehen können. Die Reihe der spekulativen unthätigen Begriffe blieb in ihrem natürlichen Zustande und konnte, so oft der Denker wollte, mit freier Willkühr fortgesetzt werden. Aber die Reihe der thätigen Ideen, und der mit ihnen harmonisch zu erregenden organischen Stöße hatte gelitten. Hier war der Andrang und das Getümmel, welches Hr. S. fühlte; und so oft er ans Reden oder Schreiben ging, drang sich aus dieser Verwirrung immer eine fremde unzweckmäßige Vorstellung vor, die auf dasselbe Organ wirkte, und eine andre Bewegung hervorbrachte, als er haben wollte.

Mich dünkt indessen, Hr. S. habe in der Ueberraschung einen mißlichen Versuch gewagt, in währendem Andringen verwirrter Bilder und Vorstellungen, sich nach seinen philosophischen und religiösen Betrachtungen umzusehen, und seine Aufmerksamkeit von dem gegenwärtigen Getümmel gleichsam mit Gewalt abzuziehen. Dieser Versuch hätte, wo ich nicht irre, von traurigen Folgen seyn können. Jene Betrachtungen, auf die sich Hr. S. zu werfen wagte, enthalten blos spekulative Ideen, die unmittelbar auf keine äußere Gliedmaßen wirken. Und [71]in dem Gehirn selbst, wo sie so lebhaft wirken, beschäftigen sie, als allgemeine, abstrakte Begriffe, bloß einen gewissen Bezirk, eine ihnen zukommende Region, und lassen das übrige System ohne alle Thätigkeit. Sie erfordern also mehr Sammlung und Anstrengung der Lebensgeister und eine stärkere Richtung derselben gegen die obern Theile, als in dem tumultuarischen Zustande, in welchem sie sich bei Hrn. S. ohnehin befanden, dienlich gewesen seyn mochte, und daher mußten sie, wie mich dünkt, das Uebel vermehren. Eine freie Aussicht in die offene Natur; ein ruhiger Blick auf das thätige Leben der Menschen und Thiere; ein körperlicher Schmerz, oder jede andre äußere sinnliche Empfindung von einiger Kraft, etwas Speise oder ein kühlender Trunk, den er etwa zu sich genommen hätte, würde wahrscheinlicher Weise heilsamer gewesen seyn. Dadurch würden die Lebensgeister von ihrem allzuheftigen Andrange im Gehirne abgeleitet, und in das ganze Nervensystem gleichmäßig vertheilt worden seyn. Nur durch sinnliche Eindrücke werden die Ideenbilder in Ordnung gebracht, und Licht und Schatten so über die Masse verbreitet, daß sie sich einander unterstützen, und die Wirkung des Ganzen befördern helfen. Betrachtungen und Vernunftgründe, wie diejenigen, denen sich Hr. S. überließ, mußten grade von entgegengesetzter Wirkung seyn; ja die Besorgniß, die er sich in diesem Zustande machte, die doch wahrscheinlicherweise mit einiger Unruhe verbunden [72]seyn mußte, konnte nach meiner Hypothese den Zustand nicht wenig verschlimmern helfen; indem jede Gemüthsbewegung die ordentliche Einwirkung wirksamer Ideen auf die Organe zu verhindern pflegt; wie solches vom Stottern ist angemerket worden.

Es thut nichts zur Sache, daß Hr. S. sich auf nichts in seinen vorhergegangenen Vorstellungen oder Geschäften zu besinnen wußte, das zu den unverständlichen Worten, die er in der Verwirrung niederschrieb, hätte Anlaß geben können. Wir haben gesehen, daß die dunkelsten Empfindungen, die mit keinem Bewußtseyn der Seele verbunden sind, auf die Organe dennoch sehr kräftig wirken, und die zweckmäßigen willkührlichen Handlungen hervorbringen, und eben so wohl unterbrechen können. Ein Wort, das etwa in währender Verwirrung in einem Nebenzimmer laut gesprochen ward, konnte zufälliger Weise, da alles in dem Haupte Hrn. S so gespannt war, einen sehr lebhaften Eindruck machen, und von stärkerer Wirkung in die Organe seyn, als die zweckmäßige Idee, die kein sonderliches Interesse hatte. Indem nun Hr. S. seine Lebensgeister anstrengte, die Bewegung der Hand hervorzubringen, die zu seinem Endzweck erforderlich war, drang jene fremde Vorstellung vor, und ließ ihn etwas unzweckmäßiges niederschreiben, so wie dem Stotternden wider Willen Silben entfahren, die er nicht hat aussprechen wollen. Die Seele, ihres Vorsatzes deutlich bewußt, merkte gar bald, daß etwas [73]unrechtes hingeschrieben worden, hielt ein, um von neuem wieder anzusetzen; daher das Unterbrochene, Unvollendete in der Sprache des Stotternden sowohl, als in dem Niedergeschriebenen des Hrn. S. ― Und eben dieses, daß die unwillkommenen Ideen in der Seele fremde waren, und sich nur zufälliger Weise eindrängten, daß sie noch das Bürgerrecht nicht erlangt, an keine Reihe von Begriffen sich angefügt hatten; eben dieses, sage ich, ist die Ursache, daß sich Hr. S. ihrer nachher nicht wieder zu erinnern vermochte. Man hat im Traume zuweilen die lebhaftesten und wirksamsten Vorstellungen; man weiß es, beim Erwachen, daß man dergleichen gehabt, ohne sich ihrer wieder erinnern zu können, so lange man nicht auf eine Idee geräth, die mit ihnen verbunden ist, und vermittelst derer jene hervorgerufen worden. Die Seele kann nur diejenige abwesende Vorstellung anrufen, zu der sie das eine Ende der Schnur gleichsam vor sich hat, um sie anziehen zu können. So lange sie dieses nicht gefunden hat, ist ihre Bemühung vergebens. Nur vermittelst des Gegenwärtigen ist die Seele im Stande, sich des Vergangenen wieder zu erinnern.

