ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VII.

Hat die Seele ein Vermögen, künftige Dinge vorher zu sehen?

Knape, Christoph

Ich meines Theils zweifle sehr daran, vielleicht deswegen, weil ich es, in so mancherlei Rücksicht, nicht wünsche. Allein es kömmt freilich hiebei auf Thatsachen an. Und wer weiß, ob es nicht, bisher noch unbekannte und ungenutzte Seelenfähigkeiten geben mag; die eben dadurch ihre allgemeine Wirksamkeit verloren haben, weil sie zu wenig gebraucht worden sind; so wie unsre linke Hand am Körper, bloß wegen Mangel des Gebrauchs, schwächer und unbehülflicher ist, als die rechte. In dieser unpartheiischen Rücksicht also sollen mir wirkliche Fakta sehr willkommen seyn, welche ein solches Vorhersehungsvermögen der Seelen zu be-[71]weisen scheinen, wozu auch folgender Aufsatz gehört, der mir von dem Herrn D. Knape gütigst mitgetheilt ist. <M.>

Berlin den 27sten Oktober 1782.

Sie wünschen also, daß ich Ihnen dasjenige schriftlich mittheilen soll, was ich Ihnen neulich als einen Beweis von dem Vorhersehungsvermögen der Seele mündlich erzählt habe. Da meine Erfahrungen auf Träumen beruhen, so muß ich freilich wohl befürchten, daß manche mich für einen phantastischen Träumer halten werden; allein wenn ich zu der Erreichung Ihres allerdings sehr nützlichen Endzwecks etwas beitragen kann, so liegt nichts daran, man denke, was man wolle! Genug, ich bin Bürge für die Wahrheit und Zuverlässigkeit desjenigen, was ich Ihnen sogleich umständlicher erzählen will.

Im Jahre 1768, als ich in der hiesigen Hofapotheke die Apothekerkunst erlernte, hatte ich in der 72sten Ziehung der Königl. Preuß. Zahlenlotterie, a die am 30sten May desselben Jahres geschahe, auf die Zahlen 22 und 60 gesetzet.

In der Nacht vor dem Tage der Ziehung träumte mir, daß des Mittags gegen zwölf Uhr, als zu welcher Zeit gewöhnlich die Lotterie gezogen zu werden pflegt, der Hofapotheker zu mir herunter schickte, und mir sagen ließ, daß ich zu ihm her-[72]aufkommen sollte; als ich heraufkam, sagte er zu mir, ich sollte sogleich jenseits des Schlosses zu dem Auktionskommissarius Herrn Mylius hingehen, und ihn fragen, ob er die ihm kommittirten Bücher in der Auktion erstanden habe? sollte aber ja bald wieder kommen, weil er auf die Antwort warte.

Das ist vortreflich, dacht' ich bei mir selbst, jetzt wird gerade die Lotterie gezogen, da will ich sogleich, sobald ich meinen Auftrag ausgerichtet habe, geschwind nach dem Generallotterieamte hinlaufen und sehn, ob meine Nummern herausgekommen*), 1 wenn ich nur hurtig zugehe, so komme ich doch noch früh genug wieder zu Hause.

Ich ging also sogleich meinem erhaltnen Befehl zufolge zu dem Auktionskommissarius Herrn Mylius, bestellete meinen Auftrag, und nach erhaltener Antwort lief ich eiligst nach dem Generallotterieamte an der Jägerbrücke. Ich fand hier die gewöhnliche Zurüstung, und eine ansehnliche Menge Zuschauer. Man hatte schon angefangen die Nummern in das Glücksrad hineinzuzählen, und in dem Augenblick, als ich ankam, wurde Nummer 60 vorgezeiget und ausgerufen. O, dacht' ich, das ist eine gute Vorbedeutung, daß gerade eine [73]von meinen Nummern ausgerufen wird, indem ich dazu komme.

Da ich nicht lange Zeit hatte, so wünschte ich nun nichts mehr, als daß man mit dem Hereinzählen, der noch übrigen Nummern, soviel als möglich eilen möchte. Sie wurden endlich alle hereingezählet, und nun sahe ich dem Waisenknaben die Augen verbinden, und nachher auf die gewöhnliche Art die Nummern ziehen.

Als die erste gezogene Zahl vorgezeiget und ausgerufen wurde, so war es Nummer 22. Schon wieder eine gute Vorbedeutung, dacht' ich; nun wird 60 gewiß auch herauskommen! Es wurde die zweite Nummer gezogen, vorgezeiget und ausgerufen, und siehe da! es war Nummer 60.

Nun mögen sie meinetwegen ziehen was sie wollen, sagte ich zu jemand, der neben mir stand, meine Nummern sind heraus, ich habe nicht länger Zeit, indem drehete ich mich um, und lief spornstreichs zu Hause. —

Hier erwachte ich, und war mir meines Traums so deutlich bewußt, als ich ihn jetzt erzählt habe. Wäre mir nicht der so sehr natürliche Zusammenhang und die ganz besondere Deutlichkeit auffallend gewesen, so würde ich ihn [74]für nichts anders als einen Traum im gewöhnlichen Verstande gehalten haben: diese aber machten mich aufmerksam, und reitzten meine Neugierde so sehr, daß ich kaum den Mittag erwarten konnte.

Endlich schlug es Eilf, aber noch war kein Anschein zur Erfüllung meines Traumes. Es schlug ein Viertel, es schlug halb Zwölf, und auch noch jetzt war keine Wahrscheinlichkeit dazu vorhanden. Schon hatte ich alle Hofnung aufgegeben, als unvermuthet einer von den Arbeitsleuten zu mir kam, und mir sagte, ich sollte sogleich zu dem Herrn Hofapotheker heraufkommen.

Ich ging voller Erwartung herauf, und hörte von ihm mit der größten Verwunderung, daß ich sogleich zu dem Auktionskommissarius Herrn Mylius jenseits des Schlosses hingehen und ihn fragen sollte, ob er die ihm kommittirten Bücher in der Auktion erstanden habe? zugleich sagte er mir aber auch dabei, ich sollte ja bald wiederkommen, weil er auf die Antwort warte.

Wer war wohl geschwinder als ich? Ich ging eiligst zu dem Auktionsskommisarius Herrn Mylius, bestellete meinen Auftrag, und nach erhaltener Antwort lief ich, so geschwind ich konnte, nach dem Generallotterieamte an der Jägerbrücke. Und voller Erstaunen sahe ich, daß Nummer 60 in dem [75]Augenblick als ich herankam, vorgezeigt und ausgerufen wurde.

Da mein Traum bis jetzt so pünktlich eingetroffen war, so wollte ich doch nun auch gerne das Ende abwarten, so wenig ich auch Zeit dazu hatte, ich wünschte daher nichts mehr, als daß man mit dem Hereinzählen der Nummern eilen möchte. Endlich wurde man damit fertig. Es wurden dem Waisenknaben, wie gewöhnlich, die Augen verbunden, und nun kann man sich leicht die Begierde vorstellen, mit welcher ich die letzte Erfüllung meines Traumes erwartete.

Die erste Nummer wurde endlich gezogen und ausgerufen, und siehe da! es war — Nummer 22. Es wurde die zweite gezogen, und auch diese war, so wie mir geträumt hatte, Nummer 60.

Jetzt fiel's mir ein, daß ich mich schon länger verweilet hatte, als es mir mein Auftrag erlaubte, ich bat also die mir im Gedränge zunächststehenden, mich durch zu lassen. Ei, antwortete mir einer, wollen Sie nicht warten bis die Nummern alle heraus sind? nein, sagte ich, ich habe nicht länger Zeit, meine Nummern sind heraus, und nun mögen sie meinetwegen ziehn was sie wollen, indem wandte ich mich um, drängte mich durch und lief eiligst und freudig zu Hause, und so wurde mein [76]ganzer Traum nicht nur dem wesentlichen Verlauf, sondern sogar den Worten nach erfüllet.

Vielleicht ist's Ihnen nicht unangenehm, wenn ich Ihnen noch ein paar Erfahrungen von ähnlichem Inhalte erzähle.

