ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 1 (1783) >  

<Zur Seelenheilkunde.>

Moritz, Karl Philipp

Der in die ganze Natur, in so manche Quelle, und in so manches Kraut heilenden Balsam legte, um den kranken, hinfälligen Körper zu stärken und wiederherzustellen, sollte der nicht auch eine Arznei geschaffen haben, für kranke, verwundete Seelen?

Wer suchte sie, und wer fand sie?

Der Du dieses Geheimniß besitzest, glücklicher Sterblicher, o sey nicht karg damit! Versammle die edelsten Menschen um Dich her, theile ihnen, wenn Du kannst, Deinen Geist und Deine Gabe mit, und sende sie umher in allen Landen, daß sie die thätigen und die forschenden Kräfte der Menschen aus ihrem Schlummer wecken, die Lahmen gehend, die Blinden sehend machen!

Wem es je gelungen ist, irgend eine Krankheit der Seele mit der Wurzel auszurotten, o der mache doch das unschätzbare Arzneimittel bekannt, wodurch ähnliche Krankheiten können ausgerottet werden! — Was war es, als wechselseitige Mittheilung von Erfahrungen, wodurch man endlich eine Heilkunde für den Körper fand, und warum fand man noch keine für die Seele?

Was sind das für bleiche, entstellte, von heimlichen Sünden gebrandmarkte Gesichter, worauf die Blühte der Unschuld in der Knospe verwelkt ist?

[115]

Sie wandeln vor meinen Blicken vorüber, und ihr Bild drückt sich tief in meine schwermuthsvolle Seele, die Farbe der Jugend ist von ihren Wangen verschwunden — aus dem trüben Auge blickt keine Kühnheit, keine Entschlossenheit zu edlen Thaten mehr hervor.

Ich will mein Antlitz verbergen, und weinen, daß der Mensch so entstellt ist — daß von seiner frühesten Jugend an das Gift in seine Adern schleicht, welches den Keim zu edlen Thaten in ihm erstickt, seine Nerven erschlafft, und ihn unter das Joch der Sklaverei darnieder drückt.

Klagen will ich, daß der Mensch sich nicht mehr unterscheidet, von dem, was ihn umgiebt; daß der blitzende Edelgestein ganz in Blei gehüllt ist, welches keinen einzigen seiner Strahlen mehr durchschimmern läßt — daß auch ich Weinender und Klagender den Werth der Menschheit so lange verkannt habe, und vielleicht noch verkenne, und nach einem eitlen Blendwerk trachte, das vor mir fliehet, und immer meine sehnlichste Erwartung täuscht.

Bin ich besser, als meine Brüder, daß ich sie beweine? — Spare deine Thränen für deinen eignen Kummer, und für dein eignes Weh! meinest du, dein Herz sey ganz rein von Verstellung, und deine Seele ganz rein von Arglist? — o fließt ihr Thränen, und wischt diese Flecken meiner Seele ab, wenn ihr könnt!

M.