ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: IX, Stück: 3 (1792)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Karl Philipp Moritz,
und
Salomon Maimon.

Neunten Bandes drittes Stück.

Berlin,
bei August Mylius 1792.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[<III>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Karl Philipp Moritz und Salomon Maimon.

Neunter Band.

Berlin,
bei August Mylius 1792.

[1]

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde.
Neunten Bandes drittes Stück.

<Revision.>

Einleitung zur neuen Revision des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

Maimon, Salomon

Die Erfahrungsseelenkunde besteht, gleich einer jeden andern Erfahrungswissenschaft, aus zwei Theilen: aus einem Stof und einer Form. Der Stof einer jeden Erfahrungswissenschaft ist ihr eigen; die Form aber ist allen gemein, indem sie die Form der Vernunft in Beziehung auf alle Gegenstände überhaupt ist. Der Stof oder Gegenstand der Erfahrungsseelenkunde ist, einzelne Wahrnehmungen, Beobachtungen und Versuche des innern Sinnes. Einzelne Wahrnehmungen sind aber noch keine Erfahrungen; zu diesem Behuf müssen die einzelnen Wahrnehmungen unter allgemeine Gesetze gebracht werden, wodurch sie [2]die Form des Verstandes erhalten, und Erfahrungen werden. Dieses ist aber zu einer Wissenschaft noch nicht hinlänglich; zu diesem Behuf müssen die Erfahrungen in ein System, d.h. ein nach Prinzipien geordnetes Ganze, gebracht werden; wodurch sie die Form der Vernunft erhalten, und wodurch die Erfahrungsseelenkunde erst den Namen einer Wissenschaft verdient. Je geringer die Anzahl der Prinzipien sind; je genauer die darinn gegründete Wahrheiten, sowohl mit diesen Prinzipien als unter einander verbunden sind, um desto mehr nähert sich die Erfahrungsseelenkunde der vollständigen Form einer Wissenschaft. Man sieht hieraus, daß man sich hier (wie auch in jeder andern Wissenschaft) mit einem Systeme nicht übereilen muß.

Das Interesse der Vernunft zwingt uns zwar, schon im Anfange der Bearbeitung einer Wissenschaft, zu einem System, welches nicht bloß ein Erleichterungsmittel zur Erlernung, sondern auch (wenn das System in der Natur des zu behandelnden Gegenstandes gegründet ist) ein Erweiterungsmittel, als ein Leitfaden zur Erfindung in einer Wissenschaft ist. Doch muß man auch bereit seyn, dieses vor der Hand angenommne System, nach Erfordernissen zu verbessern, oder gar zu verändern, wenn man anders den gegründeten Vorwurf der Systemsucht vermeiden will.

[3]

Da dieses Magazin zur Erfahrungsseelenkunde schon ziemlich (bis zum 9ten Band) fortgerückt ist, so dachte ich am Besten zu thun, wenn ich hier in der Einleitung zur neuen Revision, vor der Hand, die beste Theorie, die wir bisjetzt haben, sowohl zur Erklärung der schon in diesem Magazin sich befindenden, als der noch darinn vorkommenden psychologischen Thatsachen, fortsetze. Dieses Magazin und diese vor der Hand fortgesetzte Theorie, sollen sich einander wechselsweise hülfreiche Hand leisten. Diese soll jenem zum Leitfaden, sowohl in Erklärung der psychologischen Ercheinungen, als in der Wahl der Materialien selbst, dienen. Jenes hingegen soll wiederum diese, durch beständige Darstellung neuer Thatsachen, verbessern, und zu ihrer höchsten Vollkommenheit bringen.

Eine Theorie von dieser Art ist, wie ich dafür halte, von dem tiefdenkenden und bescheidenen Wahrheitsforscher Herrn Professor Schmid in seiner empirischen Psychologie a geliefert worden. Auf diese werde ich, sowohl den Leser dieses Magazins verweisen, als selbst in der zukünftigen Bearbeitung desselben, hauptsächlich Rücksicht nehmen. Der Platz erlaubt mir hier nichts mehr, als eine kurze Anzeige davon zu machen, und einige Anmerkungen hinzuzufügen.

[4]

Dieser vortrefliche Verfasser, bei dem das Interesse der Vernunft und die Vervollkommnung unsrer Erkenntniß das größte Gewicht hat, (man darf nur seine Schriften lesen, um sich davon zu überzeugen) wird mir hoffentlich meine Freimüthigkeit zu gut halten, und mich, wenn ich gefehlt habe, gütigst zurecht weisen.

Die Einleitung zu diesem Werke ist so vortreflich, daß ich nicht gern sehen möchte, daß auch ein einziges Wort davon verloren ginge, sie muß ganz gelassen, und kann hier also in keinem Auszuge dargestellt werden. Ich schreite daher zur Anzeige des Werks selbst.

Theil I. §. 1-2. Die Erklärung von Seele und Gemüth. Seele ist das Subjekt aller Vorstellungen, oder inneren Wahrnehmungen, das wir aber zugleich, zum wenigsten problematisch, auch als Subjekt anderer Akzidenze denken, die selbst keine Vorstellungen sind, und auch mit keinen Vorstellungen in einem erkennbaren Verhältnisse stehn. Gemüth aber ist die Seele bloß als Subjekt der Vorstellungen, oder dasjenige, das mit den Vorstellungen in einem erkennbaren Verhältnisse steht, gedacht.

Ich bemerke hier aber, daß ich keinen Grund einsehen kann, warum wir das Gebiet der Seele über die Gränzen des Gemüths ausdehnen sollen? [5]wir wissen nur von zweierlei Arten der Akzidenze; nämlich Akzidenze des Bewußtseyns, die für den innern Sinn, und körperliche Akzidenze, die für den äußern Sinn gehören; wir sind daher berechtigt, eine jede Art dieser Akzidenze einer besondern Substanz (in der Erscheinung) beizulegen. Dasjenige, was diesen verschiedenen Arten von Akzidenzen als reelles Subjekt (außer der Erscheinung) zum Grunde liegen mag, kann sowohl beiden gemeinschaftlich (nach den Materialisten und Spiritualisten) als jeder derselben eigen (nach den Dualisten) gedacht werden. In der Erscheinung sind Seele und Körper immer zwei ganz heterogene Substanzen; jene ist das Dauernde in der Zeit an den Akzidenzen des innern, dieses, das Dauernde an den Akzidenzen des äußern Sinnes. Das Gebiet der Seele kann sich also nicht weiter als das des Gemüths erstrecken.

Die Substanzialität der Seele findet nur unter Voraussetzung der Wirklichkeit ihrer Akzidenze (Vorstellungen) Statt, d.h. die innern Wahrnehmungen der Akzidenze können nur unter Voraussetzung der Substanz, als Erfahrungen gedacht werden. Hört aber diese auf (wie im tiefen Schlafe, Ohnmacht und im Tode) so hört auch die Substanzialität der Seele auf, ein reeller Begrif zu seyn, und ist alsdann eine bloße Idee, die als eine Fikzion zur systematischen Einheit der psycholo-[6]gischen Wissenschaft dienen kann. Denn nachdem die Verbindung zwischen Seele und Körper, als ein allgemeingültiger Satz, aus der Erfahrung bekannt ist, daß nämlich auf jede Veränderung des Körpers eine ihr korrespondirende Veränderung der Seele folgen muß, und so auch umgekehrt, so denken wir uns daß im Schlafe, z.B. die Veränderungen des Körpers nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung aufeinander folgen. Die sie sonst (wenn sie die dazu gehörige Stärke haben) begleitende Veränderungen der Seele aber können sie alsdann (wegen ihrer Schwäche) nicht begleiten; und doch werden die Vorstellungen nach dem Aufwachen durch die Vorstellungen vor dem Einschlafen, nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung bestimmt. In diesem Betrachte ist es uns also gleich viel, ob die Veränderungen der Seele während des Schlafens aufgehört haben (wie es wirklich war) oder ob sie ununterbrochen fortgesetzt worden sind (wie wir zum Behuf der psychologischen Wissenschaft fingiren). Auf diese Art muß auch die ganze Lehre der dunkeln Vorstellungen erklärt werden, wenn sie überhaupt erklärt werden soll. —

Sehr wichtig ist, wie ich dafür halte, die Erklärung des Verfassers von Grundkraft und ihre Unterscheidung von Generalkraft, die sonst mit einander verwechselt zu werden pflegen. Grundkraft ist ein innres Prinzip der Möglichkeit oder [7]Wirklichkeit gewisser Erscheinungen, die im Grunde identisch sind, und nur durch zufällige, in etwas außer der Substanz gegründete Nebenbestimmungen sich als verschieden zeigen, und eben darum verschiedenen Vermögen oder Kräften (nachdem sich daraus die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Erscheinungen erklären läßt) zugeschrieben werden.

Die Grundkräfte werden also gefunden, indem man das Mannigfaltige, was im Gemüthe vorkömmt, zergliedert, dasjenige, was von äußern Bedingungen oder Gegenständen abhängt, in Gedanken absondert; was aber als eigne Wirkungsart (Art zu empfangen oder zu handlen) des Gemüthes übrig bleibt, auf ein inneres Prinzip einartiger Erscheinungen bezieht; welches eine besondere Grundkraft, wenigstens nach unsrer Vorstellungsart seyn muß. Generalkraft hingegen ist der generische Begrif aller unter demselben Geschlecht stehenden Arten, das nur das allen diesen Arten Gemeinschaftliche, nicht aber das einer jeden Unterscheidende in sich begreift.

Hieraus erhellet, daß so wenig Wolf mit seiner Erklärung der Seele: vis repræsentativa universi, als in unsrern Zeiten Reinhold, der alle Wirkungsarten der Seele (Empfindungen, Anschauungen, Begriffe und Ideen) Vorstellungen nennt, und von dessen Theorie ich in der Folge [8]sprechen werde, die Grundkraft der Seele angegeben haben, sondern bloß die Generalkraft.

Der zweite Theil handelt von dem Vorstellungsvermögen oder der Vorstellungskraft überhaupt.

§. I. Vorstellung nennen wir nicht eine Veränderung des Gemüthes überhaupt, sondern nur dasjenige, wovon ein Bewußtseyn möglich ist, d.h. die ich auf ein (vorstellendes) Subjekt, und auf ein (vorgestelltes) Objekt beziehen kann.

§. VII. Das wirkliche Beziehen oder Bezogenwerden einer Vorstellung auf ihr Objekt und Subjekt, macht das Bewußtseyn aus. Das, was bezogen wird, ist die Vorstellung.

§. VIII. Es giebt also in dieser Bedeutung keine Vorstellung ohne Bewußtseyn u.s.w.

Ich bemerke aber, daß die Erklärung des Bewußtseyns offenbar zu enge ist. Das wirkliche Beziehen oder Bezogenwerden einer Vorstellung auf ihr Objekt und Subjekt, macht nicht ein einziges, sondern fünfterlei Bewußtseyn aus; Bewußtseyn vom Subjekte, Bewußtseyn vom Objekte, Bewußtseyn von der Vorstellung, Bewußtseyn von dem Beziehen dieser dreien auf einander überhaupt, und Bewußtseyn von der besondern Art des Beziehens, oder Bezogenwerdens, einer jeden dieser dreien. Diese sind verschiedene [9]Arten des Bewußtseyns, denen allen das allgemeine Prädikat Bewußtseyn zukömmt. Sie sind zwar unzertrennlich, aber doch verschieden von einander. Das Bewußtseyn ist die allgemeinste Form, und ist in Ansehung der Seele der Ausdehnung in Ansehung des Körpers ähnlich. Ausdehnung überhaupt (unbestimmt) kann zwar nicht getrennt von einer besondern Art der Ausdehnung (einer besondern Figur) aber doch verschieden von derselben im Gemüthe statt finden. So kann auch Bewußtseyn überhaupt abstrahirt von der besondern Art des Bewußtseyns nicht durch innere Merkmale gedacht; durch Hinzukommen der besondern spezifischen Bestimmung hingegen, nicht nur als diese besondre Art des Bewußtseyns, sondern als Bewußtseyn überhaupt erkannt werden. Daher kann Bewußtseyn überhaupt ohne Zirkel nicht definirt werden, weil es als das allgemeinste Merkmal in allen Definitionen vorkommen muß. Das wirkliche Beziehen oder Bezogenwerden einer Vorstellung auf ihr Objekt und Subjekt macht also nicht das Bewußtseyn überhaupt, sondern eine besondere Art desselben aus. Die Erklärung des Verfassers (welche die Reinholdsche Erklärung ist) ist also zu Folge des Sprachgebrauchs zu enge.

Die Erklärung von Vorstellung ist die Reinholdsche Erklärung der bloßen Vorstellung (Elementarphylosophie §.V.).

[10]

Diese Erklärung weicht gleichfalls vom Sprachgebrauch ab; diesem zu Folge ist Vorstellung dasjenige, das sich, als Theil eines Ganzen oder einer Synthesis (in der apperception) als Merkmal auf dasselbe bezieht. Z.B. ein Gemälde, ein theatralisches Stück ist eine Vorstellung, indem jenes einige Merkmale des abgemalten Gegenstandes (sichtbare Figur und Farbe); diese Merkmale einer Handlung oder Begebenheit, die sich als Merkmale auf den Gegenstand oder die Handlung beziehn, darstellt. Hingegen ist dasjenige, das sich im Bewußtseyn aufs Subjekt und Objekt (im Reinholdschen Sinne) bezieht keine (partial) Darstellung des Subjekts und des Objekts; es bezieht sich nicht auf dieselbe als Merkmal, sondern als Bedingung der Koexistenz im Bewußtseyn; es kann also zu Folge des Sprachgebrauchs nicht Vorstellung heißen.

Ferner, so sind das Objekt und das Subjekt, transzendental a priori gedacht, bloße Ideen, die durch kein inneres absolutes Merkmal, als bloß durchs Bezogenwerden der Vorstellung auf beide gedacht werden; dahingegen die Vorstellung schon a priori als etwas durch innere absolute Merkmale Bestimmbares gedacht werden muß.

Diesem zufolge sind also Subjekt und Objekt nicht einmal Bedingungen der Koexistenz zur Vor-[11]stellung (daß wenn eine Vorstellung im Bewußtseyn existiren soll, auch diese Ideen zugleich existiren müssen) sondern umgekehrt. Die Erklärung der Vorstellung ist also nicht einmal in dieser Rücksicht (wo es nicht ein etwas dem vorgestellten Gegenstande ähnliches, sondern mit demselben nothwendig Koexistirendes bedeutet) richtig. Die Beziehung der Vorstellung aufs Subjekt und Objekt ist nicht ursprünglich, sondern sie entsteht erst durch eine psychologische Täuschung auf folgende Art.

Aus der Gewohnheit eine jede Wahrnehmung auf andre Wahrnehmungen durch den Begrif der Koexistenz zu beziehn, entsteht diese transzendente Neigung der Einbildungskraft, eine jede Wahrnehmung auf ein Etwas überhaupt zu beziehn. Ich habe z.B. immer wahrgenommen, daß die gelbe Farbe entweder mit der vorzüglichen Schwere, der Härte und Dichtigkeit im Golde; oder mit der Zähigkeit und Weiche des Wachses, oder sonst einer Eigenschaft koexistirt. Ich mache daher diesen Erfahrungssatz nicht nur allgemein, sondern auch transzendent; die gelbe Farbe muß einem nicht nur unbestimmten, sondern unbestimmbaren Etwas gehören. Auf diese Art entsteht die fingirte Idee von einem Objekt außer dem Denkungsvermögen (nicht Dinge überhaupt) das auch außer diesem Begriffe einer möglichen Beziehung überhaupt (Form der Apperception) seine Realität haben soll. So-[12]bald aber die Vernunft diese Täuschung entdeckt hat, muß auch die darauf gebaute Theorie wegfallen. —

Ferner §. II. Zur Möglichkeit einer Vorstellung gehört demnach zunächst:

1) Etwas, was die Beziehung auf einen Gegenstand möglich macht.

2) Etwas, wodurch die Beziehung auf das Vorstellende, oder auf das Gemüth möglich wird.

§. III. Die Beziehung einer Vorstellung auf einen Gegenstand (§ II. No. 1.) ist möglich, oder: eine Vorstellung stellet etwas, d.h. einen Gegenstand vor, in so fern etwas in ihr, durch etwas von ihr und dem Gemüthe, als dem Subjekte dieser Vorstellung, verschiednes bestimmt und hervorgebracht wird.

§. IV. Die Beziehung einer Vorstellung auf das Gemüth (§. II. No. 2) ist möglich, ich stelle mir, das Gemüth stellt sich etwas vor — in so fern etwas in der Vorstellung durch etwas anders von ihr selbst und ihrem Gegenstande verschiednes, also von dem Gemüthe, als dem Subjekt derselben, bestimmt und hervorgebracht wird.

§. XIV. Dasjenige, was die Beziehung der Vorstellung auf einen Gegenstand im Bewußtseyn möglich macht (§. III.) und also durch den Gegenstand bestimmt ist, heißt der innere subjektive [13] Stoff einer Vorstellung; dasjenige, wodurch ihre Beziehung auf das Gemüth (§. IV.) im Bewußtseyn möglich wird, und was also durch eine Handlung des Gemüthes müßte bestimmt worden seyn — ihre Form. Weder die Eine, noch die Andere ist für sich allein im Bewußtseyn möglich und eine Vorstellung.

Aber was heißt das: etwas in der Vorstellung wird durch etwas von ihr und dem Gemüthe verschiedenes, oder durch etwas von ihr und dem Gegenstande verschiedenes bestimmt und hervorgebracht? Soll dieses heißen: dieses Etwas in der Vorstellung ist eine Realwirkung vom Gegenstande oder Subjekte, als ihrer Ursache? Dies kann nicht seyn, weil das Verhältniß von Ursache und Wirkung nur zwischen reellen Objekten der Erfahrung (Wahrnehmungen) statt finden kann; nicht aber zwischen diesen und den Ideen von Subjekt und Objekt überhaupt.

Es kann also nichts anders heißen, als: zur innern Möglichkeit einer Vorstellung gehören zwei heterogene Bestandtheile: ein Stoff und eine Form; jener ist dasjenige in der Vorstellung, wodurch sie nicht bloß Vorstellung überhaupt, sondern eine bestimmte Vorstellung ist.

Diese ist dasjenige, wodurch die Vorstellung überhaupt, und das ihr mit andern ihrer Art ge-[14]mein ist. Aber alsdann werden die Ausdrücke: bestimmt und hervorgebracht ganz unschicklich seyn. Dieses erhellet noch mehr aus dem Folgenden.

§. VI. Der innere Stoff einer Vorstellung (§. XIV.) entspricht zwar dem Etwas, was vorgestellt und im Bewußtseyn von der Vorstellung unterschieden wird, d. i. dem Gegenstande an sich; ist aber nicht selbst dieser Gegenstand, und wird ihm durch dasjenige, was ihn im Bewußtseyn möglich macht, nämlich durch die vom Gemüthe bestimmte Form einer Vorstellung, unähnlich.