Und nun auch etwas auf die philosophische Frage Hrn. S. zu antworten:

»Wenn die ganze Denkkraft von dem jedesmaligen Zustande des Gehirnes abhängt, oder eigentlich darinn liegt; so muß in meinem Fall, der eine Theil meines Gehirns gesund, in gehö-[74]riger Lage und Ordnung, der andre in unordentlicher, verwirrter Bewegung gewesen seyn. Und welcher von beiden sagte denn: ich? unterschied die durcheinander kreutzenden Vorstellungen von sich selber? urtheilte von der Unrichtigkeit derselben? fühlte so innig sich selbst, als etwas ganz anders und abgesondertes von jenem?«

Nach obiger Erklärungsart war eigentlich in dem Gehirn des Herrn S. kein Theil in unordentlicher, verwirrter Bewegung; und es hatten nur fremde, unzweckmäßige Vorstellungen mehr Wirkungskraft erlangt, als sie seinem Vorhaben nach, haben sollten. Das Ich seiner Seele hatte weder Ort noch Bestimmung verändert. Daß wir neben einer Reihe von spekulativen, mit Bewußtseyn verbundenen Ideen, die nicht auf äußere Organe wirken, auch noch so manche Reihe von thätigen Ideen verfolgen, und zum Ziele leiten können, ist bekannt, und bereits oben angeführt worden. Die Seele beherrscht diese verschiedenen Reihen, lenkt jene durch deutliches Bewußtseyn jedes Gliedes, diese durch Gewohnheit und Uebung, und die durch dieselben hervorgebrachten Fertigkeiten; wirkt hier selbst, und läßt dort andre nach ihrem Plane fortwirken. Alles dieses weis sie, wie die Bürger eines wohlgeordneten Staats dermaßen in Harmonie zu bringen, gleichsam wie in eine einzige gruppirende Masse von Licht und Schatten zu verbinden, daß die Wirkung [75]des Ganzen zu ihrem Hauptendzwecke übereinstimmet. Allein sie herrscht in diesem ihrem innern Staate nicht unumschränkt, und ihre Befehle werden nicht alle ohne Weigerung vollzogen. Ihre Kraft überhaupt hat Gränzen. Zuweilen gelanget eine Vorstellung zu einer größern Gewalt, versagt ihr den Gehorsam, will thätig seyn, wo sie nicht soll; verdränget eine zweckmäßige Idee aus ihrer Stelle, oder hemmet sie wenigstens in ihrer Verrichtung; wodurch Unordnung und Stocken in den öffentlichen Angelegenheiten entstehen muß. Die Beherrscherin eilt hinzu, der Unordnung zu steuern. Ihrem Befehle nach sollte eine gewisse Reihe von organischen Stößen hervorgebracht werden, und eine fremde Idee hatte sich dazwischen eingedrängt. Sie suchet also die Aufmerksamkeit, die sie zum Theil in Händen hat, mehr der zweckmäßigen Idee zuzuwenden, und sie dadurch wirksamer zu machen. Es läßt sich aber begreifen, daß die widerspenstige Vorstellung nicht immer alsofort weichen wird, sondern auch zuweilen in dem ersten Kampfe obsiegen, und einen organischen Stoß hervorbringen kann, den der herrschende Theil des Ichs ganz verkennt, und seinem Endzwecke zuwider findet.

Fußnoten:

1: *) So viel nehmlich Organe überall in unsrer Willkühr stehen; als der Kopf, der Mund, beide Hände und beide Füße, ohne die ganz dunkeln Ideen mitzuzählen, die zur Bewegung, Richtung und Haltung des ganzen Körpers, selbst beim Sitzen, erforderlich sind. Die genaue Anzahl der willkührlichen Bewegungen, die zu gleicher Zeit geschehen können, läßt sich schwerlich bestimmen. Es ist erstaunlich, wie weit es gewisse Menschen durch anhaltende Uebungen hierinn gebracht haben.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 175-193.

b: Herz 1786.

c: Bloch 1774, S. 60-71.