ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VIII.

Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde.

Moritz, Karl Philipp

In einem Magazine der Erfahrungsseelenkunde müssen, insbesondre anfänglich, der eingestreuten Reflexionen so wenige als möglich seyn. In der Folge kann es immer mehr durch wichtige Re-[32]flexionen und wichtige Fakta wachsen, die sich wechselseitig einander zu Hülfe kommen.

Alles ängstliche Hinarbeiten aber auf ein festes System muß dabei gänzlich vermieden werden, und fürs erste muß alles nur ohngefährer Entwurf seyn, worinn immer noch manche Linie wieder verwischt werden kann, wenn auch sogar das Ganze darüber eine völlig andre Gestalt gewinnen sollte.

Zu einem solchen Entwurfe habe ich es gewagt, folgende Grundlinien auf gut Glück zu ziehen, und werde mit der größten Gleichgültigkeit eine nach der andern wieder auslöschen, sobald sich Fakta einfinden, welche dagegen streiten. Mit ununterbrochner Aufmerksamkeit will ich über die Unpartheilichkeit meiner Gedanken wachen, und gelingt mir dieser Vorsatz, so hoffe ich, daß er mich dereinst zur Wahrheit führen wird.

Wenigstens können folgende Winke dazu nutzen, daß sie zu mehrern Arten von Beobachtungen Veranlassung geben, wodurch sich vielleicht ganz etwas anders ergiebt, als worauf man zuerst bei seinen Untersuchungen ausging: denn wer ein schlechtes Stückchen Silber sucht, kann wohl statt dessen einen Edelgestein finden.


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1)*) 1 Mangel der verhältnismäßigen Uebereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit.

Es kömmt daher nicht sowohl auf die Stärke oder Schwäche einer einzelnen Seelenfähigkeit, an und für sich betrachtet, an, als vielmehr, in wie ferne dieselbe, in Absicht aller übrigen Seelenfähigkeiten, entweder zu stark oder zu schwach ist.

Eine sehr starke Einbildungskraft kann daher bei einem solchen, wo Gedächtniß, Beurtheilungskraft u.s.w. ihr die Waage halten, in einem völlig gesunden Zustande der Seele statt finden; bei einem andern, wo dieses der Fall nicht ist, kann sie Krankheit seyn.

Hieraus folget, daß ein jeder Mensch nach dem ihm eignen Maaß seiner Seelenfähigkeiten, auch seinen eignen Seelengesundheitszustand habe, und daß selbst dieser nach dem verschiednen Alter desselben abwechselt; so daß z.B. ein gewisser Grad der Beurtheilungskraft, der in spätern Jahren na-[34]türlich ist, in frühern Jahren Ueberspannung und Krankheit der Seele gewesen seyn würde.

2) Diese Zerstörungen des nöthigen Verhältnisses zwischen den Seelenfähigkeiten heben sich oft von selber wieder auf, und nur, wenn sie lange und anhaltend fortdauren, sind sie eigentlich Seelenkrankheit.

Mangel an Thätigkeit, überspannte Thätigkeit, zwecklose Thätigkeit, u.s.w. sind Symptomen solcher Seelenkrankheiten, oder zerstörten Verhältnisse.

Diese Symptomen können oft gefährlich scheinen, ohne es zu seyn, oft können sie es seyn, ohne es zu scheinen. Zuweilen müssen sie plötzlich unterdrückt, oft nur eingeschränkt, und manchmal wohl gar befördert werden.

Wie wichtig würde die Ausführung und Bestätigung dieses Satzes in der Pädagogik seyn!

3) Die thätigen Kräfte müssen mit den vorstellenden Kräften in einem gewissen Verhältniß stehen; sind sie gegen dieselben zu stark, und bekommen das Uebergewicht, so ist dieses Krankheit der Seele, und eben der Zustand, wo man oft klagt, meliora video proboque, deteriora sequor; b sind sie gegen dieselben zu schwach, so ist [35]dieses ebenfalls Krankheit; die herrlichsten Entschließungen, die vortreflichsten Entwürfe werden nicht ausgeführt; schwinden sie ganz oder zum Theil, so ist dieses gleichsam eine Seelenlähmung, ein Zustand, worinn sich so mancher Unglückliche befindet, der die ausgezeichnetsten Talente durch Ueberspannung unbrauchbar machte.

4) Von den Ideen, welche täglich und Augenblicklich in die Seele strömen, müssen nothwendig immer eine gewisse Anzahl bald wieder verdunkelt werden, wenn die Denkkraft in einem gesunden Zustande bleiben soll.