Was heißet dieses: der innere Stoff entspricht dem Gegenstande an sich? Der Gegenstand an sich kann als eine bloße Idee weder als Bedingung der innern Möglichkeit (wesentliche Bestimmung), noch als Bedingung der Wirklichkeit (Ursache) des Stoffes gedacht werden.

Nach mir hingegen bezieht sich so wenig der Stoff als die Form auf irgend etwas außer der Vorstellung, sondern sie beziehen sich auf einander als wesentliche Bestimmungen, oder innere Bedingungen einer Vorstellung überhaupt. So bezieht sich auch die aus Stoff und Form bestehende Vorstellung auf andere Vorstellungen, mit denen sie als zur Verstandseinheit (Synthesis) gehöriges Mannichfaltige gedacht und worauf er als Merkmal bezogen wird. Dieser Vorstellung ent-[15]sprechende bestimmte Mannichfaltige, heißet das vorgestellte Ding. Das unbestimmte Mannichfaltige überhaupt aber, das in einer Verstandseinheit gedacht wird, und worauf sich eine Vorstellung als Merkmal beziehn kann, heißt bei mir Ding an sich.

Das Subjekt einer Vorstellung ist nichts anders, als die zur Vorstellung als Vorstellung (Merkmal einer Synthesis) nothwendige Einheit der Apperzeption. Aber für jetzt mag dieses genug seyn.*) 1

Ich komme jetzt auf eine Untersuchung, die, wie ich glaube, ganz neu, und in der Psychologie von großer Wichtigkeit ist; nehmlich, wie fern es [17]zuläßig oder gar nothwendig sey, zur Erklärung einiger psychologischen Erscheinungen, von der Physiologie, oder überhaupt von der Naturlehre einen [18]Gebrauch zu machen? Gemeinhin wird in den psychologischen Lehrbüchern von der verschiedenen Beschaffenheit des Gehirns, der Nerven und der Le-[19] bensgeister gesprochen, und davon bei gewissen Gelegenheiten Gebrauch gemacht; da aber sowohl die Gränze der heterogenen Wissenschaften (See-[20]len- und Körperlehre), als ihr Einfluß in einander nicht gehörig bestimmt sind, so kann dieses nur mit einem unsichern Schritt und vieler Behutsamkeit geschehen.

[21]

Ich will hier meine Gründe, sowohl für, als wider dieses Verfahren anführen; die fernere Untersuchung über diese Materie aber will ich andern überlassen.

[22]
Gründe dawider.

1) Eine Erscheinung erklären, und die Bedingungen einer Erscheinung anzugeben, sind zwei ganz verschiedene Unternehmungen. Wer [23]eine Erscheinung erklären kann, der kann auch die Bedingungen, in so fern sie in dieser Erklärung enthalten sind, angeben. Hingegen kann jemand die Bedingungen einer Erscheinung recht gut wissen, ohne sie deswegen erklären zu können. Der Astronom, der die Ursache einer Sonnenfinsterniß, durch das Hintreten des Mondes zwischen die Sonne und die Erde erklären kann, kann auch die Bedingungen der Zeit angeben, worinn eine Sonnenfinsterniß vorfallen kann, nämlich am Neumond. Der gemeine Mann hingegen kann zwar aus vielfältiger Beobachtung die Bedingung angeben, ohne deswegen die Erscheinung selbst wissenschaftlich erklären zu können.

Wenn man also das Individuelle in dem Grade und der Richtung der Seelenwirkung aus dem Individuellen in der körperlichen Organisation, nach [24]dem aus der Erfahrung bekanntem Gesetz der Verbindung zwischen Seele und Körper, erklärt, so heißt es bloß: man macht die letztern zur Bedingung der erstern, nicht aber, man erklärt diese durch jene. Um die Entstehungsart einer individuellen Seele zu erklären, müßte man erstlich den allgemeinen Begrif von Seele überhaupt (nicht willkührlich, sondern aus der Erfahrung) festsetzen, alsdann zeigen, durch welche Veränderungen, die in der Natur der Seele selbst gegründet sind, sie nach und nach immer näher bestimmt, bis sie diese individuelle Beschaffenheit der Seele geworden ist; nicht bloß zur Erklärung einer besondern Beschaffenheit oder Modifikation der Seele eine ihr korrespondirende Beschaffenheit der Modifikation des Körpers anzugeben, wie es doch zu geschehn pflegt.

2) So kann man in den mehresten Fällen nicht einmal die besondere Modifikation des Körpers, die einer besondern Seelenmodifikation korrespondirt, und folglich als Bedingung derselben angesehn werden kann, bestimmt angeben, sondern bloß im Allgemeinen eine solche voraussetzen. Woraus erhellet, daß dergleichen Erklärungsarten allenfalls in der Anthropologie, keinesweges aber in einer reinen Psychologie geduldet werden können.

[25]
Gründe dafür.

1) Die Seele kann nur als eine Substanz in der Erscheinung gedacht werden, indem der Begrif von Substanz überhaupt nur als Bedingung der Erfahrung seine Realität hat; d.h. so lange die Folge der Seelenerscheinungen ununterbrochen bleibt, muß darinn bei allen Veränderungen etwas Dauerhaftes in der Zeit gedacht werden, wenn die Wahrnehmung dieser Erscheinungen Erfahrung werden soll. Wird hingegen diese Folge unterbrochen, so hört auch die Substanzialität der Seele auf, indem ihr ganzes Daseyn aufhört. Nun aber lehrt uns die beständige Beobachtung, daß die Folge der Seelenerscheinungen zuweilen (im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.d.gl.) in der That unterbrochen wird, und obschon die Erscheinungen nach dieser Unterbrechung mit den Erscheinungen vor derselben noch immer verknüpft sind, so muß man doch, wenn man die Art dieser Verknüpfung einsehn will, erst in Gedanken nach psychologischen Gesetzen diese Lücke ausfüllen und die fehlende Erscheinungen interpoliren. Die Substanzialität der Seele ist also in diesem Betracht nicht konstitutiv, sondern als Idee bloß regulativ.

2) So giebt es offenbar Seelenerscheinungen, die nicht mit andern in eben derselben Seelensubstanz gegründet seyn können. Von dieser Art sind z.B. Vorhersehungen oder Ahndungen, die [26]eine fremde Person oder Sache betreffen, wovon selbst in diesem Magazine häufige Beispiele vorkommen, die sich nicht so leicht wegraisoniren lassen, wenn man nicht einem Systeme zugefallen allen historischen Glauben vernichten will; und wozu ist dieses nothwendig? Ein und eben dasselbe Ding kann, sowohl für sich, als mit Andern ein System (ein nach einem Prinzip geordnetes Ganzes) ausmachen; einige Modifikationen desselben können also nach der Ersten, andere hingegen nach der letztern Voraussetzung erklärt werden. Die besondren Modifikationen, die die Seele durch die äußern Eindrücke erhält, sind offenbar von der zweiten Art. Daß ich jetzt eben die Empfindung der rothen Farbe z.B. habe, läßt sich so wenig aus der bloßen Rezeptivität oder der Fähigkeit meiner Seele, Eindrücke überhaupt zu erhalten, als aus den schon erhaltnen Seelenmodifikationen erklären; d.h. in dieser Rücksicht macht meine Seele nicht für sich, sondern mit andern Dingen ein System aus. Es können also verschiedene den äußern Beziehungen nach so sehr von einander getrennte Seelen dennoch in einer Wechselwirkung mit einander stehn; und so wie wir, wenn wir die Seele als ein für sich bestehendes Ding betrachten, die Lücken der Zeit in Gedanken ausfüllen, so können wir auch hier die Lücken des Raumes ausfüllen. —

[27]

Nach Leibnizens Monadenlehre und der Harmoniaprästabilita kann eine mit Bewußtseyn begabte Monade (Seele) zweierlei Arten von Modifikationen erhalten; die eine ist das Resultat der Wirkung und des Leidens aller derjenigen Monaden, die mit ihr in einer besondern Beziehung stehn; d.h. der Organisation. Die andere ist der unmittelbare Einfluß einer andern Monade, die ihrem innern Wesen nach mit jener in einem genauen Verhältniß steht.

Man kann der Psychologie, so wie auch jeder andern Naturerkenntniß keinen größern Schaden zufügen, als wenn man sich bemüht, alles, was in dieser Wissenschaft vorkömmt, unter ein einziges System zu bringen.

Derjenige, der ein solches System einmal geschmiedet hat, verengt dadurch selbst seinen Gesichtskreiß; er findet in der Wissenschaft nichts mehr, als was diesem Systeme gemäß ist. Alles übrige, was sich ihm darinn aufdringt, verwirft er mit einem philosophischen Trotz.

Die auf die Voraussetzung gegründete Psychologie, daß die Seele kein für sich bestehendes Wesen, sondern ein Theil eines größern Ganzen (des Weltalls) ausmacht, ist zwar weniger rein, als die auf die Substantialität der Seele gegründete. Sie ist aber um desto vollständiger als diese.

[28]

So ist auch die auf jene Voraussetzung gegründete Moral weniger der Eigenliebe und dem Interesse schmeichelhaft, aber desto mehr nähert sie sich der Idee dieser Wissenschaft*), 2 als die auf diese Voraussetzung gegründete. Die Unsterblichkeit der Seele ist nach der Voraussetzung der Substantialität derselben den menschlichen Wünschen angemessener; nach der entgegengesetzten Voraussetzung ist sie hingegen um desto fester gegründet.

Man verfähret also hier, wie in allen dergleichen Fällen, am vernünftigsten, wenn man keines dieser beiden Systeme gänzlich verwirft, und von einem jeden mit gehöriger Einschränkung einen Gebrauch macht.*) 3

Fußnoten:

1: *) »In Ansehung der Herausforderung, an die Kantianer, sagt der Rezensent meines philosophischen Wörterbuchs b (A. L. Z. 7. Jan. 1792) c um nichts billiger, sind die Bedingungen des Kampfs, die Herr M. den Kantianern zumuthet. Ob dieses (daß diese nehmlich die von mir als ausgemacht aufgestellten Sätze zugegeben werden) in Rücksicht auf die drei ersten Bedingungen seine Richtigkeit hat, hängt von dem Sinne ab, in welchem der Verfasser die Ausdrücke, Ding, Dinge überhaupt, Objekte u.s.w. versteht.« —
Ich habe in dieser Revision schon gezeigt, daß wenn man diesen Ausdrücken nicht den Sinn beilegt, den ich ihnen beygelegt habe, sie alsdann gar keinen Sinn haben können.
Das Gesetz der Association ist ein bekanntes Prinzip, woraus sich, wie ich schon in diesem Artikel bemerkt habe, die Entstehungsart der (sogenannten) transcendentalen Begriffe erklären läßt. »Hier hält es der Kantianer, wenn wir uns anders an seine Stelle zu versetzen wissen, gewiß nicht länger aus. In dem angeführten Artikel findet er keine Spur über die Entstehung desjenigen, was nach seinem (des Kantianers) System ein transcendentaler Begriff heißt und heißen kann.«
Welche Ungerechtigkeit! Hat der Rezensent an sich in dieser ganzen Rezension nicht dasjenige gezeigt, was er mir vorwirft, nehmlich, daß er aus seiner eignen Denkungsart nicht ausgehen, und sich an die Stelle eines andern Denkers versetzen kann? Ich habe freilich in gedachtem Artikel nicht die Entstehung der mit Recht sogenannten transcendentalen Begriffe, a posteriori bewiesen, dieses wäre ein offenbarer Widerspruch, sondern ich habe die Entstehung derjenigen Begriffe, die der Kantianer für transcendental ausgiebt, a posteriori gezeigt, und dieses muß der Kantianer mit aller Geduld aushalten, wenn er nichts dagegen einzuwenden hat. Diese Recension sieht ohngefähr so aus, als wie wenn Jemand behauptet hätte: es gebe keine Wunderwerke, indem er zeigte, daß alles, was dafür gehalten wird, nach den allgemeinen Naturgesetzen geschiehet, und jemand darüber folgende Rezension schriebe: der Verfasser hat nie die Entstehungsart der Wunderwerke bewiesen, indem dasjenige dessen Entstehungsart er bewiesen hat, kein Wunderwerk ist.
Herr M. drückt sein Associationsgesetz folgendermaßen aus: wenn die Wahrnehmung der Objecte in Zeit und Raum, nach einer Regel, als zugleich existirend oder auf einander folgend, sinnlich wiederholt wird, so wird bei der Wahrnehmung des einen die Wahrnehmung des andern nach einer Regel a priori bestimmt. »Der Kantianer wird sich unter der Regel, durch welches das Zugleichseyn und die Folge bestimmt werden soll, entweder gar nichts, oder die drey Kathegorien der Relation denken etc.«
Hier hat mich Rezensent ganz und gar nicht verstanden. Regel überhaupt ist ein Verhältniß zwischen mehreren Gegenständen. Sie kann in Ansehung ihres Gebrauchs von dreyerley Arten seyn: 1) zufällig, 2) subjektiv nothwendig, 3) objektiv nothwendig. In allen regelmäßigen Gegenständen der Natur ist eine Regel von der ersten Art anzutreffen, sie könnten, ohne ihr Wesen zu verändern, so gut nach einer andern oder nach gar keiner (wahrzunehmenden) Regel eingerichtet seyn. Die wirkliche Regel, wonach sie eingerichtet sind, ist also ihnen bloß zufällig. Die Maxime, wonach ein Mensch seine freywilligen Handlungen einrichtet, ist keine bloß zufällige (ich verstehe hier nicht das Kantische Moralprinzip) Regel. Sie kann in Ansehung der subjectiven Bedingungen dieses Menschen nicht mit einer andern vertauscht, oder gänzlich weggedacht werden. Sie ist aber auch nicht objektiv nothwendig, indem das Wesen der freywilligen Handlungen, den Zweck und folglich auch die sich darauf beziehende Regel unbestimmt läßt. Dahingegen ist diese Regel, oder dieser Satz, eine dreiseitige Figur ist auch dreiwinklicht, nothwendig, indem sie in keinen besondern Bedingungen des Subjekts, sondern im Wesen des Objekts selbst (des Dreiecks) gegründet ist. Nun finden wir in uns das bekannte Gesetz der Association, das heißt: eine bestimmte Regel, in Ansehung der Reproduktion der Einbildungskraft. Von welcher Art ist also diese Regel? Sie ist nicht bloß zufällig, weil die Folge der Vorstellungen in der Reproduktion immer durch die Folge in der sinnlichen Wahrnehmung selbst bestimmt wird. Sie ist nicht objektiv nothwendig, weil die Objekte auch in einer andern Folge von ihrem Wesen nichts verlieren. Sie ist also subjektiv nothwendig, nur mit dieser besondern Bestimmung, daß das Subjektive darinn nicht wie sonst materiel (in der besondern Beschaffenheit des Subjekts gegründet) sondern formel (in der wirklichen Wiederholung dieser Folge, die auch einem andern Subjekt möglich) ist.
Daß ich einen gewissen Menschen, in einem gewissen Garten, gesehen habe, ist bloß zufällig. Daß ich ihn öfter darinn gesehen habe, ist eine wahrgenommene Regel, die auch zufällig ist. Nun sehe ich diesen Menschen außer dem Garten, bei dieser Gelegenheit fällt mir immer (ohne Rücksicht auf die Unterbrechung durch andere Associationsreihen, oder des Dichtungsvermögens) der Garten bey. Diese Regel ist (da sie nicht in einer besondern Beschaffenheit meines Subjekts gegründet ist) für jedes Subjekt, bei dem ihre Bedingungen (die öftere Wiederholung der Wahrnehmung) wirklich geworden sind, gültig. Dieses ist das bekannte Gesetz der Association, worinn sich Rezensent nicht habe finden können, und welches ich auf folgende Art ausgedrückt habe: wenn die Wahrnehmung der Objekte etc.
Der Kantianer, sagt der Rezensent, wird sich unter der Regel, durch welche das Zugleichseyn oder die Folge bestimmt werden soll, entweder gar nichts, oder die drei Kathegorien der Relation denken.
Freilich der Kantianer, der so wenig Kant als irgend einen andern Selbstdenker zu verstehen fähig ist, und der wie ein Mühlpferd sich beständig um die Kathegorien herumdrehet, ohne von der Stelle zu kommen, oder wie ein schlechter Advokat über die vielen Formalitäten den Prozeß nicht zu Ende bringen kann, kann sich dabey nichts anders denken.
Aber was gehet mich dieser Kantianer an. Derjenige müßte mit Blindheit geschlagen seyn, der nicht einsieht, daß die Regel in der Wahrnehmung, wodurch die Regel in der Reproduktion bestimmt wird, nicht die sogenannten Kathegorien, sondern die Bedingung ihres Gebrauchs ist.
Auch versteht der Rezensent nicht meine Theorie der Einbildungskraft, und dieses mit Recht, weil sie seine ganze Philosophie über den Haufen wirft. Jeder Selbstdenker, der mein Wörterbuch selbst mit Aufmerksamkeit lesen, und sich hierinn nicht auf den Bericht des Rezensenten verlassen will, wird diese so vollständig finden, als nur irgend eine Theorie seyn kann.
Ferner heißt es: »unter diesen Umständen kann sich Rezensent freilich nicht wohl auf die nähere Prüfung der Einwürfe, die der Verfasser den beiden Partheien entgegenstellt, einlassen, und es geschieht bloß zur fernern Bestätigung seines gefällten Urtheils, und nicht ohne Besorgniß den Herrn M. mißverstanden zu haben, wenn er hier diejenige Einwendung, die ihm noch unter allen am wenigsten unverständlich schien, anführet und aus dem Gesichtspunkt der kritischen Sceptiker beleuchtet.«
(Seite 24) »Was die Naturwissenschaft betrift, so kann man bloß die Formen der Identität und des Widerspruchs a priori von den Gegenständen a posteriori, weil sie von allen Gegenständen überhaupt gelten, gebrauchen, sie haben also schon vor dem wirklichen Denken der Objekte unter demselben ihre Realität.«
»Wenn man unter Realität das verstehet, was in der Kritik der reinen Vernunft objektive Realität, Beziehung auf Objekte außerhalb der Vorstellung heißt, so haben die Begriffe der Identität und des Widerspruchs, die ursprünglich bloß in der Form des Denkens gegründet sind, so wenig als irgend eine andere logische Form eine andere Realität, als welche sie vermittelst der sinnlichen Anschauungen erhalten können.«
Mein Herr Rezensent, Sie haben sich geirret, ich verstehe nicht die objektive Realität, das heißt, diejenige, die ihnen in Beziehung auf reelle (sinnliche) Objekte, sondern diejenige, die ihnen an und für sich zukommt, und wodurch sie als Formen etwas und nicht nichts sind. Sie wissen, daß ich die Berufung auf die allgemeine Logik in Aufzehlung der ursprünglichen Formen des Denkens, als ein wahrer kritischer Sceptiker, verdächtig mache. Die Form der hypothetischen Sätze, z.E. ist bei mir keine Verstandsform, sondern Produkt der transcendenten Einbildungskraft, wodurch das, was beständig ist, für nothwendig gehalten wird. Zur Darstellung der Formen der Identität und des Widerspruchs ist jeder Gegenstand ohne Unterschied hinlänglich. Die sogenannten Kathegorien hingegen können gar nicht dargestellt werden. Ihr sagt mir, die Darstellung der Kathegorie von Ursach werde ich überall finden, wo Objekte nach einer Regel in der Zeit nothwendig auf einander folgen. Gut! aber ich finde diese nirgends. Daß auf der Gegenwart des Feuers, zum Beispiel, beständig das Schmelzen des Wachses folgt, ist nicht nothwendig, (in dem Sinne, in welchem ein Dreieck nothwendig drei Winkel hat) d.. es ist bloß subjektiv (unter Voraussetzung der beständigen Wiederholung der Wahrnehmung dieser Folge) nicht aber objektiv (von keinen subjektiven Bedingungen abhängend) nothwendig.
Fragt Ihr ferner: woher ich gar zu dem Begrif der objektiven Nothwendigkeit gelangt bin, da er, mir zufolge, in der Erfahrung nirgend anzutreffen ist? so antworte ich: diese objektive Nothwendigkeit ist mir aus den Sätzen der Mathematik bekannt, die Ihr fälschlich auf die Gegenstände der Erfahrung übertragt. Zur Darstellung des Satzes der Identität und des Widerspruchs hingegen, gehören gar keine subjektive Bedingungen. Diese Sätze sind daher, so wie alle andere, die von keiner subjektiven Bedingung abhängen, objektiv nothwendig.
Damit fällt auch das ganze folgende Räsonnement des Rezensenten auf einmal über den Haufen. Am Schlusse dieser Rezension schlägt er sogar den Weg ein, sich hierüber an mich selbst zu adressiren. O! unglücklicher könnt' er sich nicht adressirt haben. »In Rücksicht, heißt es, auf den Erweiß der Thatsache, daß die Kathegorien in der Erfahrung wirklich gebraucht werden, dürfte der Kantianer Herrn M. auf dessen eigene Erfahrung verweisen.«
So! auf meine eigene Erfahrung soll mich der Kantianer verweisen, aber auf welche? in dem Sinne, den der Kantianer dem Begrif von Erfahrung beilegt, habe ich keine Erfahrung.

