ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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V.

<Die letzten Stunden des seeligen Herrn Professors Johann Georg Zierlein.> a

Moritz, Karl Philipp

Dasjenige, was die augenscheinliche Zerstörung des Körpers mit Gleichmuth ansehen, und bis auf den letzten Augenblick bemerken kann, muß nothwendig etwas anders, als der Körper selber, muß ein höheres, sich dem Staube entschwingendes Wesen seyn. In dieser beruhigenden Rücksicht denke ich immer gern an die letzten Stunden meines unvergeßlichen Freundes, des seeligen Herrn Professors

Zierlein.

Mit Wehmuth schreib' ich seinen Nahmen nieder. — Denn vor zwei Monathen dachte ich es noch nicht, daß ich jetzt von seinem Tode reden würde. Wenn aber die letzten Stunden solcher Personen, welche sich in ihrem ganzen Leben durch redlichen Wahrheits- und Tugendeifer vorzüglich ausgezeichnet haben, merkwürdig sind, so sind es gewiß die seinigen.

Ich werde davon erzählen, was ich aus dem Munde seines Bruders des Herrn Kandidat Zierlein, jetzigen Lehrers am hiesigen großen Friedrichs-Hospital, der bis an den letzten Augenblick bei ihm war, mit Gewißheit weiß, wenn ich vorher noch das Nöthige von seinen Lebensumständen vorangeschickt habe.

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Er ward am 10ten November im Jahr 1746 zu Jüchsen, einem Dorfe im Meiningischen, gebohren. Sein Vater, welcher daselbst Cantor war, unterrichtete ihn selbst so lange in Sprachen und Wissenschaften, bis er die lateinische Schule in Meiningen besuchen konnte, wo er fünf Jahre zubrachte, und von da nach der Universität Halle ging.

Nachdem er hier vier Jahre zugebracht, wovon er die erste Hälfte bloß zum Zuhören, die andre aber auch, als Lehrer in den obern Klassen der lateinischen Schule des Glauchischen Waisenhauses, zum Unterricht angewandt hatte, so ward er im vierundzwanzigsten Jahre seines Alters zum Rektor der Schule in Prenzlow erwählt, eben da er im Begriffe war in Halle Magister zu werden, und sich der Universität zu widmen.

Als er fünf Jahre lang das Rektorat zu Prenzlow mit ungemeinem Eifer und Treue verwaltet, die Schule in innere und äußere Aufnahme gebracht, und sich den Ruhm eines vorzüglichen Schullehrers erworben hatte, fühlte er, daß sein Körper nicht mehr fähig war seiner Seelenthätigkeit das Gleichgewicht zu halten, und von Tage zu Tage schwächer wurde. Er sahe sich daher genöthiget, sein Rektorat mit einer Landpredigerstelle zu vertauschen, welche er auch in dem uckermärkischen Flecken Gerswalde erhielt.

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So wie er aber hier anfing, sich wieder von seiner Schwachheit zu erhohlen, ward auch der Wirkungskreis, in welchen er nun versetzt war, für ihn zu klein, und sein Verlangen wiederum an einer höhern Schulanstalt nützlich zu werden, von Tage zu Tage größer. Er erreichte seinen Wunsch, und ward im Jahr 1778 als Professor der griechischen und hebräischen Sprache, und der christlichen Lehre an das Berlinische Gymnasium beruffen, nachdem er viertehalb Jahr in Gerswalde Prediger gewesen, und zweiunddreißig Jahr alt war.

Sein Eifer und seine Treue, womit er seinem hiesigen Amte, bis an seinen Tod, vorgestanden hat, sind allgemein bekannt. Er ließ sich das Beste der Anstalt, woran er arbeitete, so sehr angelegen seyn, daß er würklich die Sorge für seine Gesundheit oft darüber vergaß, und daher immer einen schwächlichen Körper behielt, der ihn endlich zu einem so frühen Tode reif machte.

Wir waren, besonders in den letztern Jahren, vertraute Freunde geworden, und sprachen bei unsern Spatziergängen oft über unsre Bestimmung, über die Seele, über Tod und Unsterblichkeit. Dieß war auch noch unter andern der Gegenstand unsrer Unterredung als wir neun Tage vor seinem Tode, des Sontags, an einem heitern Morgen, zum letztenmal nach Strahlau spatzieren gingen.

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Es war am Ende des August. Das Gras auf der Wiese war abgemäht, und von dem Heu stieg uns ein angenehmer Duft entgegen. Die ganze Natur lächelte. Wir waren außerordentlich vergnügt, und machten Entwürfe auf die Zukunft. Kein Gedanke dran, daß dieß unser letzter Spatziergang seyn sollte.

Er ward von der rothen Ruhr befallen, und den andern Tag schon lag er nieder. Als ich ihn im Anfange seiner Krankheit besuchte, äußerte er, daß er schwerlich glaubte, durchzukommen, hatte aber demohngeachtet immer noch einige Hofnung, bis an den folgenden Sonntag, da er des Morgens früh zu seinem Bruder mit vielem Nachdruck und Gewißheit sagte: ich sterbe! Wie dieser darüber in die äußerste Wehmuth geräth, spricht er ihm Trost ein, und versichert ihn zu wiederhohltenmalen, er werde gewiß bald, und ehe er sich's versehen würde, eine sehr gute Versorgung erhalten: welches auch sogleich nach seinem Tode eingetroffen ist, indem man dem Herrn Candidat Zierlein, noch ehe sein Bruder begraben ward, eine einträgliche Pfarstelle auf dem Lande übertrug.

Nachdem der seelige diesen Vormittag noch mit vieler Fassung verschiednes gesprochen hatte, bat er seinen Bruder, ihm einige Psalmen im hebräischen Grundtext vorzulesen, und sagte unter andern die [60]Worte griechisch: ich begehre aufgelöset und bei Christo zu seyn. Endlich unterschrieb er noch mit zitternder Hand einen letzten Willen, worinn er seinem Bruder seine Bücher vermachte.

Den Sonntagnachmittag besuchten ihn verschiedne Freunde, denen er aber bloß die Hände drücken konnte, ohne ein Wort zu reden. Gegen die Nacht schien er sich etwas wieder zu erhohlen, und bat seinen Bruder bei ihm zu wachen. Dieser mußte ihm wiederum im hebräischen Grundtext zuerst aus den Sprüchen Salomonis und hernach aus den Psalmen vorlesen. Bald darauf aber wünschte er einige Psalmen in Luthers deutscher Uebersetzung zu hören, und da sein Bruder einige nicht zum Zweck dienende Stellen, während dem Vorlesen, ausließ, so merkte er dieses sogleich, und bezeigte ihm darüber seinen Beifall.

Da es gegen Mitternacht hinkam, bat er seinen Bruder, er möchte nun aufhören zu lesen, und sich ein wenig mit ihm unterreden, worauf er ihm verschiedne Fragen, in Absicht des Daseyns und der Fortdauer der menschlichen Seele, that, mehr als ob er ihn prüfen, als sich selbst erst überzeugen wollte, er empfahl ihm hiebei, Kants Schriften fleißig zu lesen.

Aber, fuhr er fort, wie willst Du mir das auflösen, daß ich jetzt sterben muß, da ich kaum [61]sechsunddreißig Jahr alt bin, und hier das Ziel meiner Thätigkeit noch lange nicht erreicht zu haben scheine? — Sein Bruder antwortete ihm: da Du in Prenzlow fünf Jahre als Rektor nützlich gewesen warest, und nun wegen der Schwächlichkeit Deines Körpers Dein dortiger nützlicher Einfluß aufgehört hatte, so hattest Du auch da Dein Ziel erreicht, und Gott fügte es so, daß Du in Gerswalde Prediger wurdest, wo sich Deine Kräfte wieder erhohlen konnten. Als aufs neue viertehalb Jahr um waren, so hattest Du auch dort wieder das Ziel Deiner Erhohlung erreicht, und Gott setzte Dich nun wieder in einen Wirkungskreis, wozu Deine Kräfte reif geworden waren. Aus dieser zweimaligen weisen göttlichen Fügung kannst Du nun mit vieler Gewißheit schließen, daß Du auch das drittemal Dein jetziges Ziel erreicht habest, und Gott Dich nun wieder in einen ganz andern Wirkungskreis versetzen werde.

Bruder! sagte der seelige, nachdem er ausgeredet hatte, Bruder! und drückte ihm voll Inbrunst die Hände, da bist Du auf dem rechten Wege der Philosophie, o dabei bleibe ja beständig! Auf diesen Faden war ich selbst noch nicht einmal so gefallen. Gott wird es Dich gewiß gut gehen lassen, und Du wirst in Deinem Berufe gewiß viel, viel Nutzen stiften! Hiebei rollten ihm Thränen der Freude und Wehmuth die Wangen herab.

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Nach einiger Zeit sagte er: nun Bruder, geh' zu Bette, ich will auch ein wenig schlafen! — Sein Bruder mußte seinem Bitten nachgeben, ging zu Hause, und legte sich ein paar Stunden nieder. Die noch lebende Mutter des seeligen, welche er in seinen drei Aemtern beständig bei sich gehabt, und sie immer auf das zärtlichste geliebt hat, blieb noch einen Theil der Nacht bei ihm, und er tröstete sie ebenfalls über seinen Verlust, und rühmte ihr vieles von seinem Bruder, der nun künftig ihre Stütze seyn, und gewiß bald und unversehens eine gute Versorgung erhalten würde: auch wiederhohlte er ihr die Worte desselben, worüber er sich kurz vorher so gefreuet hatte.

Bald nachher erheiterte sich auf einmal seine ganze Miene. Ei wie schön! sagte er lächelnd, o das ist was Herrliches! solch einen Gesang habe ich noch nie gehört! wenn doch das mein Bruder hören könnte! —

Er schlummerte ein wenig. — Den Montag Morgen kam sein Bruder zu ihm, und fand ihn im Bette aufgerichtet sitzen, und eine Tasse Kaffee trinken, worinn er Zwieback tunkte und aß. Gott sey Dank, rief sein Bruder, daß ich Dich besser finde! Ja, antwortete er, mir ist besser! und als der Arzt kam, fragte er ihn, ob er wohl etwas Wein trinken dürfte, und wie viele Gläser? zugleich bat [63]er seinen Bruder, ihm etwas Wein zu verschaffen: dieser eilte, um selbst den allerbesten zu hohlen. Man gab ihm erst einen Löffel voll zu kosten; allein er wiederte ihn auf der Zunge, und er konnte keinen Tropfen davon trinken.

Der Arzt zog darauf den Bruder bei Seite, und sagte ihm, daß nun eben, da sich der Kranke so augenscheinlich erhohlt zu haben schiene, gar keine Hoffnung mehr übrig, und der kalte Brand in den Eingeweiden sey. Dieser faßte sich nun so viel wie möglich, um die Beklemmung seines Herzens nicht merken zu lassen, und blieb bei dem Bette seines sterbenden Bruders, dessen schon kalt werdende Hand er in der seinigen noch zu erwärmen suchte.

Nun beklagte er sich stark über Frost an den Füssen. Sein Bruder rieb sie ihm eine Weile, aber sie erkälteten ihm zwischen den Händen. Der Kranke bat darauf seinen Bruder, ihn aufzuheben, dieser konnte es aber nicht allein mehr, und sagte: Du bist mir zu schwer, Bruder, ich muß jemanden zu Hülfe rufen. Worauf er antwortete: bald werde ich noch schwerer werden.

Gegen zehn Uhr hörte er auf zu sprechen, drückte aber immer noch seines Bruders Hand, und sahe ihn heiter und lächelnd an. Machte auch Bewegungen mit dem Haupte, als ob er [64]andächtig im Gebete mit Gott redete. Als sein Bruder ihn einmal verließ, sah er sich etwas unwillig nach ihm um, und schien beruhigt zu seyn, da er wieder kam.

Kurz vor zwölf Uhr streckte er noch einmal seine Hand aus, reichte sie seinem Bruder, drückte ihm die seinige zum letztenmale, und sagte ihm mit seinem sterbenden Blicke Lebewohl. Darauf zog er die Füße nach sich, das Deckbette fest über sich, und sagte auf einmal, nachdem er schon seit zwei Stunden nicht mehr gesprochen hatte, wie vom entsetzlichsten Frost erschüttert: Hu, wie kalt! Alsdann zeigte er mit der Hand und mit einem bedeutenden Nicken erstlich auf die Hüfte, dann auf die Seite, dann etwas höher, als ob er bezeichnen wollte, wie der Tod allmälig heraufrükte. Und endlich fuhr er mit heftiger Gewalt mit der Hand aufs Herz, und verschied ohne weitere Zuckung, um zwölf Uhr, sanft und mit lächelnder Miene.

Erläuterungen:

a: Vgl. zu diesem Beitrag Kosenina 2009, S. 93-98.