ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Etwas aus der Geschichte eines Hypochondristen. a

Anonym

Da ich einmal fand, daß die Gemüthsfassung außerordentlich viel zur Gesundheit thue: so habe ich alles von mir entfernt, was ich entfernen konnte, dessen schädlicher Einfluß hierinn mir bekannt geworden ist. Die Vielwisserei und Angst des Nichtwissens ist bezähmt.

Ich gehe noch gern den Untersuchungsweg fort, wenn er auch rauh, steil, oder dunkel ist. Aber ich überlaufe mich nicht, sondern gehe Schritt vor Schritt. Bin ich einmal nicht so weit gekommen, als ich wünschte, so denke ich, auch für den morgenden Tag muß noch Beschäftigung und Ausbeute seyn. Dadurch bleibt man bei Athem und Kräften.

Das Studium des Menschen und der Natur ist gesunde Nahrung. Ueber Kindereien, worüber sich die ehrwürdige Versammlung zu ― ― und zu ― ― den Kopf zerbrochen hat, zerbreche ich den meinigen nicht, nachdem ich eingesehen habe, daß sie [103]nicht ad bene beateque vivendum b nöthig sind. Den schönen Wissenschaften, die die Einbildungskraft auf die Folter englischen Spleens spannen, oder ein paar körnichte Ideen in einem Meere von faden und süssem Gewäsch ersäufen, bin ich nicht gut. Man kann mir viel Geld bieten, um mich zum Lesen eines Trauerspiels, oder Romans, wenns nicht etwa ein Spitzbart c ist, oder auch Gedichts, zu bewegen, das nicht mit so vielen, in jedem Worte ausströmenden Vergnügen, wie ein Homer, Virgil, Horaz, Haller, Gellert, und einige wenige mehr, angefüllet ist und aufheitert.

Ein witziges und vergnügendes Epigramm, eine drollichte Romanze, ist ein wahrer stärkender Leckerbissen für mich, aber keine Idylle, keine Elegie etc. etc. Kleist war, und ist gewissermaßen noch der Dichter meiner Seele; aber ― er ist feine Nahrung sanfter hypochondrischer Laune, und in sofern nicht der beste Gesellschafter.

So aufmerksam, zum Exempel, muß der unglückliche Hypochondrist, der aus dem Schifbruch entronnen ist, über alles wachen, womit er sich nähret und beschäftiget. Ueber viele andere, hieher gehörige Dinge, kann ich mich nicht erklären, ohne den Vorhang zu weit zurückzuschlagen, hinter welchem ich meine Schwachheiten bekenne.

Im ganzen weiß ich meine Gemüthsfassung und Neigungen, in Beschäftigung, Vergnügen und Ge-[104]schmack, nicht kürzer und gewissermaßen kräftiger auszudrücken, als wenn ich sage: ich bemühe mich, ein Teutscher zu seyn. Die Teutschheit, in allen Stücken, ist ein wahres Antiseptikum gegen dieses giftige Uebel. Auch waren wir nicht so leicht hypochondrisch, so lange wir nicht von fremden Sitten zu sehr angesteckt waren.

Ich könnte diese Vergleichung weit führen: aber ich fürchte schon, hie und da zu weitläuftig gewesen zu seyn. Doch noch eins. Der Umgang mit unsers Gleichen ist bei der Wahl eines Hypochondristen bedeutend. Gleich und Gleich darf sich hier nicht sonderlich gesellen. Ich suche immer einen Zirkel zwar von denkenden, aber immer teutschfühlenden und männlich heitern Freunden zu finden.

Selbst der ungelehrte Lustigmacher ist mir lieb; und ich möchte beinah sagen, lustige, wenn schon nicht immer sokratische Scherze, sogar Plattitüden von Spas, wenn man auch zuweilen den Erfinder mit der Erfindung zu belachen nicht umhin kann, ― sind dem Hypochondristen immer besser, als die schönste Stelle aus Youngs Nachtgedanken, d oder dem M ― ―

Wo zuweilen, neben dem Glase in Züchten, unter ungenirten, doch moralisch guten Köpfen, so etwa ein asmussischer e Schwank umhergehet, und das Zwergfell nicht viel Ruhe hat, das gehört zu den Festen, die dem Erbfeind der Gelehrten ein wahrer Dorn im Auge sind. Aber einem mond-[105]süchtigen Empfindler zuzuhören, wenn er quelque chose de gracieux ou de noble vorlispelt, oder aus dem Buche hergrimmaßirt, ― dafür wollte ich jetzt lieber mit Eulenspiegeln in Gesellschaft seyn, ― mit dem alten. ―

Erläuterungen:

a: Vorlage: Anonymus 1782, S. 113-116.

b: "zum guten und glücklichen Leben". Vgl. Cicero, De Officiis, Liber II, Abschnitt 2.

c: Schummel 1779.

d: Edward Youngs Werk, The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, and Immortality, erschien in neun Teilen zwischen 1742 und 1746 und wurde mehrfach neu aufgelegt.

e: Matthias Claudius 1775.