2: *) Sie ist das stoische secundum naturam vivere; d.h. sich als ein Theil der allgemeinen Natur betrachten und diesem gemäß handeln.

3: *) Trennen und Verbinden sind zwei entgegengesetzte Mittel, wodurch man zur Erkenntniß überhaupt gelangt; durch einen proportionirten Gebrauch dieser beiden Operationen gelangt man zur richtigen Erkenntniß. Anfangs liegt alles, wie in einem Chaos in Verwirrung; alle Seelenvermögen werden auf alle Gegenstände ohne Unterschied angewandt; die Erkenntniß der Dinge kann daher nicht anders, als verworren seyn. Nach und nach wird in dieses Chaos Licht und Ordnung gebracht; man fängt an, sowohl die verschiedenen Seelenoperationen von einander zu trennen, als einer jeden den ihr angemessenen Wirkungskreiß anzuweisen. Daraus entstehen verschiedene Wissenschaften, wie auch verschiedene Systeme in einer und eben derselben Wissenschaft. Man pflegt aber auch hierinn zu übertreiben, wodurch man an statt der vorigen Verwirrung, Steifigkeit und Einseitigkeit hervorbringt. Man will eine jede Wissenschaft und ein jedes System, ihrer Natur zuwider, völlig rein erhalten. Bei weiterem Fortschritte in den Wissenschaften lernt man erst diese wichtige Wahrheit kennen, daß so wenig das Trennen allein, als das Verbinden zu gebrauchen sey, sondern: medium tenuere beati!
Maimon.

Erläuterungen:

a: Schmid 1791

b: Maimon 1791a.

c: Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Numero 7, Sonnabends, den 7. Januar 1792, Sp. 49-52.

[29]

Zur Seelennaturkunde.

1.

Zwei Briefe von Taubstummen.*) 1

<a.>

Herberg, Peter von der

Creyfeld den 11ten Juli 1791.

Lieber Freund!

Es freuet mich dir kennen zu gelernet haben, ich wünsche daß du noch wohl und gesund in Braunschweig bist. Ich denke oft an dich, weil [30]du bist ein kluger und braver Mann, ich habe dich recht lieb, und verehre dich. Wie befindet sich deine liebe Frau Gemahlin und liebe Tochter. Ich bin vergangenen Donnerstag Morgen früh um 5 Uhr mit meiner Mutter, Herr Heinicke, meine Schwester und Herr Commisionsrath Oppermann und seine Familie von hier nach Mors bei Mademoisell Rappert gefahren, wir sind daselbst abgestiegen und ihr besuchet; wir haben Kaffe getrunken, und Hesbelges dazu gegessen, hernach sind wir bei der liebenswürdige Madam Martin zu Tische gegangen, und haben daselbst gespeiset und getrunken. Es hat alles vortreflich geschmeckt. Nachher haben wir Kaffe getrunken. Nach dem Trinken sind wir spatzieren in Herr Wilhelms sein Garten vor dem Thor gegangen, sind in einem kleinen Schiffchen dem Wasser übergefahren und nach eines schönes Gartenhaus gekommen. Ich habe daselbst in eine Schaukel gesessen und mich geschaukelt. Ich habe gesehen, daß Bauernkerls Fische gefangen haben. Wir haben Butterbrod gegessen und Wein dazu getrunken, darauf habe ich von Madame Martin, Mademoisell Sixt, 2 Mademoisell Rappert und Herr Wilhelms und seine Familie Abschied ge-[31]nommen, und ihnen dreimal geküßet und gesaget: Adje lebe Wohl, und wir sind von Mors nach hier angekommen. Madam Martini ich recht lieb habe, wie ein lieber Herr Kampe, Sie auch ist eine recht liebenswürdige, brave, artige und kluge Frau. Sie hat vorige Woche ein recht schönen Brief an mich geschrieben, und ich habe ihn durchgelesen, und mich darüber gefreuet. — Gestern Abend um halb zehen Uhr sind viele Menschen in der Reformirten und Katholischen Kirche sehr geschwind gegangen, und sie haben daselbst sehr stark geläutet. Viele Menschen haben es gehöret — sie sind sehr geschwind nach Vitingshof gelaufen, haben es gesehen, daß 2 Häuser sind abgebrannt, haben es ausgelöschet und Herr Heinicke hat mir erzählet daß 2 Schweine und ein Hund sind todt verbrannt, die Kuh und das Pferd sind aus dem Stall auf dem Felde gelaufen. Ich auch hingehen wollte, aber meine Mutter hat mir gesaget, ich soll zu Hause bleiben. Ich bin außerordentlich darüber erschrocken, und ich habe gesaget, Potztausend, Ich bedaure die armen Leute recht und ich putze alle Abend das Licht aus vorsichtig. — Sei so gütig und schreibe dich und deine Frau Gemahlin und liebe Tochter in mein Stammbuch und sage deine Tochter, sie soll etwas hübsches darin zeichnen zum Andenken. Ich habe dich auch recht lieb. Ein Kompliment von mir an deine liebe Frau Gemahlin. Auch ein Kompliment von meine [32]Mutter und Herr Heinicke an dir und deine Frau Gemahlin, Herr Professor Stufe und Mademoisell Tochter. Ich bin

Dein

gehorsamster Jüngling und Freund.

Peter von der Herberg.


<b.>

Lammets, Johanna

Creyfeld den 15ten Julius 1791.

Mein lieber Freund!

Ich freue mich daß du gesund und wohl bist. Herr Heinicke hat zu mir gesagt, ich soll einen Brief an Herrn Educationsrath Kampe schreiben.

Vor ohngefähr halb Jahr bin ich mit Madam Winkelmann und Peter nach Emmerich gefahren, und wir haben daselbst meine liebe Mutter besuchet, und haben bei ihr gelogiert und wir haben daselbst auf der Kirmse gegangen. Vor ohngefähr zwei Wochen vor 11 Tage Herr Johan Winkelmann ist nach Emmerich gereiset, und er hat bei Herr Geeven gelogiret, und er hat daselbst auf der Kirmse gegangen. Ich bin mit Madam Winkelmann ihrer Schlafstube zu Bette [33]gegangen.*) 2 Zukünftigen Donnerstag Morgen oder Nachmittag oder Abend werden meine Mutter Bruder, und der Johan Winkelmann aus Emmerich hier ankommen, und sie werden bei mich besuchen und sie werden bei Madam Winkelmann logiren und ich freue mich sehr darüber. Ich werde zu meine liebe Mutter sagen: guten Tag, es freuet mich dir wohl zu sehen. Wie hast du dich so lange befunden.

Sey so gütig und mache ein Kompliment von mir an mein lieber Herr Educationsrath Kampe seine Frau und deine Tochter, auch ein Kompliment von Herr Heinicke. Ich bin

Deine

liebe Freundin und Jungfer

Johanna Lammets.

Fußnoten:

1: *) Diese beiden Briefe sind mir vom Herrn Edukationsrath Campe in Braunschweig gütigst mitgetheilt worden. Wegen des ganz eignen und zuweilen homerischen Ideengangs verdienen sie gewiß in einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde einen Platz.
Moritz.

2: *) Diese Kleine wohnt nicht bei mir, sondern bei einem gewissen Herrn Winkelmann. Sie will damit sagen: sie hätte, sobald Hr. W. verreist war, bei der Fr. W. geschlafen.
Heinicke.

[34]

2.

Untersuchung der Möglichkeit einer Charakterzeichnung aus der Handschrift.

Grohmann, Johann Christian August

Der mit einem geistigen Aether durchströmte Nerve empfindet sehr vieles, was für den gröber organisirten Boeotier gleichsam Nichtexistenz ist, und das durch Erziehung höher geschrittene Menschenalter entdeckt eben so viel neues, wofür der noch in seinem harten Knochengebäude ruhende Embryo des Menschengeschlechts weder Empfänglichkeit noch Gefühl hatte. So steht denn täglich eine neue Welt auf, nicht allein umgeänderte Modifikazion der alten, sondern würklich neue Schöpfung, für den empfindenden nicht minder, als für den physischen Menschen neue Welttheile und Kolumbusse. —

Schwärmer nennt unser Zeitalter unter andern auch diejenigen, welche, wie jener kühne Seefahrer auf der Spitze seines Schifs, solche unbekannte Welttheile ahnden — die der periodischen Erziehung ihrer Zeitgenossen vorangeschritten, den Leibnitzischen Uebergang von dem rohern zu dem künftigen gebildeten Menschengeschlechte machen, und die ihre nur von fern ahndenden Empfindungen den schon alles entdeckt glaubenden Zeitgenossen verkündigen. Gewiß drängen solche feiner gebildete [35]Menschen ihre Entdeckungen nicht in kalte Schlußformen und systemfähige Periodenreihen, durch welche sie sie auch nicht gefunden und erkannt haben — freilich gränzen sie mit ihrer glühenden Einbildungskraft und schwebenden Empfindungen mehr an Dichter als an Philosophen an: — ist aber auch etwas natürlicher, als dieses, mehr mit dem Geiste jeder gefundenen Wahrheit übereinstimmend, als daß sie eher empfunden, als gedacht, eher gedichtet, in Gefühlen geahndet, als trocken dargestellt werden kann? —

Auf der ewigen Ausdehnung der Körperwelt schweben die ewigen Denkformen der Seele — der Geist Gottes — um durch sinnliche Analogie von außen die angebornen Wahrheiten und Gesetze des geistigen Wesens zu entwickeln, und so Welt, Körper und Geist zu einer gegenseitigen harmonischen Mitwürkung zu stimmen. Seele und Form der körperlichen Ausdehnung sind gleich ewig — gleich angeborne Gesetze und Wahrheiten: mit einmal sinkt also das Gebäude, das jede der philosophischen Partheien — eine für ihre angebornen Denkgesetze — die andere für ihre sinnliche Erfahrung — einseitig aufführt: Seele und Welt, Denkgesetz und Ausdehnungsform ist eins, nur dieses versinnlicht das Band einer harmonischen Entwickelung und einer gegenseitigen Erziehung. —

[36]

Empfindung ward so gleichsam die Grundlage der Vernunft, der empfindende Mensch, der Vorgänger des Denkenden und der Schwärmer der Vorläufer des Philosophen. Erst sinnlich äußeren Anreitz — denn auf Empfindung und Ahndung schwebender Geist der Einbildungskraft — und endlich vollendete klare Erkenntniß und abgezogene Wahrheit. Leibnitzisches durch feinere Sinnorgane gewecktes Ahnden einer ewigen Stufenfolge der Schöpfung und endlich durch Erfahrung und Denken geprüfte und gefundene Wahrheit derselben. Darfst du noch vor dem Nahmen Schwärmer erröthen, Lavater; — noch staunen, daß deine so innig empfundene Harmonie des Menschengesichts und Menschenseele von deinen Zeitgenossen — denen du zu früh vorangeschritten, zu früh die Periode einer verfeinerten Menschheit verkündiget hast — daß von ihnen deine Empfindungen nicht verstanden, nicht mitempfunden und gefühlt werden! Laß sie nur erst zu der Stufe, wo der Geist des schwerern Nervens entlöst der Welt offner steht, nur erst dahin laß sie, gewiß sie werden deine Empfindungen noch nachempfinden — nur zu spät für dich erkennen, nur erkannt als einige Wahrheiten hinstellen! Das Genie schwärmt immer so viele Augenblicke seiner Existenz hin, so viele es mit neuen Ahndungen und Empfindungen ausfüllt. Das Genie ist jederzeit Schwärmer — nicht aber jeder Schwärmer Genie.

[37]

Ich darf weder hoffen, den Nahmen des Schwärmers zu verdienen, noch ihn fürchten, von dem grob organisirten boeotischen Allwisser zu hören, wenn ich für eine Erscheinung, die mehr, wie so manches andere, ist belacht, als geprüft worden, wo nicht Empfänglichkeit, doch wenigstens Ernst habe, um sie einer gründlichern und denkendern Untersuchung zu unterwerfen. Ich glaube, der Anthropologie einen kleinen Beitrag liefern und ihre Aussichten erweitern zu können, wenn ich sie selbst zur Entscheidung der Frage hervorrufe, und auf sie das Resultat der Untersuchung zurückkommen lasse: ob und in wie fern eine Charakterzeichnung des Menschen aus seiner Handschrift wahrscheinlich und möglich ist ? — Vier Gesichtspunkte, die ich mehr oder weniger zur Entscheidung nur angeben darf, bieten sich mir zur völligen Betrachtung dieser Frage dar:

1 ) Welchen bestimmenden Einfluß hat der Nerve auf den intellektuellen, empfindenden und moralischen Menschen? —

2) Welchen bestimmenden Einfluß leidet der Nerve selbst von den übrigen ihn umgebenden Bestandtheilen des Körpers — dem Blute, Knochen und Fleische.

3) Haben die verschiedenen Modifikazionen des Nervens auch verschiedene äußere harmonische Nachbildungen, Bewegungen, Thätig-[38]keiten der Glieder? und hat daher der Zustand des innern Menschen auch gemäßen Ausdruck in dem Aeußern seines Handelns — dem Bewegen seiner Hände, Finger u.s.w.? —

4) Ist es daher möglich, charakteristische Handschriften zu denken und durch Erfahrung in denselben Charakterzeichnungen des Menschen zu bestätigen? —

Keine Hypothese über die Struktur der Nerven scheint mir zur Erklärung der so mannichfaltigen Erscheinungen des Empfindens so zureichend und dem Hinschweben der geistigen Schönheit so angemessen zu seyn, als der Nervengeist, der den Nerven durchströmt — das feinste, unzerstörbarste der Materie, das sich nach dem Hinsinken der äußern gröbern organischen Hülle wahrscheinlich zu einem neuen feinern Medium zwischen Welt und Geist entwickelt. So lange Aufeinanderfolge und Nebeneinanderseyn die Denkgesetze jeder Geisterart bleiben, so lange der menschliche Geist sich nicht selbst zu der höchsten einzigen letzten Vollendung hinschwingt, so lange muß ein Organ da seyn, welches die möglichen Tonbestimmungen, möglichen Anreiz und Anschlag der geistigen Empfindung und Thätigkeit in sich trägt, und alle die möglichen Zeitmodifikazionen und Ausdehnungsformen, die sich in jene auflösen, nachzubilden fähig ist. Es kann für das geistige Wesen nicht gleichgültig seyn, wie das [39]Medium beschaffen ist, durch welches es Einwirkungen bekommt und austheilt, nicht für seine Thätigkeit, Art, Stärke, Geschwindigkeit derselben gleich bestimmend, ob das Fluidum mehr oder weniger geistig, mehr oder weniger träge, mehr mit diesen als jenen Bestandtheilen getränkt ist. Ohne daher selbst Abstufungen des menschlichen Geistes anzunehmen, ist dieses allein vermögend, alle die tausend individuellen Modifikazionen des empfindenden, moralischen und intellektuellen Menschen hervorzubringen, deren letzte sich an die Einheit anschließt, und deren höchste in dem kürzesten Zeitraum die mannichfaltigsten Momente der idealischen Schönheit durchgehet. Je nachdem der geistige Aether des Nerven die sinnlichen Darstellungen der Schönheit in sich zu fassen, und nachzubilden im Stande ist: je nachdem entstehen die verschiedenen Erscheinungen des intellektuelempfindenden Menschen. Aetherische Geistigkeit und stille leichte Ruhe derselben werden daher die physischen Erfordernisse zum höchsten Gefühl und Genuß des Schönen. Jene bewürkt die Empfänglichkeit für Zeitvorstellungen und das Hinschweben auf den Zeitformen der Ausdehnung: diese aber die treue Nachbildung der Aufeinanderfolge der Zeittheilchen, welche die Schönheit bildet. Mit glücklicher Bildung empfänglicher Sinnenwerkzeuge verdankt der Tonkünstler, Mahler, Bildhauer — jeder seine eigene Darstellungsart bloß diesen verschiedenen möglichen Graden der [40]ätherischen Geistigkeit und der leichten gefälligen Ruhe. Feurigerer, geschwinder, stärker würkender geistiger Aether bildet den Mahler, der alle seine Empfindungen in dem eben so geschwindern und stärker würkenden Nebeneinanderseyn darstellt: hingegen leichtere, ruhigere Geistigkeit desselben den Tonkünstler, der seine Empfindungen in der sanftern, gefälligern Aufeinanderfolge hinschweben läßt.

Der moralische Mensch leidet eben so viel Veränderungen seines Daseyns durch die verschiedene Beschaffenheit des Nervengeistes. Der Freigeist und der Religiöse — der moralische Sanguiniker und der furchtsame Gewissenhafte — jeder hat seinen eignen Boden, aus dem seine Empfindungsart hervorbricht.

Längst bewiesen ist von Anthropologen der Einfluß des Nerven auf das geistige denkende Wesen, daß ich also wohl die erste Frage dieser Untersuchung weitläuftig genug beantwortet zu haben glauben darf.

