ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Aus einem Tagebuche.

Moritz, Karl Philipp

Den 18ten September 1780.

Ein unbedeutender, höchst uninteressanter Ausdruck aus einer Arie in einer Operette, den ich selbst nur vor ein paar Tagen von einem guten Freunde hörte, welcher ihn sich zu wiederhohltenmalen, aus Langerweile vorsang, kam mir heute Nachmittag, während dem ernsthaftesten Nachdenken, alle Augenblick, wieder meinen Willen, in den Sinn, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn mir ebenfalls zu wiederhohltenmalen vorzusingen, ohne den mindesten Gefallen daran zu finden.

Dieses habe ich schon öfter bei mir gespürt. Auch habe ich zuweilen junge Leute gefragt, was sie denken, wenn sie eine lange Strecke für sich allein gehen? und sie hatten ebenfalls irgend einen solchen unbedeutenden Ausdruck im Kopfe, den sie sich [45]den ganzen Weg über ohne Zweck und Absicht wiederhohlten.

Den 4ten August 1781. Abends.

Während dem Gehen gelang es mir, die Gedanken, die mich traurig machten, nach und nach zu unterdrücken. Es traten andre an ihre Stelle, welche sie verdrängten. Ich fand, wie klein und unbedeutend mein gegenwärtiger Verdruß im Verhältniß gegen meine Entwürfe sey. Diese Entwürfe rollten sich alle in meiner Seele auseinander, und der Gedanke an ihre wahrscheinliche Ausführung gewährte mir eine süße Täuschung. Dieß alles aber ereignete sich erst bei mir, nachdem ich eine Weile schnell gegangen war.

Ich erinnere mich hiebei, daß ich im neunzehnten Jahre, da ich noch in Hannover auf der Schule, und wegen meiner schlechten Glücksumstände und traurigen Aussichten auf die Zukunft oft bekümmert war, allemal eine merkliche Veränderung in meinem Gemüthe spürte, wenn ich, mit einiger Schnelligkeit, einen Spatziergang um den dasigen Wall gemacht hatte, es mochte auch für Wetter seyn, was es wollte. Ich brauchte dieses zuletzt sehr oft, mit Vorbedacht, als ein Mittel, um mir wieder Muth zu machen, und meine gesunknen Hoffnungen wieder zu erwecken.

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Den 22sten August 1781. Abends.

Als ich über die Wiese gegen die Dämmerung zu ging, dachte ich eine Reihe sehr angenehmer Gedanken, die ich mir jetzt so gut wie möglich wieder zurückrufen will:

Beschränke deine Aussichten und deine Wünsche, so kannst du hier einst wandeln, als Mann und als Greis, dein Weib an deiner Seite, und deine Kinder um dich her; kannst dann auch an diesen Abend dich zurückerinnern.

Hinter mir dämmerte die Abendröthe so schön, wie ich sie lange nicht dämmern sahe - ich ging noch etwas weiter, um bei der Rückkehr ihren Anblick desto länger zu genießen —

Und nun, da ich gegen den Glanz der Abendröthe zurückkehrte, wie ganz verändert waren auf einmal meine Gedanken! lebhaftere, stärkere Bilder traten an die Stelle der sanftern, die Freuden des Ruhms an die Stelle der ruhigen häuslichen Freuden. — Doch wurden die erstern nicht ganz verdrängt; sie milderten noch das aufwallende Streben nach den letztern, wie die zunehmende Dämmerung den Glanz der funkelnden Abendröthe.

Wie sehr hängt oft die ganze Richtung unsrer Gedanken von den äußern Gegenständen ab!

[47]

Vielleicht ist es in dem Augenblicke, wo wir eine große Entschließung fassen sollen, kein unwichtiger Umstand, ob die Gegenstände, welche wir um uns her erblicken, roth oder grün sind.