ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Fortgesetzte Beobachtungen über einen Taub- und Stummgebohrnen

Moritz, Karl Philipp

Da ich wegen meiner fortdaurenden Kränklichkeit meine Versuche mit diesem Taubstummen, nicht, wie ich wünschte, habe fortsetzen können, so bin ich wenigstens aufmerksam auf seine Handlungen und auf die pantomimische Aeußerung seiner Gedanken gewesen, um daraus auf die Denkart eines solchen Menschen weiter zu schließen.

Ich habe schon von ihm angeführt, wie außerordentlich wahr und richtig seine Erinnerung des Vergangnen, wie stark seine Einbildungskraft, und wie gut seine Beurtheilungskraft ist: nachher aber habe ich auch zu meiner größten Verwunderung bemerkt, daß er fast alle Religionsbegriffe von Gott und Christo, und selbst religiöse und andächtige Empfindungen dabei habe.

So lange ich ihn kenne, hat er beständig einen großen Haß gegen die Juden bezeigt, den ich mir anfänglich nicht erklären konnte, bis er einmal gegen einen, der mich besuchte, erstaunlich aufgebracht war, und durch Ausbreitung der Arme, wie bei einem Cruzifix, und sehr genaue Bezeichnung der fünf Wunden Jesu, sehr deutlich ausdrückte, daß Christus von den Juden gekreuziget sey. Er bildete darauf mit den Fingern eine Figur von zwei Hör-[77]nern auf seinem Kopfe, und drückte durch Pantomime aus, indem er nach dem brennenden Feuer im Ofen wieß, das der Teufel die Juden in die Hölle führen würde.

Dieses mußte ihm natürlicher Weise von seinen Eltern oder andern Leuten in der Kindheit durch Zeichen beigebracht seyn. Aber nun wollte ich untersuchen, ob er auch wohl einen Begriff von Sünde oder Unrecht im religiösen Verstande habe, und zeichnete ihm in dieser Absicht ein Cruzifix aufs Papier, wo ich an dem Kopfe Hörner, und an Händen und Füßen Krallen anbrachte, mit welchen er sich nehmlich den Teufel vorstellte.

Sein Abscheu dagegen war unbeschreiblich. Er sahe mich starr und mit Entsetzen an, und das erste, was er that, war, daß er diese Hörner und Krallen, wovon die Dinte noch naß war, so geschwind er konnte, wieder auswischte, gleichsam, als ob er den Anblick nicht länger ertragen könnte. Indem er auf mich wieß und einen Bart bezeichnete, äusserte er, ich sey wohl selbst ein Jude, oder doch so schlimm wie ein Jude.

Er erzählte dieses sogleich mit eben den verabscheuenden Gebehrden meiner Aufwärterin wieder, und seitdem äußert er auch beständig großen Zweifel an meiner Seeligkeit. Diese bezeichnet er, indem er die Arme wie Flügel leicht emporschweben läßt, und dabei eine heitre, lächelnde Miene annimmt; da er hingegen die Verdammniß auf vorerwähnte [78]Art durch die Gestalt des Teufels, der die Seele in seine Klauen faßt, und sie in den feurigen Ofen wirft, bezeichnet.

Frage ich ihn nun durch Zeichen, ob er wohl glaube, daß ich seelig werde, so will er mich zwar nicht geradezu verdammen, aber er schüttelt doch mit dem Kopfe, und mahlt ein Cruzifix aufs Papier, wobei er alsdann die Hörner und Krallen, die ich dazu gemahlt, zwar mit der Feder über dem Papier bezeichnet, aber es nicht wagt, das Papier mit der Feder wirklich zu berühren, und nur einen Zug davon zu entwerfen. Die Miene, die er dabei macht, ist aus Verwunderung, Andacht und Abscheu zusammengesetzt.

So hält er auch den Selbstmord für eine große Sünde. Denn indem ich einmal in seiner Gegenwart mich stellte, als ob ich mir ein Messer in die Brust stoßen wollte, so suchte er mich durch sehr ernsthafte Mienen und Gebehrden davon abzuhalten, indem er mir zugleich bezeichnete, daß mich gewiß der Teufel hohlen und mit Füßen zertreten würde, sobald ich auf die Weise stürbe.

Ich stellte mich darauf, wie einer, der vor Krankheit auf dem Bette stirbt, um ihn zu fragen, was denn mit mir geschehen würde, worauf er nach seiner Art zu verstehen gab, daß ich alsdenn wohl seelig werden könnte. Dieß war noch vorher, ehe ich die Hörner und Krallen gemahlt hatte.

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Wenn er glaubt, daß ihm selber Unrecht geschieht, und er sich nicht rächen kann, so zeigt er gen Himmel, und macht mit der Hand eine Bewegung, wie der Donner allmälig herankommen, alsdann seinem Beleidiger plötzlich auf den Kopf fahren, und ihn tödten, oder wie Gott ihn mit seinem Donner todtschlagen werde. Dieß ist seine ernsthafteste Aeußerung von der Bestrafung des Unrechts: bei geringeren Veranlassungen begnügt er sich damit, daß er dem, der ihn beleidigt, ein paar Hörner vormacht, als ob er sagen wollte, der Teufel werde ihn schon früh genug hohlen.

Die erste ernsthafte Aeußerung pflegt er auch zu machen, wenn ein Stück Brodt muthwillig an die Erde geworfen, oder damit gespielt und Kugeln davon gemacht werden, welches er ebenfalls für eine der größten Sünden hält.

Bedeutet man ihn, er werde wegen seiner eignen Sünden auch verdammt werden, so giebt er zu verstehen, daß er ja nicht hören könne, und daß sich Gott deswegen sein erbarmen, und ihn seelig machen werde.

Dieß geschahe auch einmal bei der Gelegenheit, wo er mir durch Zeichen vorwarf, daß ich nicht so fleißig in die Kirche gienge, wie meine Aufwärterin, sondern während der Zeit andre Geschäfte triebe; daß er selbst aber nicht hineingienge, entschuldigte er damit, weil er nicht hören könne.

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Uebrigens sind ihm auch viele abergläubische Begriffe von Hexen u.d.gl. beigebracht. Er weiß z.B. sehr genau, wenn die Hexen in der Walpurgisnacht auf den Blocksberg reiten; und hierbei habe ich eben zuerst gefunden, daß er einen sehr richtigen Kalender im Kopfe hat: denn den Abend vor dem ersten May beschrieb er zu meiner großen Verwunderung alle Thüren und Eingänge mit Kreuzen, ohne daß ihn, wie ich gewiß weiß, irgend jemand ein Wort von der bevorstehenden Walpurgisnacht gesagt hatte.

Eben so bezeichnete er mir auch nachher, wenn es Ostern, Pfingsten, oder Himmelfahrtstag war. Es wäre doch wirklich viel, wenn er einen Tag nach dem andern zählte und sich merkte, und nun die ganze Reihe dieser vergangnen Tage im Gedächtniß behielte, wie es doch beinahe der Fall seyn muß, wenn er wirklich eine Art von Kalender im Kopfe hat. Auch kann er an dem Standpunkte der Sonne sehn, was die Uhr ist, und trift dieß gemeiniglich sehr richtig.

Wenn er bezeichnen will, daß er etwas wisse oder nicht wisse, so zeigt er mit dem Finger auf die Stirne, wobei er entweder mit dem Kopfe nickt oder schüttelt. Es sieht poßierlich aus, wenn er bedeuten will, daß einer verrückt sey, alsdann zeigt er ebenfalls mit dem Finger auf die Stirne, und macht dabei eine sonderbare verwirrte Miene.

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Einmal hatte er sich oder jemand anders ihm in den Kopf gesetzt, daß mir der König jährlich 30 Rthlr. für ihn bezahlte; bis ich ihm diese Vorstellung aus dem Kopfe brachte, glaubte er beständig Unrecht zu leiden. Seine Kleidung, Essen, nichts war ihm gut genug, und er hatte mich bei jeder Gelegenheit im Verdacht, daß ich das Königliche Geld unterschlüge, und er darüber leiden müsse.

Gegen den König bezeigt er sehr viel Respekt. Wenn man ihm allerlei Fragen thut, was er werden will, und ihn unter andern, durch einen großen Stern, den man auf die Brust zeichnet, frägt, ob er etwa König werden wolle, so macht er dabei eine Miene, wie bei einer delikaten und gefährlichen Sache, und bezeichnet, daß ihm alsdann der Kopf werde vor die Füße gelegt werden.

Als das erste Stück dieses Magazins herausgekommen war, so ich ihm seinen Nahmen in demselben, den er wegen der Aehnlichkeit der gedruckten mit den geschriebnen Buchstaben sogleich erkannte, und dieß that eine ganz außerordentliche Wirkung auf ihn. Allen, die er kannte, zeigte er mit Verwundrung und Freude seinen Nahmen in einem gedruckten Buche. Ich bezeichnete ihm nun, daß einige Seiten bloß von ihm handelten, und er fand auch hier die Buchstaben b, d, f, u.s.w., die er zuerst hatte aussprechen lernen, besonders gedruckt, dieß vermehrte noch seine Verwunderung. Als ich ihm aber am Ende des Aufsatzes die Wör-[82]ter stolz und neidisch erklärte, und bezeichnete, daß sie ebenfalls auf ihn gingen, so war nun seine Aergerlichkeit hierüber eben so groß, als vorher seine Freude darüber, daß er seinen Nahmen gedruckt sah.

Sobald das zweite Stück dieses Magazins herauskam, und er es bei mir auf dem Tische liegen sahe, blätterte er es gleich sehr sorgfältig durch, um zu sehen, ob er wiederum seinen Nahmen darinn finden würde.