Weiter könnte ich die zweite Frage ausdehnen, welchen Einfluß der Nerve von den übrigen Bestandtheilen des Körpers leidet? weitläuftiger könnte ich hier seyn, wenn ich nicht schon diese Untersuchung anderswo durch meine Temperamentslehre vollendet glaubte.

[41]

Nur fragmentarisch — wie überhaupt diese ganze Untersuchung nichts als Fragment seyn soll — will ich die dritte Frage mit Beobachtungen des gemeinen Lebens beantworten, da sie schon überdies durch Engels philosophische Mimick und Lichtenbergs Bemerkungen aus seiner satyrischen Menschenkenntniß ist bewiesen worden.

Jeder Mensch hat nach seinem innren Charakter auch etwas äußerlich charakteristisches, äußerlich auffallendes, kontrastirendes, unzusammenstimmendes. Goldmacher, Mystiker, Apokalyptiker lasset sie ruhig bei ihrem Kruge Bier hinterm Tische sitzen, und wer kennt sie schon da nicht an der verdrehten Form ihres Hutes, den schielenden Blicken ihres Auges, dem schiefen Sitzen ihres Kopfes und Halses? —

Wie viel charakteristisches liegt nicht allein in der Form und dem Sitzen des Huts! — Jedes Temperament hat einen eigenen Schnitt, eine eigne Art ihn zu tragen: mit dem Sanguiniker ist er sanguinisch, mit dem Renomisten renomistisch, mit dem Geistlichen geistlich, dem Denkenden denkend, und mit dem Pflegmatischen pflegmatisch. Der Renomist läßt die Seitenspitzen desselben auf seine breiten Schultern herabhangen, und die Vorderspitze, die sich kolbicht zu den zwei Seitenmauern hinbiegt, rund und schier nach dem Himmel steigen. Der sanguinische Geniemacher kneipt die Spitzen [42]des Hutes klein, läßt die Vorderspitze wie ein Schif sich über das Auge hinstrecken, den Hut selbst vorne auf der Nasenwurzel ruhen, und hinten in die Höhe steigen. Auf Universitäten, wo so manches Genie, mancher Dogmatiker, Renomist, mancher Schulfuchs unter einander läuft, möchte ich Chodowieckische Tafeln von Köpfen und Hüten zeichnen! H— und J— ist der Sitz der renomistischen —, L— hingegen der kleinen Geniehütchen, und es wäre wohl keine possirlichere Grouppe von Hogarthschen Karikaturen zu bilden, als eine Verwechselung der Hüte! — Der H— mächtige Renomist auf das ausgedörrte Köpfchen so manchen L— Städtsöhnchens: und das kleine L— Geniehütchen auf den stieren Nacken und Kopf eines H— Studierenden. —

Der Handwerksbursche, der des Sonntags auf sein Bierhaus gehet, läßt die Hinterkrempe auf dem Zopfe auf- und niederschlagen, und wie eine Flagge hin- und herwehen. Manchen Reisenden — Bettler, fragt nur diesen, seine Charakteristik trügt ihn gewiß nicht, wenn er jemanden mit auf ein Auge gesetztem Hute und schleichenden Schritten herbeikommen sieht. —

Der Sanguiniker, Choleriker, Boeotier, jeder trägt seinen Arm, seine Hände anders, schwenkt sie, hebt sie, giebt sie anders. Der sich selbst genüg-[43]same Pflegmatische, der eben so wenig Stärke in seinem Kopfe als in seinem Körper hat, läßt seine langen Hände an den Hüften herunterbaumeln. Der gichtische Hektiker schwenkt sie in tausend Zuckungen um seinen Kopf herum. Der handfeste Renomist drängt seine Hand und Finger in einem Knoten zusammen, um so seine Stärke in einem Punkte konzentrisch zu fühlen.

Wie der Kopf, so der Fuß: — und — bei denen dieser mehr vermag, als jener — der Fuß wie der Kopf. Kein Mensch gehet mit dem andern gleich, so wie keiner dem andern ganz gleich ist. Der Pflegmatiker nimmt sich gerne, wie er sagt, bei seinem Spatziergange Zeit: der Sanguiniker um sich Motion zu machen, läuft bei Spatzierengehen Bothschaften: der Boeotiker aber geht seinen angefangenen Schritt fort; das heißt, einen derben taktmäßig langsam sich erhebenden und niederfallenden Hufschlag. Beobachter setze dich auf öffentliche Wege, Alleen, Gärten, wo deine Welt vorbeispatzieret, — so mancher gottesfürchtige Handwerker, und schwere Gelehrte, so mancher springende Windbeutel, und schwerfällige Handelsmann; so manche naseweise Ehefrau, so manche auf ihre Unschuld, auf ihre noch unberührte Jungferschaft haltende Jungfer mit steifem Rocke, und fest versiegelten Halstuch; — und so manches arme in dem Hinsehnen ihrer Empfindung und dem [44]Augenblicke der Liebe gefallene, vor dem schiefen Blicke ihrer keuschen Schwestern, erröthende Mädchen einander begegnen: dahin setze dich, wenn dich Unwillen und Verachtung des Lebens ergreift, bitterer Spott, daß du dich verkannt und Thoren gekannt siehst; — setze dich dahin nur einen Augenblick, und gewiß, du wirst ruhig in deine einsame Kammer zurückkehren, und stolz danken, daß du nicht reicher Kaufmann, nicht reicher Thor, nicht reicher Schwelger bist, sondern daß du das bist, was du bist und nicht scheinst, daß du bist, was andere nicht sind, die nur scheinen. Kunst, Zwang, selbst können nicht den Charakter verdrängen, der sich äußerlich dem innren nachbildet, in den Vergnügungen, den Spielen jugendlicher Unschuld, dem Tanz, der jetzt Drahtzieherei und maschinenmäßige Bewegung ist. Keinen einzigen findest du unter hundert, die alle bei einem Tanzmeister gelernt haben, der nicht einen eignen Charakter in seine Bewegungen, ein eignes Temperament in seine Tanzart einmischte. Gehe auf Hofbälle, willst du stolze, fette in sich eingewickelte Hofnarren und Hofleute sehen, und eben so widerliches Auftalpen und Fortschleppen des Tanzes: — in Schenken bei ländlichen Kirmsfesten, willst du dich an dem reinen rohen unverzärtelten Ausdruck der Freude vergnügen: — und in die Wohnungen weiblicher jugendlich blühender Unschuld, wenn du dich an ihren Tänzen deiner warmen Empfindung, deiner Liebe freuen [45]willst. Wie der Charakter der Seele, so der Ausdruck des Körpers die Mimik.

Zugestehen wird man mir dies, denn Erfahrung redet zu deutlich dafür, und das Alter der Beobachtung, welches an dem Glauben des Menschen so viel Theil zu haben scheint: ohne mir die hergeleiteten Schlüsse und Folgerungen gelten zu lassen, daß also auch die Handschrift den Charakter ihres Schreibers an sich tragen, und eine Charakterzeichnung aus derselben, wie aus der Bewegung der Hände und Füsse, möglich seyn müsse. Ist denn jenes nicht eben sowohl, als dieses, Bewegung des Nerven und des Muskels? und sollte sich nur hier allein die verschiedene Modifikation desselben abdrucken und abbilden? —

Lavater sagt: »ich bemerke eine große Aenhlichkeit zwischen Handschrift, Sprache und Gang des Menschen.« Ist denn auch wohl etwas physisch richtiger, als dieses, da alle diese Erscheinungen Würkungen des nämlichen Nerven und der nämlichen Nerven Modifikation sind? Das Nervengewebe des Gaumens, der Zunge, — der Hand, des Fusses haben eine Tinktur, nothwendig müssen also die sinnlichen Ausdrücke mittelst derselben nur eine Tinktur und nur eine Charakteristik haben.

Thue ich etwas mehr, wenn ich die Charakterzeichnung aus der Handschrift behaupte, als daß [46]ich die Härte, Weichheit, Ruhe, Stätigkeit, Geistigkeit und Empfänglichkeit des Nerven in den Buchstaben zu finden glaube? Thue ich etwas mehr, als jener Schriftsteller, den Winkelmann in seiner Geschichte der Kunst anführet, der aus dem härtern oder weichern Nervengewebe des Gaumens den verschiedenen Sprachausdruck herleitet: »Die Bildung des Gesichts ist so verschieden, wie die Sprachen, ja wie die Mundarten derselben; und diese sind es vermöge der Werkzeuge der Rede selbst, so daß in kalten Ländern die Nerven der Zunge starrer und weniger schnell seyn müssen, als in wärmern Ländern; und wenn den Grönländern und verschiedenen Völkern in Amerika Buchstaben mangeln, muß dies aus eben dem Grunde herrühren. Daher kommt es, daß alle mitternächtige Sprachen mehr einsylbige Worte haben, und mehr mit Konsonanten überladen sind, deren Verbindung und Aussprache andern Nationen schwer, ja zum Theil unmöglich fällt. In dem verschiednen Gewebe und Bildung der Werkzeuge der Rede suchet ein berühmter Scribent sogar den Unterschied der Mundarten der Italiänischen Sprache. Aus angeführtem Grunde, sagt er, haben die Lombarder, welche in kältern Ländern von Italien geboren sind, eine rauhe und abgekürzte Aussprache; die Toskaner und Römer reden mit einem abgemessenern Tone; die Neapolitaner, welche einen noch wärmern Himmel ge-[47]nießen, lassen die Vocale mehr als jene hören, und sprechen mit einem völligern Munde.«

Hand und Handschrift ist eins, ein Ausdruck. — Diese ist wie jene; wie sich jedes Temperament auf der Hand, dem Finger und Nagel unterscheidet: so unterscheidet es sich auch so in den verschiedenen Zügen des Buchstabens. — Noch keinen Pflegmatiker habe ich gesehen mit der Hand, den Fingern, Nägeln eines Cholerikers, — runde, fette, weiche, glänzende Hand mit kleinen fetten zugespitzten Fingern und weißen kurzen kleinen Nägeln statt der langen knöchernen mit Adern durchkreuzten Hand des Cholerikers: — kein Weib mit der Hand, den Fingern eines Mannes, wie keinen Mann mit der eines Weibes — so wie noch keinen Mann mit der stillen innig ruhig hinfließenden Empfindung des weiblichen Herzens, und kein Weib mit dem festen kalten Biedersinn, der gestählten Brust des Mannes. Die Hand arbeitet durch Einwürkung der Seele, mittelst der vielen Muskeln und Nerven, die sich an ihr herunterschlängeln und zu den Fingern hinlegen. Ein eigenes anatomisches Studium verlangt dieses Glied des menschlichen Körpers mit seinen tausend verborgenen Nerven- und Muskelverbindungen, welches nach dem Gesichte am deutlichsten die innren Bewegungen und Empfindungen der Seele abspiegelt, welches eben so, wie das geistigere Empfinden, den Men-[48]schen über das Thier erhebt, und mit welchen der Mensch zunächst die Werke seiner Unsterblichkeit aufstellt, und die Existenz seiner Empfindungen verewiget. — Das Spiel der Hände ist das Spiel der thätigen, würkenden Seele, und die Bewegungen derselben die Bewegungen des innren moralischen Herzens. Betet je wohl einer mit, statt hingesenkter sanft in einander geschlagener Hand, geballter in einander gedrängter Fingerkraft? — ist wohl einer mit eingeknippenen Händen freigebig, mit ruhigem Fingerspiel zornig? — Könnte ich die Jahre wieder erkaufen, wo deine zarte Hand sich an dem Halse deiner Mutter umklammerte, wo sie noch von keinem Nervenweh geschmerzt unschuldig in den Lüften sich hinbewegte! Erkauftest du weniger als deine Unschuld, den ruhigen zufriedenen Kindheitssinn deines Herzens? — Besonders die Ruh der Empfindung zeigt sich in der Ruhe der Hand und das quälende Gewissen des Mörders in den sich windenden Krämpfen seiner Finger! Die Angst der hinscheidenden Empfindung des Sterbenden in dem zuckenden ängstlichen Zupfen an seinem Bette oder seinem Sterbekleide. Der Mensch, der jetzt einen Gedanken entwickelt, hin und wieder aber Schwürigkeiten findet, daß er nicht seelig werden, sich nicht herausfinden kann, nimmt was ihm unter die Hand kommt, ein Stück Papier, Holz, und macht es nach und nach klein, zerbricht es in tausend Stückchen, wie er den Gegenstand selbst in [49]seiner Seele nach und nach zergliedert und gleichsam kleiner macht. Der Melancholische, der immer auf eine Idee hingerichtet ist, liest Federn von seinem Rocke, auch wo er sie nicht findet. Der Hypochondrist umfast in den ängstlichen Sorgen der Zukunft mit der rechten die linke Hand über dem Gelenkbein. — —

Die Hand also so voll Ausdruck der Seele — sollte in ihrer Bewegung des Schreibens, dem Zeichnen des Buchstabens so ganz ohne Charakteristik seyn? — die Handschrift nichts von der eigenthümlichen Modifikazion ihres Pinsels, der Hand und des Nervens enthalten? —

Wie ist dieses möglich, wirft man ein, da erstlich das Schreiben eine nach Regeln bestimmte mechanische Bewegung der Feder und mechanischer Zug des Buchstabens ist? — Wie ist es möglich, da jeder sich nach seinem Schreibemeister bildet? — Da endlich jeder Buchstabe seine bestimmten Gränzen hat, die unveränderlich sind? Wie viel kommt nicht auf die Feder an, wie sie geschnitten ist, wie ich selbst habe schreiben wollen? u.s.w.

»Das Schreiben ist eine nach Regeln bestimmte Bewegung der Feder!« Dieser Einwurf schränkt sich vors erste gleich dahin ein, daß [50]das Schreiben eine nach Regeln bestimmte Bewegung der Hand ist, mit der und durch deren Führen der Feder der Buchstabe hingemahlt wird. Die Feder verhält sich also ganz leidentlich dabei, und muß nur der Bestimmung der Hand folgen. Uebrigens aber, so bestimmt auch die Regeln der Bildung des Buchstabens sind, so viel Arten sind auch wieder möglich, diese Regeln zu vollstrecken. Giebt es nicht tausend Linien in die Höhe, je nachdem sie von der Perpendikularität abweichen, rückwärts oder vorwärts sich neigen, — giebt es nicht tausend mögliche Verbindungen der Buchstaben untereinander, rund, geschärft, spitzig, abgebrochen, oder wohl gar keine, jeder einzeln isolirt von dem andern? Giebt es nicht Züge und Verzierungen der Buchstaben, die mehr willkührlich, als bestimmt sind? — Das Mechanische, das das Schreiben zu haben scheint, fällt also ganz weg, und wird mehr ein nach dem Nervensystem der Hand sich richtender Ausdruck im Buchstaben. So wenig würklich der Tackt, das Pas eines jeden Tanzes das Charakteristische des Ausdrucks einer jeden Tänzerin versteckt und zu einer mechanischen Bewegung des Fußes macht: so wenig macht auch die Vorschrift des Buchstabens die tausend Möglichkeiten, ihn nach dem Charakter des Nervens zu bilden, unmöglich. —

»Jeder bildet sich nach seinem Schreibemeister: — « Lasset hundert Kinder bei Einem [51]schreiben lernen, und sehet nach vier, acht, zehn Jahren ihre Handschriften an: glaubt ihr dann wohl noch viel Aehnlichkeit mit ihrem ehemaligen Schreibemeister zu finden, viel von der Bildung, die einst von ihm ihren Buchstaben ist vorgezeichnet worden? — Der harte feststehende perpendikuläre Buchstabe des mechanischen Schreibemeisters wird ohnmöglich der Buchstabe des Nervenschwachen, — des empfindsamen Dichters werden können, trotz alles Unterrichts nicht das harte mechanische der Vorschrift die Handschrift der weichern Mädchen, die sich nach ihr bilden sollen. Der Schreibemeister thut weiter nichts, als daß er die Art die Zeichen zu machen lehrt, wodurch Worte geschrieben werden. Weiter thut er nichts, nicht im Stande ist er bis zur einzigen Nachbildung seines Buchstabens zu tyrannisiren. — Freilich fällt die Möglichkeit einer Charakterbestimmung ganz weg bei dem Kinde, das jetzt unter der Zucht des Schreibemeisters stehet, oder nur seiner Hand entlaufen ist; so wie der Charakterausdruck des Temperaments in dem ängstlichen Tanze des Kindes nicht möglich ist, ehe es das steife Pasmachen des Tanzmeisters verlernt, und durch Uebung sich von dem Blick auf die Füsse gewöhnt hat. —

»Jeder Buchstabe hat seine bestimmten Gränzen: — « Wer setzt ihm diese Gränzen, gewiß ihr blos, die ihr mir dieses einwendet. Ich [52]finde wenigstens keine Gränzen beobachtet in den Buchstaben des Sanguinikers, nicht dieselben in denen des Cholerikers, noch weniger die nämlichen in denen des Pflegmatikers oder Boeotikers. Jeder setzet sich seine eigenen Gränzen, macht sich seine eigenen Formen, seine eigenen Zusätze durch Züge, seine eigenen Abkürzungen, kurz seine eigene Bearbeitung des Buchstabens. Eben dieses ist ein Beweiß, weil jeder Buchstabe gewisse Gränzen haben sollte, aber sie nicht hat, daß Ursache, physische Ursache des Körpers, des Nerven, des Temperaments, das auf die Seele Einfluß hat, da seyn müsse, welche diese Gesetzlosigkeit hervorbringe, — eben die Ursache, welche in der Mahlerey den verschiedenen Styl und den verschiedenen Umriß bildet.

»Wie viel kommt allein nicht auf die Feder an? — « Nicht mehr als auf den Pinsel, der die Empfindungen des Mahlers auf der Leinewand lebendig darstellt, und noch weniger, da der Schnitt der Feder selbst von der Hand des Schreibers abhängt, aber der Pinsel das Verdienst des Handwerkers ist, der sie alle nach einer Regel, nach einer mechanischen Routine macht, ohne auf den Mahler zu sehen, der ihn brauchen wird. Freilich mit einer verdorbenen Feder kann die Handschrift nur halb und wenig charakteristisch werden; wie mit einem verdorbenen Pinsel das Gemälde eines Mahlers, oder mit einer abgestumpften Reißfeder das [53]Portrait eines Menschen. Ist dieses aber gut, was soll es hindern, daß sich das Charakeristische des Menschen von dem Nerven der Hand mittelst der Feder in dem Buchstaben herabsenke? — Wie der Mahler, so das Gemählde: wie der Schreiber, so seine Handschrift.

»Ein Mensch unter Ludwig dem XIV. konnte aus der des Königs seiner sehr ähnlichen Schrift eines Grafen mit Zuverläßigkeit schließen, daß der Schreiber ein verächtlicher Kerl sei.«*) 1

Dieses ist ein Erfahrungsbeweiß, der freilich wenig gelten darf, und wenig gilt; denn es gab auch Wahrsager und Sterndeuter! —

Wie jeder Mensch nur eine Physiognomik hat, so hat er auch nur eine Handschrift — wie nur einen Charakter: so auch nur einen Ausdruck desselben. Diese verändert sich eben so oft, als jene, hat eben sowohl, wie jene, ihre physischen Zeichen der Kindheit, Jugend, Mannheit und des Greisenalters. Diese ist eben so schwer, als jene, zu verstellen; wie hier immer die Grundphysiognomik bleibt, und nur die beweglichen Muskeln und Nerven anders gefaltet werden können, als die innre Empfindung will; so bleibt auch gewiß hier bei aller [54]Verstellung der Grundcharakter der Handschrift, obschon durch erzwungene und verstellte Züge verdunkelt. — Ich habe immer gefunden, daß das Vermögen der Verstellung der Handschrift mit dem der Verstellung des Charakters und des Gesichts gleichen Schritt gehet. Beides setzt bewegliche Nerven, geschmeidige Muskeln, die nicht an eine Bewegung gebunden sind, voraus — beides also physisch sich nicht widersprechend, sondern mit einander übereinstimmend. Hundert will ich daher nehmen, die ihre Handschrift eben so wenig ganz sollen verstellen können: so wenig sie ganz den täuschenden Schmeichler und Versteller ihrer Empfindung vor dem Kenner sollen spielen können — und nur den hundert und ersten erst nehmen, der beides chamäleonisch täuschend vielleicht unter andern Farben wird verstecken können. Je mehr der Mensch daher zu jedem Ausdruck sich stimmen, je mehr er Schmeichler und Hofmann seyn kann: desto besser kann er dieses und jenes, Handschrift und Gesicht verziehen und verstellen. — Briefe, Handschriften nachmahlen, war dieses wohl je mehr in Gebrauch als bei Kabalen der Höfe? — Und auch hier wie schwer, Hände nachzubilden; eben so schwer, als sich in die Empfindung des andern zu versetzen.

Monath lange anhaltende Uebung gehört dazu, der größte Fleiß, das charakteristische einer andern [55]Handschrift abzulernen und auch nachbilden zu können. — Ein neuer Beweiß ist mir dies, wie wenig willkührlich die Zeichnung der Buchstaben ist, und wie genau mit der Nervenmodifikation und mit dem denkenden Charakter zusammenhängend, da es bei aller Mühe seine Hand zu verstellen so schwer ist. Nur mit deinem Charakter legst du die Handschrift ab: so wie nur mit deiner Nervenmodifikation deinen Charakter.

Die Anthropologie hat noch keinen sichern Maasstab, wornach sie die Reizbarkeit, Empfindlichkeit des Nervens bestimmen, und hieraus die Empfindlichkeit des Charakters angeben könnte. — Ich glaube, daß die Handschrift wohl der sicherste, bestimmteste und zugleich sinnlichste Maasstab, dafür seyn könnte, — sicherer weniger täuschend, als, wie Lavater will, das Haar, wobei das Gefühl so täuschend, und das Auge bei der Vergleichung so wenig bestimmt entscheidend seyn kann. Die vielen Nerven, die die Hand umgeben, und die fast unmittelbare Würkung derselben auf die Handschrift bürgt uns dafür, daß wir aus derselben sichere Resultate und Schlüsse auf die Lebhaftigkeit, Ruhe, Feinheit der Empfindung, auf den Muth, die Kühnheit, Standhaftigkeit, Ausdaurung des Menschen machen können, daß wir schon aus der Handschrift schließen können, welchen Patriotismus diesen beseelt — ob er blos aufbrausender Sanguinismus [56]oder ausdauernd und kühn ist — ob den Gefahren entgegengehend, oder furchtsam in sich zurückziehend? —

So einfach der Buchstabe ist, so viel unendliche Richtungen sind in ihm möglich, und eben so viel verschiedene Charakterbestimmungen enthält er. Seine Höhe, Dicke, Schärfe, Verbindung, seine ganze Gestalt ist für die kleinsten Schilderungen des menschlichen Herzens entscheidend.

Wie sich das individuelle Alter des Menschen in der Handschrift abmahlt und diese sich mit jenem verändert: so mahlt sich auch das Alter des Menschengeschlechts in derselben ab. — Der physische Zustand des Menschen, welche Perioden ist dieser nicht durchgegangen, und die Handschrift, als Ausdruck des Nerven, sollte immer noch die des ältern Deutschen seyn, immer noch das harte, unbiegsame desselben an sich tragen. — Nehmet die Handschriften unserer Vorfahren vor einigen Jahrhunderten, und vergleichet sie mit denen der jetzigen Zeit! Jene sprechen ganz von Alterthum, von fleißigem unermüdeten Sammlungsgeiste und weitläuftig voluminöser Gelehrsamkeit — diese hingegen von Empfindung, von philosophischem Geiste und mehrern Weltumgang.

Nicht weniger giebt es Nationalhandschriften, als Nationalcharakter und Nationalphysiognomien. [57]Schreibt der Franzose wohl so wie der Engländer — der Deutsche wie der Franzose? — Die Anthropologie hat würklich noch manchen Wunsch zu thun, der freilich nicht für den festern aktenmäßigen Kopf ist. Was wäre wohl ein bleibenders Denkmahl des Charakteristischen jeder Nation, als eine Aufstellung ihrer Handschrift, wie die ihrer Nationalphysiognomie? — Die gute Vorwelt hat uns Beweise zur Bestätigung der obigen Behauptung hinterlassen.

Der Römer, so fest, muthig, männlich, ausharrend, gedrängt das Gefühl seiner Mannskraft war — so voll seine Sprache, so groß seine Physiognomik: — so voll, so rund seine Handschrift.

Der Grieche, so sehr intellektuelle Schönheit, platonische Liebe genießend, so weich, so geistig sein Nerve: — so fortfließend, sich fortschlängelnd, wellenlinienmäßig auch seine Buchstaben.

Der alte Bewohner Germaniens, wo die Natur noch ihre rohe angebohrne Festigkeit hatte, zog seine Buchstaben eben so fest, so perpendikulär, als Ausdruck des Festen, eben so quadratförmig, als das Zeichen der Unerschütterlichkeit hin. Hier blos Vormauer und sich brechende Scheidewand.

So heiß die Einbildungskraft, das Blut des Morgenländers, so ausschweifend seine Dich-[58]tungsart: so bilderreich, ausschweifend, heiß auch gleichsam seine Handschrift. —

Je fester, trockner der Nerve, je unbeweglicher und mit dem Knochen gleichsam eins, je kälter die Empfindung: — desto stehender perpendikulärer der Buchstabe, desto regulärer ihre Ordnung, gerade horizontal ihre Linien und desto gleichbleibender die ganze Handschrift. Keine hinschweifenden untereinander liegenden Buchstaben, keine springenden Züge: sondern alles abgemessen, abgezirkelt und in Proportion.

Festigkeit, Ruhe der Empfindung — Indolenz zeigt sich in dem Buchstaben eben so, wie in der Bewegung, Fortschreiten des Fußes durch ruhiges, kaltes Hinlegen, gerades Auftreten, Fortschreiten und taktmäßiges sich nicht übereilendes Aufheben desselben zum neuen Niederlaß. Siehst du eine Handschrift, die Muster akkurater Gleichförmigkeit, sich immer gleichbleibender Stoicismus ist: so kannst du dich nicht täuschen — der Schreiber gewiß kein Mensch, der für Kunst, Schönheit, platonische Liebe Gefühl hat, sich zum Dichtungsgeist hinschwingen kann: sondern Aktenwühler, mechanischer Händler, der kalt aussieht, kalt auch genießt, und kalt dein Freund ist. —

Gott bewahre mich für eine schöne Handschrift, wie für ein kaltes unempfindliches Auge für Schön-[59]heit und ein unempfängliches Herz für Liebe und Freude Gottes! — Was heißt denn schön schreiben nach der gemeinen Sprache des Lebens? — einen Buchstaben wie den andern hinsetzen, in eben der Proportion, Weite, Höhe, Dicke, eine Linie so horizontal wie die andere, und so abgemessen distant von einander und schöne Züge, d.h. die von dem festen, harten Nerven ihres Schreibers zeigen. Könnte ich doch einen Aufwärter eines Naturalienkabinets hinters Ohr schlagen, wenn er mir neben einer Wallfischribbe auch, wie er sagt, eine schöne Handschrift zeigt, d.h. eine Reihe von perpendikulären, gleich starken, gleich hohen, gleich zugespitzten, eingepfählten da stehenden Buchstaben, die irgend ein Waisenknabe, der mehr Talent zum Schneider, Schuster, Baumeister, als zum Gelehrten hatte, dem Papiere aufgemahlt hat. Laßt einen solchen Knaben, der so schön schreibt, daß es wie gedruckt aussieht, lieber ein Handwerk lernen; denn hier ist das Loch, wo allenfalls mit einer mechanischen festen Hand alles gethan ist: — um Gottes Willen aber keinen Gelehrten, wenn nicht ein Pedant in der Welt mehr werden soll, ein Systemgelehrter, Vielwisser, der alles seinem Leisten anpassen will, den er sich in seinem Kopfe, der diesem gedrehten Holze nicht viel ungleicher ist, gemacht hat. Ein Gelehrter muß, wenn auch nicht Genie, doch genieartig und mehr als Handwerker seyn. — Schöne Handschrift nenne ich, wo ich Ausdruck [60]von dem Genie ihres Schreibers, seiner Empfänglichkeit für Schönheit und Empfindung finde: — freilich ist just diese nach der Sprache des Lebens garstig geschrieben, unordentlich, die Buchstaben untereinander liegend, und die Züge schief konturirt. Solche Handschriften würde ich auf ein Naturalienkabinet thun, neben den seltnen Produkten des menschlichen Geistes, wenn diese dort zu finden wären. Ich habe viel dergleichen Schönschreiber gesehen und gekannt: der eine hatte schon in seiner Kindheit wegen der schön gemahlten Buchstaben die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf sich gezogen, der ihn eben deswegen hatte wollen studieren lassen. Jetzt ist dieser Schönschreiber Schneider, ein genauer, fleißiger, akkurater und gottesfürchtiger Handwerker. — Wer Verstand hat, dem giebt auch Gott Amt, der Mensch trägt es gleichsam vor sich her, was er einst werden soll, sagt Lavater irgendwo. — Die Natur wußte besser dem Mahler dieser Buchstaben Amt zu geben, als sein Pfarrer. Ein anderer ist Geistlicher, der dem Inspektor seiner Diöceß Gedichte wie gedruckt geschrieben überreicht: — ein Mann, der seine hebräische Bibel jährlich ein paarmahl durchliest, und sie schon funfzigmahl durchgelesen hat — nicht aber empfunden, philosophisch nach dem Geiste des Morgenlandes studiert, sondern analysirt, die Punkte gezählet, falsche Accente angemerket und grammatische Lesearten verglichen. Ein dritter war ein jun-[61]ger Studierender, der seine Manuscripte in der größten Ordnung der Buchstaben abschrieb: jetzt ist er Aktenschreiber. —

Lavater beantwortet einen Einwurf: »Aber die schönsten regelmäßigsten Schreiber sind oft die unregelmäßigsten Menschen — wie die besten Prediger — und dennoch würden die besten Prediger noch unendliche bessere Prediger seyn, wenn sie die besten Menschen wären. So die Schönschreiber. Sie würden noch edler, noch schöner schreiben, wenn sie zu ihren Talenten noch gerade so viel Herz hätten.« Ich würde diesen Einwurf nicht beantwortet, sondern ihn ganz widerlegt haben. Nicht allein Erfahrung, sondern auch physische Kenntniß des Körpers können Beweise hergeben, daß ein solcher Schönschreiber, wie ich ihn oben beschrieben habe, und wie ihn das Leben nennt, nicht ein unregelmäßiger, ausschweifender, sanguinischer Mensch seyn kann.

Je mehr Genie — desto weniger Schönschreiber: nicht aber daher der Schluß, je weniger Schönschreiber — desto mehr Genie. Wie viel Genies würden sonst bald nicht in der Welt seyn, wenigstens genieartig schreiben! Es giebt noch tausend Modifikationen und wesentliche Unterschiede, unter schlechten Handschriften. Der Nervenschwache, der Gichtische schreibt eben so schlecht, als das Genie, ohne deswegen Genie zu seyn. [62]Der Sanguiniker schreibt eben so wenig schön, als das Genie. Nur der Kenner und Beobachter erkennt unter den schlechten Handschriften die tausend Abdrücke des menschlichen Empfindens und des menschlichen Geistes. —

Wie jedes Temperament seinen Körper hat, in dem es wohnt, jeder Körper seine eigene Hand, und jede Hand ihre eigene Handschrift: so muß auch jedes Temperament seine Handschrift haben, wo es seinen Charakter abmahlt, wenn überhaupt der ganze Mensch in allen seinen Handlungen, Aeußerungen seinem Körper mit sich selbst übereinstimmend seyn soll. Nichts ist wohl natürlicher, als dieses, nichts wird aber zugleich auch wohl mehr das Kopfschütteln erregen, als der Versuch, Handschriften mit Temperamenten in Uebereinstimmung, und jene, wie diese in Klassen bringen zu wollen. Und doch ist nichts leichter, als dieses, nichts leichter durch Erfahrung und Anthropologie zu beweisen, als dieses. Die Handschriften lassen uns den Menschen in eben so viel Temperamentsunterschieden erscheinen, als die Physiognomik und das tägliche Leben des handelnden Menschen. Eben so viel Klassen von Temperamenten, eben so viel giebt es von Handschriften: so viel Abstufungen und Unterarten jedes Temperaments: so viel Abstufungen der Aehnlich- und Unähnlichkeiten der Handschriften.

[63]

Ist es gewiß, daß jedes Temperament sich eine eigene Physiognomik bildet, auf einem gewissen Kopfumrisse, Wölbung der Stirne u.s.w. ruhe, so ist es wohl eben so gewiß, daß nach dem äußern Ansehen der Physiognomik die Handschrift des Menschen zu bestimmen ist, und daß es nicht blos Marktschreierei sei, nach dem äußern eines Menschen auch das Charakteristische seiner Handschrift vorherzusagen. Aehnliche Menschen haben ähnliche Handschriften, — unähnliche auch unähnliche. So wenig sich Mann und Weib, Jüngling und Greiß, Kind und Mann einander ähnlich sehen, so sehr disharmonirt auch gleichsam das Alter, das Gepräge ihrer Handschriften. Sanguinische Menschen, je mehr sie sich in dem Sanguinismus einander gleich waren, habe ich immer in ihren Buchstaben eine Regel, ein Gepräge und ein gleiches Kolorit beobachten gesehen. Cholerische Menschen eben so das brennende, das heiße ihrer Empfindung in ihren Handschriften durch das eckigte, scharfe, spitzige, gebrochene, lange gezogene ihrer Buchstaben, die wie Bajonette vorgestreckt liegen. Wie der Sanguiniker, wenn er irgend ein interessantes Faktum seines Lebens oder seiner Reisen erzählt, es mit den Händen gleichsam nochmahls vor sich hinmahlt: eben so mahlt sich auch das unruhige, unstäte in dem hingeschliffenen, unordentlichen seiner Buchstaben ab. Wie der Sanguinismus ruhiger wird, wird auch die Handschrift ruhig, bis [64]er sich endlich in das Pflegma verliert, welches seine Buchstaben gerundet, mit ziemlich dick aufgetragenen und groben Farben hinlegt. Sein Arm, seine Hand ist mit zu vielem Fette umwunden, um in seinen Bewegungen spitzige Winkel zu machen. —

Nichts ist lächerlicher, als den Brief eines gichtischen Hektikers zu sehen: wie er seinen ganzen Körper in gichtischen Zuckungen bewegt: so ist auch seine Handschrift, wie eine Hogarthsche Tanzgesellschaft, die in tausend Winkeln ihre Pas vor- rückwärts und zur Seite macht. —

In wie fern von Empfindung, Grundsätze, Verstand, Geist, Genie abhängt; in so fern ist auch aus der Handschrift analogisch gewisse Schlußart auf Anlage, Talent, den Geist und Kopf ihres Verfassers möglich. — Kritiker — Geschichtswisser — Mathematiker will ich wohl unter tausend Handschriften mir Gewißheit herausfinden, und habe sie auch jederzeit, ohne mich zu trügen, herausgefunden. Eben darum ist es so leicht, diese zu erkennen, weil die Nerven und der Körperbau die erste Veranlassung und Anreitz zu diesen Wissenschaften ist. Der Kritiker scheint mir blos eine Geburt des unruhigen, gichtischen, empfindlichen, überall Anstoß findenden scharfen Nervengeistes. Der Mathematiker eine Geburt des festen, starken, unempfindlichen Nervens: — und der Geschichtswisser — des sanguinischen Bluts, in wie fern dadurch das [65]physische des Gedächtnisses befördert wird. Je mehr von allen diesem — desto charakteristischer, wenig täuschender die Handschrift. Man mache sich eine Sammlung von Handschriften dieser Gelehrten, und man sehe, wie charakteristisch jede derselben und wie treu ihr allgemeiner Charakter ist! —

Nichts läßt sich leichter aus der Handschrift erkennen, als der moralische Mensch, seine Gesinnungen, Empfindungen, häuslichen Freuden, seine Religion und sein Handel, weil dies alles für den Anthropologen Erscheinungen des physischen Menschen sind. Der Gutmüthige ist auch in seinen Buchstaben gleichsam gutmüthig, frei, verträglich. Der Satiriker auch in seinen Buchstaben scharf, spitzig, stechend, wie der Stachel seines Witzes. Der Argwöhnische auch seine Buchstaben einen hinter den andern versteckend, zurückhaltend. Der Reinliche auch in seiner Handschrift reinlich. Der Geitzige auch in seinem Buchstaben karg und schmutzig. Der Galante auch in seinen Buchstaben galant und geputzt. —

Körperbau, Stimme, Farbe, Haar, alles ist für den Beobachter des Menschen auch leicht in der Handschrift zu finden — ich sage für den Beobachter des Menschen, der ihn zugleich als Anthropolog kennt. Blonde Haare, blaue Augen, weiße rosichte Wangen des Mädchens — niemahls habe [66]ich sie in der Handschrift verkannt, oder gefunden, wo sie nicht waren.

Harmonie, das einzige Gesetz der Reihe der Dinge! — und doch nicht Harmonie zwischen den Menschen und dem zeichnenden Bilde seiner Gedanken? — So ewig Harmonie zwischen Sprache und Vernunft, so ewig hier sein eigener Schöpfer: so ewig auch sein eigener Bildner und Zeichner. Ewiges Gerede, philosophisches Geschwätz von Harmonie der Schöpfung Gottes, wenn sie nicht auch in dem gesternten zerstreuten Spritzen des Wassertropfens seyn soll, in dem sich die elastische Fliege gekühlt hat, — und in dem langen Wasserschweif, den der pflegmatische Regenwurm hinter sich her gezogen! —

Grohmann.

Fußnoten:

1: *) Sulzers Vorübung. S. 363, 364.Sulzer 1768.

[67]

3.