Am 18ten August 1776 träumte mir gegen Morgen, als wäre ich in der Gegend am Schlesischen Thore spatzieren gegangen, und wollte von da quer über das hier befindliche Feld durch die Riecksdorfer- oder Dresdenerstraße zu Hause gehen.

Ich fand das Feld voller Stoppeln, und es schien, als wenn das Korn, was hier gestanden hatte, nicht längst abgemähet und eingeerndtet war*). 2 Als ich in die Riecksdorferstraße hereinkam, so ward ich gewahr, daß sich vor einem der ersten Häuser einige Menschen versammelt hatten, die nach dem Hause hinsahen. Ich vermuthete also, daß in oder vor dem Hause irgend eine Neuigkeit vorgefallen seyn würde, und aus dieser Ursache frug ich, als ich herankam, den ersten, der mir aufstieß, was giebts denn hier? I, antwortete er ganz gleichgültig, die Lotterie ist gezogen, so! sagte ich, ist sie schon gezogen? was sind denn für Nummern heraus? I, gab er zur Antwort, da stehn [77]sie, und zugleich zeigte er mit dem Finger nach der Thüre eines im Hause befindlichen Kramladens, den ich jetzt zuerst gewahr wurde.

Ich sahe die Thüre an und fand, daß die Nummern mit Kreide an einer schwarzen Leiste der Thüre angeschrieben waren, so wie es wirklich nicht selten zu geschehen pflegt*). 3

Zu meinem größten Verdruß ward ich aber gewahr, daß nur eine einzige Nummer von denen, die ich gesetzt hatte, heraus war: ich übersahe die Nummern noch einmal, um sie nicht zu vergessen, und ging darauf verdrießlich nach Hause. Ehe ich aber noch zu Hause kam, erwacht ich. —

Ich ward, als ich erwachte, durch ein zufälliges Geräusch verhindert, mich meines Traums sogleich zu erinnern, kurz nachher aber fiel er mir wieder bei, und nachdem ich etwas nachgedacht hatte, erinnnerte ich mich dessen zwar so deutlich, als ich ihn jetzt erzählt habe, jedoch fiel es mir schwer, mich auf alle fünf Nummern ganz genau zu besinnen.

[78]

Daß Nummer 42 die erste, und Nummer 21 die zweite von den Nummern war, die ich angeschrieben gesehen hatte, dieß wußte ich mich ganz gewiß zu erinnern, daß die dritte, die hierauf folgte, eine 6 gewesen war, dieß wußte ich auch noch ganz gewiß, nur wußte ich nicht zuverläßig, ob die Null, die ich in dieser Gegend gesehen hatte, zur 6 oder zu der darauf folgenden Nummer 4 gehörte, die ich mich auch noch sehr deutlich gesehen zu haben erinnerte, und da ich dies nicht gewiß wußte, so konnte es sowohl 6 und 4 allein, als auch 60 und 40 gewesen seyn.

Auf die fünfte Nummer konnte ich mich am allerwenigsten mit Zuverlässigkeit besinnen, so viel wußte ich zwar gewiß, daß es eine aus den funfzigern gewesen war, welche aber, konnte ich nicht mit Gewißheit bestimmen. Nummer 21 hatte ich wirklich schon gesetzt, und dieß war diejenige, die, meinem Traume nach, von meinen Nummern herausgekommen seyn sollte.

So merkwürdig mir auch übrigens mein Traum zu seyn schien, so machte mich doch dies mißtrauisch, daß ich mich nicht ganz deutlich auf alle fünf Nummern besinnen konnte. Ob ich gleich ganz gewiß wußte, daß unter den sechzehn angeführten Nummern, nämlich den zehn Funfzigern und den sechs vorher genannten, alle fünfe waren, [79]die ich im Traume gesehen hatte, und obgleich noch Zeit genug zum Einsetzen war, so wollte es mich doch, des beträchtlichen Einsatzes halber, nicht behagen, sechzehn Nummern miteinander verbunden zu setzen: ich ließ es also bei einigen Amben und Ternen bewenden, und hatte noch dazu, wie der Erfolg lehrte, den Verdruß, eine schlechte Verbindung der Zahlen gewählt zu haben.

Am dritten Tage nachher, den 21sten August 1776, ward die Lotterie gezogen, es war die 215te Ziehung, und es kamen richtig alle fünf Nummern heraus, die ich im Traume gesehen hatte, nämlich 60. 4. 21. 52. 42., und nun erinnerte ich mich auch ganz deutlich, daß Nummer 52 die fünfte von denjenigen war, die ich im Traume gesehen hatte, und auf die ich mich bisher nicht mit zuverlässiger Gewißheit besinnen konnte.

Statt einigen tausend Thalern, die ich hätte gewinnen können, mußte ich mich jetzt mit einigen zwanzigen abspeisen lassen.

Nun also noch die dritte und vorjetzt letzte Erfahrung.

Am 21sten September 1777 träumte mir, daß mich ein guter Freund besuchte, und nachdem das Gespräch auf die Lotterie gekommen war, aus meinem kleinen Glücksrade, welches ich damals hatte, Nummern zu ziehn verlangte.

[80]

Er zog verschiedene, in der Absicht, sie zu besetzen. Als er aufgehöret hatte zu ziehn, so nahm ich alle Nummern aus dem Glücksrade heraus, legte sie vor mir auf dem Tisch hin, und sagte zu ihm, die Nummer, die ich jetzt greifen werde, kömmt in der künftigen Ziehung ganz gewiß heraus; indem griff ich unter den ganzen Haufen eine Nummer heraus, wickelte sie auseinander und besahe sie: es war Nummer 25 sehr deutlich. Ich wollte sie wieder zusammen wickeln und in die Kapsel stecken, aber in dem Augenblick erwachte ich.

Da ich mir meines Traumes so deutlich bewußt war, als ich ihn jetzt erzählt habe, so hatte ich viel Zutrauen zu dieser Nummer, und besetzte sie daher auch so, daß ich mit dem Gewinnst zufrieden gewesen seyn würde: aber zwei Stunden zuvor, ehe die Lotterie gezogen wurde, erhielt ich von dem Lotterieeinnehmer meinen Einsatz zurück, mit der Nachricht, daß meine Nummer gänzlich gestrichen sey. Die Lotterie wurde am 24sten September gezogen, und meine Nummer kam richtig heraus*). 4

Ob ich gleich sehr gerne zugebe und sehr wohl weiß, daß viele, und vielleicht die mehresten Träume, aus solchen Ursachen entstehen, die bloß im [81]Körper gegründet sind, und daher auch von keiner weitern Bedeutung seyn können; so glaube ich doch aus vielfältiger Erfahrung hinreichend überzeugt zu seyn, daß es nicht selten Träume giebt, an deren Entstehung und Daseyn der Körper, als Körper, keinen Theil hat, und zu diesen gehören, wie ich glaube, die drei angeführten Beispiele.

Ich denke nicht, daß der Inhalt dieser Träume jemanden zu irgend einer schiefen Beurtheilung Gelegenheit geben sollte, denn sonst hätte ich eben so gut andere wählen können, aber gerade des ähnlichen Inhalts wegen habe ich sie zusammengestellt*). 5

Christoph Knape,

der Weltweisheit, Arzneiwissenschaft und
Wundarzneikunst Doktor.

Fußnoten:

1: *) Die Lotterie wurde damals auf öffentlicher Straße, vor dem Generallotterieamte gezogen.

2: *) Dies verhielt sich wirklich so, ob ich es gleich nicht vorher gesehen hatte.

3: *) Um zu wissen, ob sich wirklich am Anfange der Riecksdorferstraße ein Kramladen nebst einer Lotterieeinnahme befindet, so habe ich mir den Weg dahin nicht verdrießen lassen, und gefunden, daß sich beides in der That so verhält.

4: *) Es war die 234ste Ziehung.

5: *) Mir scheinen diese Träume auch aus dem Grunde zum Beweise des Vorhersehungsvermögens am besten gewählt zu seyn, weil die Vorhersehung gerade eines der allerzufälligsten Dinge, das Herauskommen einer Zahl in der Lotterie, betrift.
M.

Erläuterungen:

a: 1763 als Staatslotterie von Friedrich II. eingerichtet, damit seine Untertanen ihr Geld nicht in fremde Lotterien setzten.