Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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D..., ein offener Kopf, sanguinisch cholerischen Temperaments, studierte die Rechte, und legte sich dabei stark auf die Philosophie, die er noch bei dem seeligen Wolf hörte, von welchem er immer ein grosser Anhänger blieb. Nach geendigten akademischen Jahren trieb er die Advokatur. Seine Geschicklichkeit erwarb ihm Klienten, und sein munteres aufgewecktes Wesen Freunde. So verlebte er verschiedene Jahre in stolzer Ruhe, war zufrieden mit sich und mit der Welt, war immer in dem lustigen Zirkel seiner Freunde der aufgeräumteste. Einige kommissarische Geschäfte machten ihn dem Landesherrn bekannt, und er erhielt den [8]Ruf als Rath in ein Kollegium, seine Freunde, die ihn ungerne verloren, riethen ihm, dem Rufe nicht zu folgen, doch Ehrgeitz, der Grundzug seines Karakters, siegte über ihre Vorstellungen.
Bisher hatte er immer ein freyes unabhängiges Leben geführt, jetzt kam er in ein Verhältniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kränkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hören, zuletzt überredete er sich, daß die Widersprüche nur aus Feindschaft kämen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Wäre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so würden die Folgen für ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schlüsse auf Schlüsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre äusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden könnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, für Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verräther und Ausspäher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle für Feinde hielt. Mit der äussersten Unruhe ging er ins Kollegium, überdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht [9]war, glaubte jedesmal neue Ueberzeugung für seine Meinung erhalten zu haben. Endlich ward seine Unruhe zu groß, die Verfolgungen schienen ihm immer stärker zu werden, und er bat um seine Entlassung. Vergebens versicherte ihn der Landesherr seiner Gnade, seiner Zufriedenheit, that ihm die gnädigsten Anerbietungen, alles war vergebens, er hielt alles nur für Fallstricke. Er erhielt seinen Abschied, verließ den Ort, und ward nicht ruhiger. Die Idee von den Verfolgungen seiner Feinde quälte ihn unaufhörlich, täglich glaubte er festgenommen zu werden, ja selbst auf seinen Reisen in den entfernsten Ländern, glaubte er von der Rache seiner Feinde verfolgt zu seyn. Er kam wieder zurück, weil er nirgends Ruhe fand, schloß sich in seine Stube ein, sprach keinen als seine Frau und seine Kinder, und quälte sich unaufhörlich über die von ihm unschuldig erlittene Nachstellung seiner Feinde.
Jetzt ist er siebzig Jahr alt, zwanzig Jahr schon hat er dieses Leben geführt, hat so oft sich schon in seinen Muthmassungen getäuscht gefunden, aber nichts kann ihm die Ruhe wieder geben, die ihm das sich selbst gemachte Bild der feindlichen Rache geraubt hat.
Da er nun lange schon ein geschäftloses Leben geführt hatte, so ist zwar der erste Gedanke, daß man ihn wegen Untreue in seinen Geschäften bei dem Landesherrn verdächtig machen wollte, verschwunden, allein nun glaubt er, daß man seinen [10]Lebenswandel nachspüre. Es ist unglaublich, auf was für Ideen dieser Gedanke den Mann gebracht hat, und wie er, der sonst seinen gesunden Verstand hat, nichts weniger als verrückt ist, für Dinge sich einbildet, und wie er jedem Dinge, auch dem allerungereimtesten, einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben weiß, welches die Stärke seiner Denkkraft zeigt, und die Fertigkeit seiner Seele, Schlußfolgen zu ziehen.