Sonderbare Art des Trübsinnes. a

Bendavid, Lazarus

Im Jahre 1783 wurde mir ein junger Mann, Namens El—n, der seit einiger Zeit trübsinnig geworden, von meinem Freunde aus K. in P. b empfohlen. Er war 1775 Komptoirschreiber in einem Hause, in welchem ich Gesellschafter der Kinder war; und durch die Art von Bekanntschaft, die ich dadurch mit ihm gemacht hatte, glaubte mein Freund in K., daß ich mich des Unglücklichen nicht ungern annehmen würde. Als ein Kind von zwölf Jahren war ich, bei meiner ersten Bekanntschaft mit ihm, nicht im Stande, etwas Sonderbares an ihm zu bemerken; vielleicht hatte er damals auch noch gar nichts Auszeichnendes an sich. Doch erinnere ich mich noch ganz deutlich, daß er, nach geendigter Arbeit, mit meinem Lehrer Schach oder Piket zu spielen, und sich gewöhnlich an den Spieltisch mit den Worten zu setzen pflegte: nicht wahr, Freund! es ist mir erlaubt ein Stündchen zu spielen. Ich erfülle, Gott sei Dank, meine Pflichten treulich, und kann sie erfüllen, wie es nur immer einer kann! wer will mir nun die Erholungsstunde versagen?

[68]

Mein Lehrer hielt sich oft in seiner Abwesenheit über ihn auf; und als ich einst fragte: ob E. denn nicht recht hätte, antwortete er mir; es sei freilich nicht zu läugnen, daß E. ein geschickter Mensch sei; aber er bilde sich zu viel darauf ein. Selbst diese scherzhafte Aeußerung seiner Verdienste käme zu oft, um nicht für etwas mehr, als Scherz, um nicht für übertriebnen Stolz aufgenommen werden zu müssen.

Einige Zeit nachher hatte er einen Wortstreit über Religionssachen mit seinem Herrn, der ihn darüber für einen gefährlichen Menschen, einen Ketzer ansah, und ihm auf eine kränkende Art seinen Abschied gab. E. glaubte sich dem Hause unentbehrlich gemacht zu haben, und sah sich betrogen. Sein Stolz war dadurch zu sehr gebeugt, um länger an einem Orte zu verweilen, in welchem es, nach seinem erfolgten Abschiede, Leute geben mußte, die aus Schadenfreude seiner gespottet haben würden. Er verließ daher Berlin plötzlich, ohne seinen Freunden und Bekannten Lebewohl zu sagen, und reisete nach H., seinem Geburtsorte, zu seinen Brüdern.

Diese, die ihn in ihre Handlung nicht brauchen konnten, drangen in ihn, aufs neue in Kondition zu treten; und, da er wirklich die Wechselgeschäfte gründlich verstand, glückte es ihm auch bald, eine [69]einträgliche Stelle als Buchhalter in einem berühmten Handlungshause in K. zu bekommen.

E. war in den Jahren, wo der Gedanke, stets dienen, und von der Gunst eines Herrn abhängen zu müssen, anfängt lästig zu werden. Er wünschte einst selbst Herr werden und sein Häuschen anbauen zu können. Dazu gewährte ihm aber seine Stelle als Buchhalter eben nicht die frohesten Aussichten. Auch hatte er mittelerweile die Bekanntschaft mit der Tochter aus einem der ansehnlichsten Handlungshäuser daselbst gemacht, gegen die er nicht gleichgültig geblieben zu seyn schien. Die gefällige Aufnahme, die er bei den Eltern fand, das feine Betragen der Tochter gegen ihn, aber noch mehr sein Stolz, gab ihm den Gedanken ein, das Mädchen zu heurathen. Der jetzigen Verschiedenheit ihrer Glücksumstände ungeachtet, zweifelte er nicht, die Einwilligung der Eltern und des Mädchens zu erhalten, sobald er nur im Stande seyn würde, Frau und Kinder anständig zu ernähren. Scherzhafte Aeußerungen von Seiten der Eltern, zweideutige Ausdrücke von Seiten der Tochter, galten ihm für Einwilligung, für Liebeserklärung ; und nun war er auf nichts bedacht, als auf Verbesserung seiner Lage.

Bei den Fähigkeiten, die E. sich zutrauete, schien ihm das Studium der Medizin das Fach zu seyn, mit welchem er sich bald bekannt machen, in [70]welchem er sich bald auszeichnen, und wodurch er sich bald in den Stand setzen würde, seinen vorhabenden Plan auszuführen. Er verließ daher seine Stelle als Buchhalter, ließ sich auf der dasigen Universität als Student einschreiben, und legte sich mit ungemeinem Fleiße auf die Wissenschaften. Seinen Unterhalt hatte er der Freigebigkeit seines Herrn und der übrigen dortigen Judenschaft zu verdanken.

Damals war es, als ein dortiger Weltweise Vorlesungen über ein Werk hielt, das, ein Paar Jahre nachher, durch den Druck allgemein bekannt wurde, und den Namen seines Verfassers der Sterblichkeit entzog. c Alles strömte nach den Vorlesungen des großen Mannes hin, und E. war keiner der letzten. Sein unsterblicher Lehrer flößte ihm Hochachtung ein, und er wollte ihm in allem gleich werden. Er war sein Ideal, Er das letzte Ziel menschlicher Vollkommenheit, menschlicher Größe und Würde. Seinem großen Lehrer war abstraktes Denken Zeitvertreib, die tiefste metaphysische Untersuchung angenehme Unterhaltung geworden. Auf seinen einsamen Spatziergängen selbst, soll er sich damit beschäftigen. E. suchte ihm auch hierinn nachzuahmen. Mit Vernachläßigung seines Hauptfaches, der Heilkunde, legte er sich mit allem nur möglichen Eifer auf die Weltweisheit; las, dachte und sprach nichts als von Weltweis-[71]heit, und dachte, selbst auf den Spatziergängen, die er, seiner Gesundheit halber, machen mußte, über Gegenstände der Weltweisheit nach.

Seine Freunde machten ihm schonende Vorwürfe über seine Handlungsweise, warfen ihm die Vernachläßigung seines Brodstudiums vor, und zeigten ihm, wie verschieden seine Lage von der Lage des Mannes wäre, den er sich zum Muster gewählt hätte. Alles vergeblich, ihn von seiner Lieblingswissenschaft abzubringen, aber hinreichend auf seinen Geist widrig genug zu wirken. Wollte er über einen Gegenstand der Metaphysik nachdenken, so stellten sich ihm die Vorwürfe seiner Freunde und die Möglichkeit, daß sie ihre wohlthätige Hand von ihm abziehn konnten, mit allen ihren schrecklichen Folgen vor. Seine Aufmerksamkeit wurde dadurch getheilt, seine Ruhe gestört. Er zwang sich, sie wieder herzustellen; aber auch dieser Zwang mußte ihn angreifen.

Dazu kam noch, daß die Fortschritte, die er nun schon in den Wissenschaften gemacht hatte, ihn einigermaßen berechtigten, sich dem Ziele seiner Wünsche näher glauben, seiner Leidenschaft für sein geliebtes Mädchen ganz nachhängen, und den Eltern den Antrag förmlich machen zu dürfen. Man hielt es nicht der Mühe werth, ihn geradezu abzuweisen. Man glaubte, durch sein sonderbares Benehmen, Auftritte zu erleben, an denen das Auge [72]des ungebildeten Menschen sich leider so gern weidet, und machte ihm Hofnung. Dem unbefangenen Manne hätte die Art, wie sie ihm gemacht wurde, freilich leicht gezeigt, daß man nie dachte sie zu erfüllen. Ihn blendeten sie.

Liebe, Gewissensbisse, über die Vernachläßigung seines Hauptfaches, und spekulative Weltweisheit, als seine Lieblingswissenschaft, drängten sich stets seinem Geiste zu gleicher Zeit auf, konnten nur durch Kampf herausgehoben werden, und bekämpften endlich ihn selbst. Er ward krank.

Von seiner Krankheit genaß er; aber sein Verstand war zerrüttet. Er sprach irre; und an die Fortsetzung seiner Studien war nun nicht mehr zu denken. Seine Freunde in K. wollten ihn von einem Orte entfernen, wo die Gegenstände alle zu lebhaft auf ihn wirken, alle ihn an vorige Zeiten erinnern mußten. Sie glaubten, daß seine völlige Genesung vielleicht am besten in dem Schooße seiner Familie gelingen möchte; er sollte daher nach H. zu seinen Brüdern. Bei dieser Reise mußte er über Berlin, wo ihm, von seinen Gönnern, der Aufenthalt von einigen Monathen, zu seiner Zerstreuung verstattet wurde, und wo ihm während dieses Aufenthalts 15 Rthl. monathlich durch mich ausgezahlt werden sollten.

[73]

An einem Dienstage trat E. mit dem Manne, den seine Freunde in K. zu seiner Begleitung ihm mitgegeben hatten, in meine Stube. Es war der Mensch nicht mehr, den ich vormals gekannt hatte. Sein feiner, aber fester Körperbau war nun in eine dünne, weiche Gestalt verwandelt. Das lebhafte, sonst wilde, große blaue Auge blickte nun wild, aber matt umher; die Stirne voller Falten; das Gesicht voller Gruben: kein Blutstropfen auf demselben. Todtenbleiche überzog die Wange. Er sah mir starr ins Auge, drückte meine Hand, die ich ihm reichte, und drückte sie mit einer Rührung, die mir anzeigen sollte, daß er sich meiner noch ganz wohl erinnerte. Er sprach kein Wort. Endlich ließ er meine Hand fahren, ging die Stube mit starken Schritten auf und ab, stand plötzlich still und fragte, ohne sich eigentlich an mich zu wenden: wo werde ich logiren? Doch nicht hier? Hier sind keine Betten. Ich antwortete ihm, daß man für Wohnung und alles gesorgt hätte, was ihm noch nothwendig seyn könnte.

»Was mir noch nothwendig seyn könnte? erwiederte er hastig. Ha! ich merke schon, man hat Ihnen auch geschrieben, daß ich krank sei; aber ich bin nicht krank. Sie dorten (seine Freunde in K. nehmlich) haben mich krank gemacht — wollen mich krank machen, setzte er nach einer Weile in einem wehmüthigen Tone hinzu.«

[74]

Der Gedanke, daß man ihn krank machen wollte, schien der herrschendste bei ihm zu seyn. Alle seine Gespräche, alle seine Anspielungen deuteten daraufhin. Er nahm auch daher nicht die mindeste Arzenei zu sich, aus Furcht, der Arzt und Apotheker könnten mit seinen Feinden in Bündniß getreten seyn. Seine Gemüthslage erlaubte uns nicht, ihn zum Gebrauche der Arzenei zu zwingen, erlaubte ihm von der andern Seite nicht, in den Gesellschaften, in die man ihn einführte, diejenige Zerstreuung zu finden, die ihn hätte aufheitern können, und die er gewiß gefunden haben würde, wenn er nicht stets in sich gekehrt gewesen wäre. Er ließ sich zwar auf Spatziergängen mitnehmen, aber genoß sie nicht; sah nichts, hörte nichts, als was seinem Kummer Nahrung verschafte — und wo hätte er diesen nicht gefunden?

An einem Frühlingsnachmittage, wo die Natur in ihrer ganzen jugendlichen Schönheit sich zeigte, wo das frische Laub schon groß genug war, um die schwarzen Aeste zu bedecken, aber noch zusammengezogen, jedem frohen Auge das Bild des emporstrebenden Geistes darbot — an einem solchen Nachmittage nahmen wir E. mit nach dem Thiergarten. Die Gesellschaft war gemischt, und jeder bestrebte sich, so gut er konnte, ihn zu unterhalten. Vergebens! Einsylbige Wörter waren stets seine ganze Antwort. Nur Madam V., dieser geist-[75]reichen Tochter des verewigten M. M., glückte es, eine etwas längere Antwort von ihm zu erhalten, die uns aber alle hinriß, und den ganzen traurigen Zustand seines Gemüths entfaltete.

»Sehn Sie, lieber E., sagte sie zu ihm, wie die Natur so schön um sie her ist. Blicken Sie nur um sich; sehn Sie nur das junge Grün, und es wird Ihnen wohl seyn.« — »Mir wohl seyn! erwiederte er, und sah ihr wild ins Auge — mir wohl seyn! wiederholte er beklommen, ich sehe nicht das Grün, das Sie sehn; sehe nur das abgefallne Laub des vorigen Jahres, und mir ist weh.« Eine Thräne zitterte in seinem Auge, er war innigst erschüttert, und bat die Gesellschaft verlassen und nach Hause gehn zu dürfen.

Sein Gemüthszustand wurde, da er kein einziges Mittel zu seiner Besserung anwandte, von Tage zu Tage schlimmer. Seine Freunde hatten nichts an ihn zu schreiben, und er sehnte sich nach ihren Briefen; fand in ihrem Stillschweigen Beweise ihrer Treulosigkeit, fluchte ihnen und verfluchte sein Daseyn. Die Tage brachte er fast ohne alle Nahrung, die Nächte schlaflos zu. Zucker war seine einzige Speise, Kaffe sein einziges Getränk. Von dem ersten aß er oft mehr als ein Pfund, und den letzten trank er an vier- bis fünfmal täglich. Einst wendete er auch sein ganzes Monathgeld zum Einkauf des Zuckers an, aß einen [76]Theil davon, lösete den übrigen in Wasser auf, und goß, nachdem er etwas von dieser Auflösung getrunken, das übrige zum Fenster hinaus. Auch stand er stundenlang nackt vor dem Spiegel, und besah sich in demselben mit äußerster Gefälligkeit.

Nur dann und wann waren lichte Blicke in seiner Seele, in denen er entweder nach K. schrieb, oder in Meiners philosophischer Sprachlehre d las. Seine Briefe waren zusammenhängend, aber beim Schreiben las er, nach einigen hinzugesetzten Wörtern, stets das Ganze von Vorne durch — gleichsam als setze er ein Mißtrauen in sich selbst, und fürchtete er den Zusammenhang verloren zu haben. Auch kam er in dem gedachten Buche nicht weiter, als bis auf die dritte Seite. Er fing, so oft er es zur Hand nahm, immer von Vorne an, und das erste Blatt erschöpfte schon seine ganze Besinnungskraft. War er in diesen lichten Augenblicken zum Sprechen zu bringen, so suchte er gewöhnlich etwas wissenschaftliches an den Faden seines Gesprächs zu knüpfen, wo er dann seine Meinung mit vieler Wärme, oft mit wahrem Scharfsinne vertheidigte, und seine Zuhörer den Verlust seines Verstandes doppelt bedauern ließ.

Leides fügte er niemanden zu; und selbst, wenn er in der Zerstreuung einigen Schaden anrichtete, entschuldigte er sich sogleich deshalb. Seine Wirthinn, die Büchsenschäfterinn Leib, feierte den Ge-[77]burtstag eines ihrer Kinder durch Musik und Tanz. Nachher sollte Puppenspiel seyn. Sie glaubte, daß diese Art von Zerstreuung ihrem unglücklichen Miethmanne, der sie mit Mitleiden durchdrang, zuträglich seyn könnte, und lud ihn daher selbst ein, um ihn sogleich mit in die Gesellschaft zu nehmen. Sie fand ihn nackt vor dem Spiegel stehen. Er, ohne sich darum zu bekümmern, wes Geschlechts seine Zuschauerinn wäre, ging, auf ihre Einladung, die Stube auf und ab, um einen Entschluß zu fassen, sagte endlich: er werde kommen, nur müsse er sich doch wohl erst ein wenig besser ankleiden, als er es jetzo wäre.

Viel besser, als in der Naturkleidung, erschien er nun wirklich nicht. Lederne Beinkleider, Stiefeln und Sporn, und ein Ueberrock auf dem bloßen Leibe, war sein ganzer Anzug. Er forderte seine Wirthinn zu einem Minuet auf, tanzte die erste Hälfte desselben ganz richtig; aber verließ beim Handgeben Tanzplatz und Gesellschaft, ging in das Zimmer, wo das Marionettentheater schon angeordnet war, und richtete unter den armen, wehrlosen Schauspielern eine schreckliche Verwüstung an. Er kam aber bald wieder zum Besinnen, suchte seine Wirthinn auf, bat sie mit thränenden Augen, ihm zu verzeihen, und Mitleiden mit ihm zu haben. Er wollte seine silbernen Schuhschnallen verkaufen, um ihr den Schaden zu ersetzen. Für die Zerstö[78]rung ihrer Freude, könnte er ihr keine Entschädigung anbieten; sie sollte sich aber darüber nur mit ihm trösten: auch seine Freuden wären ihm zerstört worden, und was das schlimmste wäre, von sogenannten Sinnigen zerstört worden.

Der Grund zu seinem Trübsinn war mir damals noch nicht bekannt, und ich glaubte, das sicherste Mittel ihn von ihm selbst zu erfahren, sei sein Zutrauen zu erwerben, und keine Lust zu verrathen, tiefer in seine Geheimnisse dringen zu wollen, als er sie zu entdecken für rathsam halten würde. Bei seinem Mißtrauen gegen die Menschen, hätte Neugierde alles verderben müssen. Ich irrte nicht. Denn als ich ihn einen Abend, wo er über seinen Zustand bitterlich klagte, tröstete und ihm sagte: es werde noch alles gut werden, fragte er spöttisch: meinen Sie? Doch setzte er hinzu, es ist mir nun kein Wunder mehr, daß Menschen, die sich für meine Freunde ausgeben, mich hintergehn wollen. Mein Vater, meine Brüder und meine besten Freunde haben mich betrogen, und ich Thor traue noch immer den Menschen, lasse mich von Weichherzigkeit hintergehn, halte Schwäche für Mitleiden.

Seine Zunge war nun gelöset und sein volles Herz suchte sich zu ergießen. »Hören Sie, sagte er, indem er sich vertraulich zu mir setzte, und seine Hand auf die meinige legte, hören Sie nur den [79]Streich, den mir meine besten Freunde gespielt haben, und urtheilen Sie, ob ich Menschen noch trauen kann.«

»Zweimal habe ich das große Loos in der holländischen Lotterie gewonnen. Ich habe nun freilich nicht gesetzt, denn ich bin arm, sehr arm. Aber sie dorten hatten das Geld darzu hergegeben, ließen, weil es verboten ist, in fremden Lottos zu spielen, die Zettel auf meinen Namen nehmen, und versprachen mir, für die Gefahr, der ich mich dadurch aussetzte, einen gleichen Antheil am Gewinnste. Die Kerl dachten nun bei ihrer Versprechung freilich nicht, daß die Loose so viel ziehn würden. Aber die Loose thaten es doch, und mir nichts, dir nichts, muß ich euch krank werden. Die Zettel sind bei meiner Genesung verschwunden, meine Braut kennt mich nicht mehr, niemand will etwas von mir wissen.«

»Das haben sie mir nun schon zweimal gethan! Wollte ich nicht jede Art von Zudringlichkeit vermeiden, so könnte mir freilich mein Vater zu meinen Rechten verhelfen; aber —« So ungern ich ihn unterbrechen wollte, so wenig konnte ich es doch über mich gewinnen, mein Erstaunen über das letzte zu unterdrücken. Ihr Vater! rief ich unwillkührlich aus?

[80]

»Ha! erwiederte er, Sie glauben wahrscheinlich auch, daß der Jude in H. mein Vater sei? ich bin nicht von jüdischen Eltern, wenigstens nicht von einem jüdischen Vater gezeugt worden. Ich trage auch das Kennzeichen eines Juden an meinem Körper nicht; und das schützt mich, daß L., den Sie kennen, und der mir ähnlich sieht, sich nicht für mich ausgeben kann, so gern er auch wollte.«

Ich muß hier anmerken, daß ich ihn oft genug nackt gesehn, und mich von der Falschheit dieser seiner Behauptung zu überzeugen, mehr als eine Gelegenheit gehabt hatte. Aber erklärbar ward mir dadurch, weshalb er so gern nackt vor dem Spiegel stand, und sich stets mit einer Art von Selbstzufriedenheit in demselben erblickte.

»Mein Vater, fuhr er fort, ist der Prinz **, das ist in H., in K. und auch bei Hofe bekannt. Ich mußte dreimal verschiedenen Malern sitzen, und von den dreien Bildnissen hängt das eine in **, das andere, in welchem ich ein grünes Kleid trage, in **, und das dritte weiß Gott wo? Mein Gedächtniß wird schwach. Vor meiner Krankheit wußte ich es auch; aber seitdem besinn' ich mich vergebens darauf. Der Professor M. in K., der mich immatrikulirte, muß es wohl auch gewußt haben. Denn, sehen Sie, in meiner Matrikel steht der Ausdruck: Studiosus nobilissimus; der nun freilich nachher, weil ich öffentlich kein [81]adlicher seyn darf, für ein Versehn ausgegeben, aber demohngeachtet nicht abgeändert wurde.

»Auch der König kennt mich und meine Abkunft. Er sah mich auf dem Postwagen bei meiner Herreise, und fragte den General **, der ihm zur Seite ritt: was ist er nun? Durch des Generals Antwort merkte ich erst recht, daß die Frage des Königs mich anging. Philosoph! antwortete der General.«

»Ehre genug erzeigt man mir. Die Schildwache am Posthause trat, bei meinem Absteigen vom Wagen, ins Gewehr vor mir. Aber was hilft das; das Geld, das ich gewonnen habe, wollen, sagen sie dorten, die Generalstaaten nicht über die Grenze lassen und .....«

Er hatte mir nun schon genug gesagt, um ihn unterbrechen und einsehn zu können, daß auch sein vermeinter Gewinnst in der holländischen Lotterie eine Geburt seines zerrütteten Gehirns gewesen sei. Möglichkeiten hatten bei ihm die Stelle der Wirklichkeit vertreten; ließen ihn in seiner Einbildung von Stufe zu Stufe des verbesserten Zustandes steigen, und machten ihn endlich zum Bastarten eines Prinzen.

Seine Freunde schrieben mir nun zu verschiedenenmalen, ihn von Berlin nach H. zu schaffen, [82]indem die erwünschte Besserung in Berlin doch nicht erfolgte. Gewalt anzuwenden hatte ich keine Erlaubniß, und Ueberredung fruchtete bei ihm nichts. Ich verfiel daher auf ein Mittel, das mir jetzt nicht ganz recht scheint, aber das mir damals das bequemste zu seyn schien, den Wunsch meiner Freunde zu erfüllen, weil es ganz in seinen Ideengang eingriff, ihn zur Abreise geneigt zu machen.

Ich sagte ihm nämlich einen Morgen, daß ich vom Minister ** Befehl erhalten hätte, ihm die Nachricht zu hinterbringen, daß der Prinz, sein Vater, ihn sprechen wollte. Für Extrapost, Bedienten und Zehrung auf der Reise wäre vom Prinzen gesorgt worden; und er hätte weiter nichts zu thun, als sich auf den Wagen zu setzen, und sich an Ort und Stelle bringen zu lassen.

Diese Nachricht setzte ihn außer sich vor Freude. Er fing sogleich an einzupacken, und schickte sich zur Reise an. In dem Wahne zum Prinzen zu fahren, würde er nach H. gebracht worden seyn; und wer weiß, ob diese neue Täuschung nicht das Uebel ärger gemacht hätte. Der Zufall vereitelte meinen Plan, und ich danke ihm noch dafür. Ich mußte nämlich E. verlassen, um die Post zu bestellen, und den Menschen aufzusuchen, der ihn begleiten sollte. Mittlerweile kleidete er sich an, lief zum Minister, um sich von demselben ein Schrei-[83]ben an den Prinzen als Beweiß ausfertigen zu lassen, daß er der nehmliche wäre, den der Prinz verlangt hatte. Der Minister war verreiset, und der Sekretair versicherte ihm, daß kein wahres Wort an der ganzen Sache wäre.

Er suchte mich nun auf, und als er mich in seiner Wohnung fand, erzählte er mir die Geschichte mit vieler Kälte, und setzte verdrießlich hinzu: Sie haben mir einen Dienst leisten und mir zu meinen Rechten verhelfen wollen; das seh ich wohl ein. Aber Sie hätten mir den größten Schaden zufügen können. Hätte der Prinz nicht glauben müssen, daß ich mich ihm aufdringen wollte? Das wäre die kleinste Folge ihres unbesonnenen Streiches gewesen. Er bat, daß ich ihn verlassen, und ihn nicht ferner besuchen sollte, weil er sich vor mir schäme, von seinem Grundsatze: keinem Menschen mehr zu trauen, abgewichen zu seyn. Sie, setzte er hinzu, haben es zu gut mit mir gemeint, und das taugt ebenfalls nichts.

Noch zweimal kam ich zu ihm, aber da ich nun sein Zutrauen verloren hatte, und seine Abreise nicht bewirken konnte, entzog ich mich ganz seines Umgangs. Herr F. übernahm die monathliche Auszahlung; und da sein Trübsinn anfing, gefährliche Folgen für seine Mitmenschen befürchten zu lassen, ließ er ihn nach dem jüdischen Armenhause am Ro-[84]senthalerthore bringen. E. tobte anfänglich, rief dem am Thore wachthabenden Offiziere durch das Fenster zu: er sollte einen Unglücklichen befreien, den man eingesperrt hätte, weil er Bombardier werden wollte, und bat, da er sah, daß er nirgends Gehör fand, von selbst, nach H. zu reisen.

Von H. aus empfahl er sich verschiedenen Kaufleuten, als hätte er ein großes Handlungshaus etablirt. Auch übergab er der Post zu H. ein Schreiben an den König. Der Postsekretair, der ihn kannte, und daher das Schreiben nicht abnehmen wollte, wurde von ihm bedroht, sein Amt zu verlieren, wenn er es nicht abschickte, weil die darinn enthaltene Entdeckung von der äußersten Wichtigkeit für den Staat wäre.

Er verließ bald darauf H., trieb sich ein Paar Jahre in Dänemark und Rußland herum, und kam 1787 wieder nach K., wo ihn ein dortiger verehrungswürdiger Geistlicher einen Abend auf dem sogenannten Steindamm vor einem Hause sitzend fand. E. erkannte den Geistlichen, der ihn angeredet und sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, klagte gegen ihn über erlittene Verfolgung, und zeugte seinem Gönner, durch sein ganzes Gespräch, wie traurig der Zustand seines Gemüths noch immer beschaffen wäre. »Sie können mich, sagte er ihm unter andern, meinen Verfolgern entziehn, [85]wenn Sie mich zum Christen machen; Christ zu werden, war schon längst mein Wunsch gewesen. Aber bis jetzt habe ich noch keinen gefunden, der mir diesen Dienst hätte leisten, ohne mich zugleich zur Annahme der Taufe, zwingen zu wollen.« u.s.w. Der biedere Geistliche nahm sich seiner väterlich an; aber seine Theilnahme war vergeblich. Die Wunde in E.'s Gemüthe war tief und unheilbar. Jetzt sitzt er im Irrhause zu K.

L. Bendavid.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 9-21.

b: Königsberg in Preußen.

c: Kant 1781.

d: Meiner 1781.

[86]

4.

Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon*) 1.

Obereit, Jakob Hermann

Mein Herr!

Gegrüßet seyn Sie im ewigen Frieden! Ein alter Schweitzer kommt von der Südseite, der brave Pole von der Ostseite Europens, können sie zusam-[87]men Südost machen, so kanns durch eine Nordwestpassage in eine neue Welt des Verstandes, der Vernunft, des Gemeinsinnes der Menschheit gehen, die alte im Frieden hinter sich, plus ultra in infinitum! So bewillkommt der alte seinen neuen kritischen Kommentator, der den alten besser sowohl verstanden, als getadelt, und mit neuen Problemen oder Speculationsräthseln so beehrt hat, als vorher sonst kein Recensente seine kleinen Schriftphänomene. Der Schweizer ist ein alter [88]Freund von zwei andern, deren der eine den zu simpeln Spinoza als einen ehrlichen großen Aprioristen, ohne sein System anzunehmen, zuerst muthig vertheidigt hat, der andre die Kabbala Bereschith von Ensoph und Adam Kadmon als das vollständigste, deutlichste, unzertrennte Ordnungsganze oder Lichtsystem von allen Emanationslehren des Orients hervorzuziehen mit grundklarer Behauptung das Herz hatte, wie der Schweizer selbst einen Gamaliel als philosophischen Juden und Mendelssohns Freund zum Schiedrichter in Wunderbetrachtungen zwischen Lavater und seinen Gegnern, zwischen Extremen, machte Anno 1780 in Gamaliels Spatziergängen. a So vielfach sympathetische Geistesverwandschaft ging schon vor unserm unversehenen Zusammentreffen im Seelenmagazin voraus. Wenn das nun a priori Harmonia præstabilita wäre! Laßt uns versuchen, wie weit? Ihr Wörterbuch, die einzige Schrift, so hier von Ihnen antreffen konnte, kam mir beim ersten Anblick auch unverständlich, zu fremd transcendental vor, und größern Männern, als meine Kleinigkeit ist, all Ihre Schreiben längst supertranscendental, Ihr Wörterbuch aber endlich herzhaft zur Hand genommen, zeigte mir unversehens eine Menge Berührungspunkte und Analogien in infinitum von meiner Denkart. Doch kann ich kein Hebräisch, und bin kein Mathematiker, wie Spinoza.

[89]

Nun aber alles in Zahl, Maaß und Gewicht geordnet ist, so ist es hauptsächlich um praktischen Zwecks willen, damit der Mensch lerne, Gleichgewicht, Ebenmaaß und gebührende Zahl des Termini a quo, perquem, adquem in allem intuitiv, intellectual, und moralsinnlich zu beobachten, und so läßt sich alles Mathematische nach praktischem Princip beurtheilen. Resp. ad pag. 114. not. ult. IX. B. 2. St. Magazin. Absolute Convenienz, Gegentheil alles Widerspruchs, ist sensual, das Wohl; intellectual, Wahrheit; moral praktisch, Recht und gut schlechthin, also Eine Convenienz, ganz für die ganze Menschheit, in der praktischen concentrirt, und was ist Mathematik, als intuitiv-intellectuale Convenienz zur praktischen? Was ist alle gehörige Spekulation selbst als Ideal-Convenienz zur realen? Höchst recht (nach Kant) ist also das Primat der praktischen Vernunft über alle. Mit dem praktischen Formalprincip Kants stimmt das höchste materiale Gesetz der Sittlichkeit, vervollkommne alle Dinge in infinitum, um der Vollkommenheit selbst willen, rein und lauter überein, und unser ganzer beobachtbarer Wesenstrieb, Herzenstrieb, ist Trieb zu lauter Vollkommenheit, zu absoluter Convenienz in allem und über alles. Der Grundtrieb ist vor allem Denken und Handeln da, in Existenz a priori. So kann das Herz den Kopf lehren von Kindheit an. Wer lehrt das Kind, schö-[90]nes und gutes verlangen? Himmel und Erde in Schönheit bewundern? Bewußtwerden alles gegenwärtigen, harmonischen und unabsehlichen Daseyns in Himmel und Erde? Welches Bewußtwerden das Originalprinzip des Gemeinsinns aller Menschheit, des Senscommun und seines Bonsens universel ist, lange vor dem wissenschaftlichen Elementarprincip des vorstellenden Bewußtseyns. Präsentation in der That geht vor aller Repräsentation, Darstellung selbst vor aller Vorstellung, ohne Daseyn zuerst ist keine Vorstellbarkeit, ohne Daseyn voraus ist keine Möglichkeit der Erfahrung, auf welche Möglichheit) nicht auf Erfahrung selbst, Kants ganze Kritik gebaut und berechnet ist, wie Reinhold zeigt im Fundament des philosophischen Wissens. b Also giebts nothwendig noch ein Daseyn a priori vor aller Möglichkeit der Erfahrung, wie vor aller scientifischen Vorstellbarkeit, und vor allem simpeln Bewußtwerden des Gemeinsinns.*) 2 Denket alles Daseyn voraus weg, so bleibt durchaus nichts übrig weder anzu- [91] schauen und zu fühlen, noch zu denken, noch zu bezielen, oder zu wollen und zu behandeln, und hiermit habt ihr den allergrößten Salto mortale ins absolute Nichts gemacht, kein größerer ist möglich. Und doch ist er uns möglich in der Urtheilsform der absoluten Negation durchaus.

Diese absolut negative Urtheilsform findet sich auch ganz natürlich in unserm einschlafenden Bewußtseyn beim Verschwinden alles Daseyns, wie hingegen beim Erwachen das Originalprinzip des Gemeinsinns wieder kommt, und was giebts nun während dem Schlaf? Existenz a priori vor aller möglichen Erfahrung und Vernunftkritik!

Durch die bei wachendem Sinn angestellte Form der absoluten Negation, die mir das absolute Nichts übrig läßt oder setzt, meine Nordwestpassage zum Alt-Orient, finde ich grade gegenüber im Verstande die Form der absoluten Position per se, und durch diese finde ich das dem absoluten Nichts an sich selbst grad entgegenstehende All von, durch, für sich selbst absolut, und hiemit allein allgenugsam, den absoluten Grund per se alles positiven Denkens, Anschauens, Bezielens, der alles Anschaubare, Denkbare, Bezielbare positiv möglich macht, hiemit finde ich in absolut positiver Grundfeste, Wesensvollkommenheit an sich, und allgenugsame Freiheit zu aller positiven Möglichkeit, demnach keinen absoluten Fatalismus a priori [92]wie Spinoza, vielmehr absolut allbedingende Freiheit zur Gesetzgebung und Regulation alles positiv möglichen in Quantität, Qualität, Relation, Modalität dem ewigen höchsten Einheitsgesetz der Allvollkommenheit zu entsprechen, in Grund, Muster, Mittel und Zweck, in Gleichgewicht und Ebenmaaß aller dreien.*) 3

Absolute Negation alles positiven Denkens giebt auch absolute Negation alles positiven Anschauens und Bezielens; absolute Position im Gegentheil importirt die Form absoluter Anschaulichkeit und Bezielbarkeit. Was ist nun zuerst absolut anschaulich? Was gar keine Größe hat, ist absolut unanschaulich. Also grad im Gegentheil absolut anschaulich vor allem ist absolute Größe, Unendlichkeit, Unermeßlichkeit, Ewigkeit. Absolute Größe ist Universalgrund per se, für die ganze Mathematik oder Größenlehre. Die Form der absoluten Größe, und aller andern, ist entweder intensiv, oder extensiv, oder protensiv, oder alles dreies. Intensive giebt Gewicht, extensive Maaß, protensive Dauer von beiden, und Aequation von allen [93]dreien Gleichgewicht, Ebenmaaß, und gleichen Bestand in Grundfeste, hiemit vollkommne gründliche Schönheit, ewig fest anschaulich.

Das sind Sinnlichkeitsformen der absoluten objektiven Größe in uns, denn sie ist uns ja nicht subjektiv eigen, vor allem Raum und Zeitlauf. Die absolut objective Größe, Schönheit, denkbare Allvollkommenheit ist auch absolut bezielbar zu vollkommnem, festem Beruhen und Vergnügen darin durch reine Beobachtung, Befolgung derselben, also selbständig höchstes Recht, Licht und Gut, oder Leben, Licht und Geist in Grund, Mittel und Zweck.

Das ist nun Original-Gemeinsinnsform, nicht mehr kantisch-kritische, noch aus bloßer elementarischer Vorstellungsform der Spontaneität und Receptivität bestehende, obwohl nach beyden erst durch den äußersten Salto mortale gefundne. Denn die Gemeinsinnsphilosophie*) 4 giebt natürlich dem Menschen, wie allen Dingen, nach allgemeiner Beobachtung, Activität, Receptivität und Reactivität, und je mehr diese drei in Gleichgewicht, Ebenmaaß und Bestand sind, desto besser, schöner, fester, vollkommner, dem höchsten Urbild gemäßer, ähnlicher, gleichförmiger in infinitum.

[94]

Zur Beobachtung und Bezielung unendlicher Schönheit und Vollkommenheit giebt die allbedingende absohlte Freiheit uns auch die subjektiven Formen endlosen Raums und Zeitlaufs, denn Freiheit macht Raum und Zeit endlos zu ihrem absoluten Zweck; die beiden Formen allein aber geben ein unabsehlich leeres Chaos ohne die Form des Ebenmaaßes von beiden, und ein finstres Chaos an sich, ohne die Form, die an und durch sich selbst anschaulich ist und macht, alles verklärt, das ist die Form der Klarheit a priori, ohne welche gar kein Anschauen möglich, wenn auch alles voll Gegenstände und Augenfähigkeit wäre. Die Formen aber von Klarheit, Ebenmaaß, Raum und Zeit zusammen geben zeitliche Sinnenschönheit überall, wo sie entsprechende Darstellung finden.

Diese Schönheitsform der Sinnen ist die Quelle des Ideals aller Schönheitskünstler. Solcherweise und solchermaaßen supplirt a priori die originale Gemeinsinnsphilosophie des allgemeinen Harmoniesinnes, was an dem Kantischen Maaßstab und elementarischen Vorstellungsfundament desselben noch mangelt, oder Mangel verrathen mag, und so coincidirt der Gemeinsinn mit Kant und Reinhold und Leibnitz etc., und läßt doch Kant und alle ganz im Frieden stehen, jeden für sich, profitirt von allen, und geht nach allen weiter ins Unendliche im Friedens- und Allbenutzensweg durch Allbeobachten zum Ganzen.

[95]

Nach evidenter Ueberzeugung, daß es dreierlei natürlich nothwendige und wesentlich positiv-mögliche Philosophie giebt, nehmlich kritische oder Richtwissenschaft, Elementar- scientifische, oder Vorstellungswissenschaft, und originale des Sens-Commun oder Darstellungskunde, Daseynsbewußtseyn, das in der Natur selbst das Erste ist, nach Anerkennung dieser Dreierlei in Reinholds Conferenz den 15ten August gabs dreierlei philos. Departements, das kritische blieb für Kant und Compagnie, das elementarische für Reinhold und Compagnie, das original-commune der Menschheit für den Schäfer Orients etc.