Werden zu wenige verdunkelt, so entsteht ein Ueberfluß von Ideen, welcher Unordnung und Verwirrung verursacht, und die Reinigkeit und Klarheit im Denken hemmet; werden zu viele verdunkelt, so entsteht Unfruchtbarkeit, Leere und Armuth des Geistes.

Es scheinet, als wenn die Ideen, welche wir im Traume erhalten, ordentlicher Weise wieder verdunkelt werden müssen. Mir ist wenigstens die Erinnrung von Träumen höchst unangenehm, weil sie den ganzen Tag über einige Unordnung in meinen übrigen Ideen erweckt.

5) Der Mangel des gehörigen Zusammenhangs zwischen den Ideen scheinet die Ursach vieler [36]Krankheiten der Seele zu seyn. Im gesunden Zustande der Seele muß es immer einige gewissermaßen fixirte Ideen geben, die zwar eine Zeitlang, durch den Strom der neuen Vorstellungen, aus ihrer Lage gebracht werden können, aber doch allemal in dieselbe wieder zurückspringen; es muß vollkommen fixirte Ideen geben, die durch nichts erschüttert werden können. Bei dem Mangel des gehörigen Zusammenhangs aber springen die erstern nicht wieder in ihre Lage zurück, und die andern halten nicht stand. Wodurch Leichtsinn, Wankelmuth, und die daraus entspringenden Laster entstehn.

Eben so nachtheilig scheinet aber auch ein zu fester und unerschütterlicher Zusammenhang zwischen den Ideen zu seyn, woraus Starrsinn und Härte entsteht. Die Seele stößt eine Menge von den hinzuströmenden Ideen zurück, und kann aus ihrem Zufluß keine wohlthätige Nahrung ziehen.

6) Die Krankheiten der Seele können vielleicht, eben so wie die körperlichen, von den Eltern auf die Kinder fortgepflanzt, oder in ganzen Familien erblich seyn. Wie dieses einige von den vorhergehenden Faktis zu beweisen scheinen.

Sie können bei einem Volke oder in einem Lande vorzüglich herrschen.

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Sie können ansteckend seyn.

Sie können heilbar oder unheilbar seyn.

7) Da die Krankheiten der Seele aus verschiednen Ursachen entstehen, so giebt es auch gewiß gegen dieselben kein Universalmittel, sondern der moralische Arzt muß diese Krankheiten nach ihren Erscheinungen, nach ihren Ursachen, und Folgen studieren, wenn er es unternehmen will, sie zu heilen.

Er muß das verletzte Verhältniß zwischen den Seelenfähigkeiten, wo möglich, wieder herzustellen suchen.

Er muß schädliche Ideen zu verdunkeln, und andre wieder gehörig zu erhellen wissen.

Er muß den gehörigen Grad des Zusammenhangs zwischen dem ganzen System der Ideen bewürken, und wieder in die innersten Fugen des allzufesten Zusammenhangs derselben, wenn es nöthig ist, eindringen können.

8) Kann es moralische Aerzte geben, und hat es solche gegeben?

Sokrates scheinet diese erhabenste Kunst in hohem Grade verstanden und ausgeübt zu haben.

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Vielleicht haben sie mehrere in ihren kleinen Cirkeln im Stillen ausgeübt, deren Nahmen nur im Buche der Allwissenheit verzeichnet stehen.

Kleinjog soll zu unsren Zeiten, Personen, die sich eine Zeitlang bei ihm aufgehalten, durch seinen Umgang und durch sein Beispiel, wirklich von moralischen Krankheiten geheilt, und den zerstörten Frieden in ihrer Seele wieder hergestellt haben*). 2

Fußnoten:

1: *) Wegen der auffallenden Aehnlichkeit, welche die Erfahrungsseelenkunde mit der Arzneikunde im Ganzen hat, ist mir des Herrn Doktor Markus Herz medicinische Encyklopedie, a bei meinen Betrachtungen über die Seelenkrankheitskunde sehr zu statten gekommen.

2: *) Möchte ich doch viele Beiträge von Eltern, Erziehern und Schulleuten, oder andern Personen, denen das Wohl der Menschheit am Herzen liegt, erhalten, worinn ausführliche und specielle Nachrichten gegeben würden, durch welche Mittel es jemanden gelungen ist, irgend einen verirrten nach und nach auf den Weg der Tugend wieder zurückzubringen, oder ihn von diesem oder jenem eingewurzelten Laster allmälig abzuziehen; wie äußerst wichtig und allgemeinnützig würde die Bekanntmachung solcher wirklich in Ausübung gebrachter Verfahrensarten seyn!

Erläuterungen:

a: Herz 1782.

b: Zitat von Ovids Verwandlungen 7, 20f.: "Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich."