ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Nebeneinanderstellung einzelner jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

*** Ist ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren, und meinem Urtheile nach einer der liebenswürdigsten Schüler. Er hat bei einem gehörigen Maaß von Munterkeit viel Gesetztes; aber gerade wie es sich für sein Alter schickt: er ist nicht flatterhaft, nicht zu ernsthaft. Eigentlicher Unarten scheint er kaum fähig zu sein.

Er hat ungemein viel Sanftes, viel Freundliches in seinem Aeußern, und sein Herz scheint ganz gut, ganz unverstimmt zu seyn. Lob ist ihm angenehm; aber es macht ihn so wenig stolz, daß er vielmehr die Augen dabei voll Bescheidenheit niederschlägt.

Wenn ein guter Karakter geschildert wird, so werden seine Augen lebhafter, sein ganzer Körper geräth in einige Bewegung, und er kann seine Freude darüber nicht zurückhalten. »Das ist [111]schön!« hat er in solchen Fällen schon oft mit einem Antheil und mit einer Lebhaftigkeit ausgerufen, die beide seinem Herzen zur Ehre gereichen.

Auf die Frage: warum ist das gut? — sucht er alles Schöne, alles Edle zu entwickeln, mehr, um sein Gefühl zu rechtfertigen, als zu zeigen, daß ers weiß.

Wenn ihm etwas nicht gefällt: so wird er ernster, seine Augen sind weniger lebhaft, und seine Antworten kurz.

Sein Gang ist bedächtlich, sein Ton angenehm, etwas schnell und mehrentheils voll Ausdruck.

Er hat eine wahre, offne Miene, und scheint überall das Nützliche dem blos Angenehmen vorzuziehen.

Er ist reinlich und ordentlich, ohne eines zu übertreiben; gesellig, ohne unruhig, und außer sich zu sein. Kleine Neckereien seiner Mitschüler stören ihn selten in seiner Aufmerksamkeit; er übersieht sie, oder weiß sie gemeiniglich durch eine Miene, oder durch ein Wort zu unterdrücken.

Dabei lieben ihn alle seine Mitschüler. Sie scheinen es zu wissen, daß er Vorzüge hat, und daß er Vorzüge verdient, ohne daß sie ihn beneideten, welches fast bei ihm allein der Fall ist.

Sein Kopf ist vortreflich, und sein Fleiß und innerer Trieb ausdauernd und rühmlich. Wenn er in seiner weitern Ausbildung und Erziehung nicht verwahrloset wird, wenn er die Verführungen, [112]denen ein junger Mensch freilich so häufig ausgesetzt ist, glücklich vermeidet: so verspricht sein Kopf und sein Herz überaus viel. Er kann es in den Wissenschaften und in dem Gebiete der Wahrheit bis zu einer ansehnlichen Höhe bringen.

Dabei werden seine Freunde in ihm einen edeldenkenden Freund; seine Mitbrüder einen offnen, gefälligen, bescheidnen Gesellschafter, einen frohen Theilnehmer ihres Glücks und bereitwilligen und thätigen Freund im Unglück finden. Viel solche Jünglinge, und dann Männer, wie sie werden könnten: — wahrlich ein entzückender Gedanke für Menschenfreunde und für Beobachter der Menschen!


*** Ungefähr acht bis neun Jahr alt, gehört zu den Kindern, denen man beim ersten Anblick gut seyn muß. Völlig unschuldig, genießt er die Vorrechte der ersten Jugend: froh zu seyn.

Seine Miene verkündigt durchgehends diese herrschende Neigung zur Freude, die aber nicht ausgelassen ist; und er scheint sich darauf nicht wenig zu gute zu thun.

Zuweilen will ein kluger Ernst unter der kindischen Zufriedenheit hervorkommen, und dann möchte sich vielleicht auch die mürrische Miene des verdrießlichen Alten über sein Lächeln aufheitern. [113]Der Jugendfreund wird gefesselt, und behält sie gewiß lange Zeit in seiner Seele gegenwärtig.

Alles ist ihm freilich noch im Grunde Spiel, und er hat auch immer etwas, womit er sich beschäftigt. Ein Blick und ein Wort schränkt ihn zwar ein, aber nicht lange. Weiß man irgend eine Sache ihm etwas wichtig zu machen, so heftet sich sein kleines Nachdenken daran, so faßt ers schnell, und scheint sich darüber zu wundern, wie so etwas möglich ist.

Man darf ihm nur einen kleinen Vorzug vor andern geben, so zeigt sich sein Ehrtrieb in allen Zügen des Gesichts, und besonders durch ein heitres, reines Lächeln.

Ich sagte einmal zu ihm, daß er besser plaudern könne, als sein kleiner Nachbar, der eine Stelle über ihn hat, und daß er daher verdiene, über ihm zu sitzen; allein er hatte keine Lust dazu, blickte mich mit schamhafter Freundlichkeit an, und verstand, was ich sagen wollte.

Verweise müssen, und dürfen auch nur sehr sparsam seyn, denn sie schlagen ihn zu sehr nieder, als daß sie die gehörige Wirkung thun sollten. Er ist lebhaft und feurig, wenn er bei einer Sache interessirt ist.

Einmal hatte sein Nebenschüler ihn beschuldigt, daß er geplaudert habe. Nach den geendigten [114]Schulstunden setzt er ihn darüber zur Rede und schlägt ihm auf die Backe. Aber gleich reut es ihn, und, sicher mehr, weil es ihm leid ist, als weil er Strafe befürchtet, giebt er für den kleinen Schmerz so viel Geschenke, als er von seinen Spielsachen bei sich hatte.

Uebrigens hält er auf Ordnung, und scheint bei einem guten Kopf viel Fleiß und Trieb zu bekommen. Es kömmt darauf an, daß seine Aufmerksamkeit mehr geschärft, auf mehr Gegenstände gerichtet wird: so wird er immer im Fache der Gelehrsamkeit sehr brauchbar seyn können.

Sein Ehrtrieb würde bei gehöriger Einschränkung rühmlich und nützlich seyn; aber ohne weise Mäßigung des Lobes bei ihm, ohne zu rechter Zeit angebrachten Tadel könnte dieser Trieb, der bei ihm nicht klein ist, einen stolzen, rechthaberischen und heftigen Menschen verkündigen.

Seine kleine, leidenschaftliche Hitze wird ihn wahrscheinlich manche zu rasche That bereuen lassen; aber seine Güte des Herzens wird hoffentlich verursachen, daß er nicht lange fehlt, und daß er vielleicht überall einen festen und sanften Karakter bekommt.


Es wäre wünschenswerth, wenn man lauter Betrachtungen, wie die vorhergehenden bei einer [115]Menge von Kindern und Knaben anstellen könnte; aber man muß die Menschen überhaupt, und auch schon die jüngern Menschen nehmen, wie sie sind.

*** ist ungefähr funfzehn bis sechzehn Jahr alt. Seine Anlagen sind durchaus gemein und unbedeutend. Sein Fleiß ist seinen Anlagen völlig gleich, und sein Herz scheint ganz ohne Gefühl zu seyn.

Seine Miene verspricht einen Menschen, der über alles weg ist, den weder Freude noch Schmerz; aber auch weder Gutes noch Böses rührt.

Er scheint gar kein Interesse für irgend eine Sache zu haben, und es ist ihm völlig einerlei, ob er auf eine Frage Antwort geben kann, oder nicht. Völlig gleichgültig gegen Lob und Tadel ändert er auch da keine Miene. Das erste ist ihm von keiner Erheblichkeit, ist für ihn keine Aufmunterung; das letzte hat für ihn kein Gewicht, ist für ihn keine Schande. Und so läßt er freilich wenig oder gar keine Hofnung von sich machen.

Sein Gang, seine ganze Stellung ist schleppend, und einerlei da sich seine Seele mit nichts Reellen und Wichtigen beschäftigt: so ist er immer unruhig, er ist es aber mehr insgeheim, als öffentlich.

Alles ist bei ihm Nachäffung und Billigung dessen, was er bei andern sieht. Tücke und Bos-[116]heit sind wohl nicht in seiner Seele; aber wie gesagt, auch schwerlich eine besondre Anlage zu irgend einer Tugend. Sich anstrengen und aufmerksam seyn — kann er durchaus nicht.

Seine ganze Erziehung scheint nicht sonderlich zu seyn, und er wird in seinem Leben schwerlich etwas anders, als einer der simpelsten Bürger des Staats, und diesem freilich nicht schädlich, aber auch nicht sehr nützlich werden.

Seidel.