Den Gemeinsinnsweg im allgemeinen Frieden gefunden zu haben, ist mir unendlich lieb. Das ist Gemeingutsphilosophie, wo ich eben sowohl von Herzen, als vom Kopf anfangen kann, für beide gut, ja für Zeit und Ewigkeit gleich gut, so recht für meine alten Tage, alles in Einem All, Eins in allem wiederum frei, nicht fatal, so die Einfalts-Weisheit der Patriarchen wieder in kurzem Formalinbegrif ein wenig zu finden, einen Formalschlüssel des ganzen alten Orients, ewigen Lichts.

Ihre älteste edle Hirtennation, mein Freund von Orient! so edel zuerst in ihrer patriarchalischen Simplicität, als weiland die alte schweizerische Hirten und Jägernation, hat sie nicht mehr Interesse von edelster Art, als alle andre, im Originalgrund [96]des besten menschlichen Gemeinsinns von rein harmonischem Sinn, Verstand und Willen die originale orientalische Simplicitätsphilosophie wieder herzustellen, die der ganzen h. Schrift zum Grund liegt? Denn von lauter Hebräern ist auch das N. T. her, ein mehr geistiger und allgemeiner Patriarchismus, der auf die ganze Erde sich verbreiten konnte. Die edelste und göttliche Humanität kommt also von lauter Hebräern ursprünglich, ihr Geistessegen überfloß in alle Welt, und nun bei der Revolution des Geistes aller Völker zum äußersten Ziel und Grund, den sie nur erreichen können, auch zur ersten Einfalt der Menschennatur, wo sie solche finden können, soll der edle und geistige Hebräer allein zurückbleiben? oder doch nur von fremdem Geistesgut, von occidentalischen und nordischen Geistesfrüchten sich nähren, bilden und groß werden? Immerhin, auch das ist gut, und brauchbar in der Fremdlingschaft, sich in alles dienliche Fremde fügen zu können, unendliche Biegsamkeit, allen alles auf gute Art in rechtem Sinn werden zu mögen, ist selbst allgemeinnützige Nachahmung des Schöpfers oder Allvaters, aber Biegsamkeit, Füglichkeit, ist bloß Mittel: so unendlich biegsam und füglich man zu unschuldigen, brauchbaren, rechtmäßigen Mittelformen seyn kann, so fest muß man in ewigem Grund und Zweck seyn, darzu muß alles recht und gut Mögliche dienen, aber Grund und Zweck muß herrschen, Gesetz und Regel gebend re-[97]gieren. Nach neutraler, doch universal moralisch natürlicher Durchwanderung aller Philosophie und Weltbekanntschaft von Jugend auf, von den niedrigsten bis zu den höchsten Ständen, kenne ich doch aber nun, obgleich von Natur nordisch gesinnt und zu nordischer Form gestimmt, demohngeachtet frei bei aller Heiterkeit und Ruhe des durchsehenden Alters keinen bessern vollkommnern Grund und Zweck, als den ersten orientalischen von Henoch, Abraham und ihres Gleichen, und sollens Gelehrte und Weise eigentlich seyn, keinen weisern als Daniels, seiner chaldäisch gelehrten erhabnen Geistesgenossen und ihres Gleichen in folgenden Zeiten, wovon eben die Kabbala Bereschith ihren Ursprung hat, daher auch in Grund- und Hauptideen damit Zoroasters erhabnes Lichtsystem in Zendavesta einstimmt.

Mag auch die Kabbala zuerst nur durch imaginative und intellectuelle Abstraction aus der Propheten Schriften abstrahirt seyn, so sind, wenn man nur auf das Wesentliche sieht, die ersten zehn Sephiroth in den original objectiven Grundformen des menschlichen Gemüths wieder zu finden, nur von erstem absolutem Grund aus genetisch und mehr natürlich systematisch auszudrücken, dann aber klar mehr allbegreifend, als Kants Formen, Kategorien, Schemata. Der Hebräer kann an einheimischen Geistesschätzen, wenn er sie kennt und pene-[98]trirt und in ewigen Naturformen ausdrückt, der reichste, der erhabenste, der fruchtbringendste von allen zum allgemeinen Besten der Menschheit seyn.

Und zu diesem Zweck den edlen Hebräern zu dienen, würde mir die größte Freude seyn, da ich damit dem größten und besten Grund und Zweck und seinen edelgesinntesten Theilnehmern in aller Menschheit diente. Kants Kritik allesamt und Reinholds Elementarphilosophie der Vorstellungsformen kann bloß den Gelehrten und Selbstdenkern dienen, deren immer wenige sind und seyn können; Beobachter aber von Sachgrund, Mittel und Zweck müssen alle Menschen im Gewissen des rechten Gemeinsinns seyn, hiemit ist Originalgemeinsinnsphilosophie von allgemeinster Nutzbarkeit, Rechtmäßigkeit und Nothwendigkeit, wenn gleich ihre erste wieder aufgehende Grundentwickelung zuerst nur wenigen Einsehenden allgemein brauchbar, doch zum höchsten Grund und Zweck sogleich höchst dienlich ins unendliche fort seyn kann. Allein, da man zur original natürlichen Illustrirung der metaphysischen oder objektiv grundförmigen Kabbala mehr als eine, noch manche Cameram obscuram des Gemüths und ihres ewigen Grundes durchdringen muß, obwohl durch meinen äußersten Salto mortale die größte Finsterniß schon durchdrungen und passirt ist, daß der Morgenstern aufgehen kann, so ist wohl zu erachten, daß die Illustrationsarbeit für Kab-[99]bala nicht gering seyn mag zum Allgrundlicht, das mit allen Originaltheosophen und Sokraten einstimmt.

Genug, daß Gott über alles in allem ist! Der Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs, der Fremdlinge auf Erden, die zum Himmel pilgern, durch Tiefen, Höhen, Längen, Engen, Breiten, alle von aller Circumferenz zu Einem Centro und Tempel des ewigen Salems der höchsten Dreikraft und siebenfachen Geistesform des unermeßlichen Ensoph Jehovah-Jahevoh! Dem empfehle Sie mit allen Ihren edeln Freunden, und mich unter die Bilanz des ewigen Orients, verbleibend

Mein Herr, und Freund von Orient,

Jena, den — ult. Oct.

1791.

Ihr ergebenster

Obereit.

Philos. Dr.

Fußnoten:

1: *) Man ist zu sehr geneigt, eine jede Denkungsart, die sich nicht durch Klarheit, Bestimmtheit und Richtigkeit des Ausdrucks zu erkennen giebt, für Schwärmerei auszugeben. Dieses hat auch in den mehresten Fällen seine Richtigkeit. Es kann aber auch Fälle geben, wo die Erhabenheit des Gegenstandes eine solche Fülle der Gedanken verursacht, die allen Ausdruck hinter sich läßt. Hier entsteht eben dieselbe Erscheinung; der von der Größe seines Gegenstandes durchdrungene Geist findet keinen dieser Größe angemessenen Ausdruck, er versucht dieses auf verschiedene Arten, ist aber mit keiner derselben völlig zufrieden. Dieses wird gemeinhin (da man bloß auf die Erscheinung an sich, nicht aber auf ihre Entstehungsart Rücksicht nimmt) auch Schwärmerei genannt. Aber welcher himmelweite Unterschied ist nicht zwischen diesen beiden Arten?
Daß Herrn Obereits Aufsätze zu dieser zweiten Art gehören, muß jeder Wahrheitsfreund eingestehn. Genaue Bekanntschaft mit allen philosophischen Systemen, richtige Beurtheilung derselben, und unpartheiische Bemerkung ihrer Mängel leuchtet überall hervor. Aber noch über diesem eine tiefe, über allen Ausdruck erhabene Einsicht in die Möglichkeit ihrer Vereinigung, der herzlichste Wunsch, diesen Vereinigungspunkt (sowohl zur Erweiterung unsrer Erkenntniß, als zu unsrer moralischen und physischen Vervollkommnung) ausfindig zu machen, und eine edle Einfalt im Vortrage, die ihres gleichen kaum hat.
Dergleichen Aufsätze verdienen daher als psychologische Erscheinungen allerdings einen Platz in diesem Magazin. Sie sind aber psychologische Erscheinungen von einer höheren Art, und unterscheiden sich von den andern Erscheinungen von Schwärmerei u.s.w. dadurch, daß anstatt daß diese uns die demüthigende Vorstellung von der Ebbe der menschlichen Natur, jene hingegen die zu unsrer beständigen Fahrt zur Vervollkommnung günstige Fluth zu Gesicht bringen. —

2: *) Daseyn ist hier im Fundament des Gemeinsinns weder bloß logisch, noch eine Kategorie der Modalität, kein Prädikament, wie Kant selbst lehrt in seinem Einzig möglichen Beweißgrund des Daseyns Gottes, dem Daseyn kommt Quantität, Qualität, Relation, Modalität zu, so ists vor allen ein Darstellen eines Subjekts mit allen Prädikaten.

3: *) Siehe den zuerst rohen, formlosen Ersten Salto mortale: Die verzweifelte Metaphysik, 1787. Berlin, bei Decker. c Und Ejusd. NB. Aufklärungsversuch der Optik des ewigen Naturlichts zur tiefsten Grundkritik, Berlin bei Decker und Sohn, 1788. d 164. J. u. J. B.

4: *) Zum positiven Fundament des Gemeinsinns siehe des ersten Realisten Fr. Heinr. Jakobi: D. H. oder Idealismus und Realismus, Breslau 1787. e

[100]

5.

Antwort auf das Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon.

Maimon, Salomon

Theuerster Freund!

Gegrüßt seyn Sie im Nahmen desjenigen, dessen Ebenbild Sie sind, und dem Sie sich im Hervorbringen alles aus Nichts, gleich zu stellen suchen. Wie angenehm und wichtig mir Ihr Schreiben war, können Sie aus dieser prompten Beantwortung ersehen.

Aus Ihrem Aufsatze und meinen Anmerkungen darüber erhellet, daß wir in der Zeichnung übereinstimmen, indem wir beide nach keiner Kopie, sondern nach der Natur zeichnen. Nur in der Farbengebung sind wir von einander verschieden. Ich verfahre hierin etwas behutsamer; brauche die Farben als eine Nebensache, bloß zur Kenntlichmachung der Zeichnung. Bei Ihnen hingegen scheinen sie, gleich der Zeichnung selbst, zur Hauptsache zu gehören. Die Zeichnung wird bei Ihnen zuweilen von Farbe so überladen, daß sie für ein ungeübtes Auge unkenntlich wird. Meine Anmerkungen sollen also bloß dazu dienen, um zu zeigen, daß ungeachtet Ihrer Uebertreibung in der Farbengebung, die Zeichnung dennoch richtig sei.

[101]

Ihre Freunde sind auch die Meinigen! doch gebe ich hierin dem Ersten den Vorzug; indem, wie ich dafür halte, der Zweite, wenn er sich verständlich machen will, dieses nur durch das System des Ersten bewerkstelligen kann. —

Unsere Geistesverwandschaft ist freilich die Folge einer harmonia præstabilita; aber in einem ganz eignen Sinn. Ich halte nehmlich dafür, daß die Menschen nur in Ansehung der sogenannten untern, nicht aber in Ansehung der obern Seelenkräfte, für sich bestehende Wesen sind. Jemehr also die Ersten den Letzten unterworfen, und durch dieselben bestimmt werden, desto größer muß auch diese Geistesverwandschaft werden. Diese Harmonie zwischen den Individuis ist also durch das ihnen gemeinschaftliche Spezifische schon vorher bestimmt.

Die Kohäsion der Geister beruht auf eben denselben Gesetzen, als die Kohäsion der Körper. Der Grad dieser Kohäsion hängt von der Anzahl der Berührungspunkte, und diese, von der Figur der Körper, ab. Kugeln, deren jede ein eigenes Zentrum hat, wornach alle ihre Theile gerichtet sind, können sich nur in einem Punkte berühren; zwischen ihnen findet also der kleinste Grad der Kohäsion statt. Je größer die Flächen sind, destomehr sind die Berührungspunkte, und desto stärker ist auch die Kohäsion; d.h. jemehr ein Körper ein [102]System (nach einem Prinzip geordnetes Ganze) für sich ausmacht, um desto weniger kann er mit andern ein System ausmachen, und so auch umgekehrt; vorausgesetzt, daß das diesem System zum Grunde liegende Prinzip (hier das Zentrum) ihm eigen ist. Ist hingegen dieses gemeinschaftlich, so ist er eben dadurch, daß er für sich ein System ausmacht, geschickt auch mit andern ein System auszumachen.

So ist es auch mit den Geistern beschaffen. Unkultivirte im Stande der Natur lebende Menschen, leben im Frieden mit einander; Jeder für sich macht noch kein besonderes System aus. Gebildete aufgeklärte Menschen (Weltleute) sind schon systematisch; jeder hat sein eigenes Zentrum (Prinzip seiner Handlung) Eigenliebe nach individuellen Zwecken. Die praktische Vernunft (im Kantischen Sinne) hält den Menschen ein allgemeines Prinzip (die Vernunftform) vor; wodurch nicht nur ein jeder für sich, sondern auch mit allen andern, in ein vollständiges System gebracht werden kann. Die Menschen leben alsdann abermal im Stande der (vernünftigen) Natur.

Daß meine Schriften supertranszendental sind, mag wohl wahr seyn. Denn da die gemeine Transzendentalphilosophie sich bloß damit begnügt, die Realität der Grundbegriffe und Sätze a priori hypothetisch als Bedingungen der Erfahrung [103]zu zeigen, so fordert die meinige den Beweiß von der Realität der Erfahrung (als Faktum) selbst. Zweitens, so begnügt sich meine Philosophie nicht mit den synthetischen Sätzen überhaupt; sie fordert, zu ihrer objektiven Realität einen analytischen Beweiß. So lange dieses nicht bewerkstelligt werden kann, hält sie sich an den humischen Skeptizismus.

Ihre Erklärungsart, wie Sie alles Spekulative, auch das Mathematische, nach praktischen Prinzipien beurtheilen, begreife ich aus Ihrem jetzigen Schreiben eben so wenig, als aus Ihrem Aufsatze. Die mathematischen Wahrheiten beruhen auf der konstitutiven Möglichkeit einer Darstellung (Konstrukzion) a priori. Die Praktischen (Moralischen) hingegen, beruhen auf einer regulativen Nothwendigkeit, die freiwilligen Handlungen, der Vernunftform gemäß einzurichten. Diese beiden sind also von ganz verschiedener Natur, und lassen sich nicht durch einander bestimmen. Die mathematischen Wahrheiten müssen allerdings mit den Wahrheiten der Natur- und Sittenlehre in Konvenienz seyn. Ein runder Körper, er mag übrigens beschaffen seyn, wie er will, muß die mathematischen Eigenschaften einer Kugel haben. Diese aber sind schon an sich unabhängig vom Daseyn des Körpers nothwendig; und so wie Bako sagt: die Mathematik bestimmt die Naturlehre, [104] bringt sie aber nicht hervor, so kann man auch sagen: die Natur der wirklichen Körper macht die Mathematik anwendbar; ist aber keine Bedingung ihrer Möglichkeit an sich; und so ist es auch in Ansehung der Moral.

Ueberhaupt muß man nicht vergessen (wie es doch zu geschehen pflegt), daß die transzendentalen Prinzipien bloß die conditio sine qua non zur angewandten Philosophie sind; enthalten aber nicht alles, wornach diese beurtheilt werden muß.

Daß Sie übrigens, theuerster Freund! unsre Nation zur Behauptung ihrer Originalität und Aeußerung ihrer Selbstthätigkeit auffordern, ist ein Beweiß ihrer edlen Gesinnungen. Wenn Sie aber glauben, daß dieses durch das Wühlen in ihren einheimischen orientalischen Geistesschätzen bewerkstelligt werden muß, kann ich hierin mit Ihnen nicht übereinstimmen; wo dieses nicht bloß als ein an sich närrisches Mittel zur Erlangung eines vernünftigen Zweckes mit vieler Behutsamkeit gebraucht werden soll. Von der so hochgepriesenen orientalischen Weißheit habe ich keinen Begriff. Aus der Kabbala, wie wir sie jetzt haben, kann man so wenig etwas vernünftig Theoretisches, als etwas nützlich Praktisches lernen. Sie besteht in einem bloßen Spiele mit Zahlen und Buchstaben, worin die Kabbalisten große Geheimnisse suchen, [105]und wodurch (gleich Gott, der sich, ihrem Vorgeben nach, bei Erschaffung der Welt eben dieses Mittels bedient haben soll) sie alles nach Belieben hervorzubringen im Stande sind. Ich glaube aber schwerlich, daß Gott selbst in der Qualität als bloßer Mathematiker oder Kabbalist das kleinste Strohhälmchen hätte hervorbringen können. Es wäre also eher zum Wohl unsrer Nation zu wünschen, daß sie sich in der simplen okzidentalischen Weißheit iniitiren lassen sollte, ohne deswegen von ihrer Originalität etwas vergeben zu dürfen.

Gott das allervollkommenste Wesen, in dem wir uns durch verschiedene Formeln einer Approximation in Infinitum vereinigen, empfehle ich Sie mit Ihren edlen Freunden (dem Vertheidiger des Spinoza und dem Verehrer der Kabbala) Ihr Freund aus allen vier Weltgegenden.

Mein Herr und Freund vom Orient,

Ihr

ergebenster

Salomon Maimon.

Berlin, den 11ten Oct.

1791

[106]

6.

Eine das Gedächtniß betreffende Erfahrung*). 1

Anonym

Im dritten Stücke des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, achten Bandes, heißt es S. 13: »Wer eine fremde Sprache durchs Uebersetzen in seine Muttersprache erlernt— die Ordnung der Association auch im umgekehrten Falle zu beobachten.«

Ich habe diese Gelegenheit gehabt. Bei meinem vormals guten Gedächtnisse lernte ich die Chiffres, deren ich mich zum Briefwechsel mit dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten bediente, größtentheils auswendig. Da ich aber vielmehr chiffrirte, als dechiffrirte, so fiel mir manchmal ja oft das französische Wort nicht für den Chiffre, welcher es bedeutete, ein, obgleich umgekehrt ich mich ohne Anstoß des Chiffres erinnerte, der eben das Wort ausdrückte; indem ich die Chiffres oder die Worte der fremden Sprache durch Chiffriren, [107]das heißt, durch Uebersetzen in die fremde Sprache, nicht aber durch Dechiffriren, oder durch Uebersetzen aus der fremden Sprache gelernt hatte. Daß die Chiffres keine eigentliche Sprache sind, und daß das Französische nicht meine Muttersprache ist, kann, dünkt mich, kein Einwurf seyn. Denn die Chiffres, deren man sich zum Briefwechsel zwischen den Höfen und den Gesandschaften bedient, sind so gut, wie Worte einer Sprache, da drei bis vier Zahlen, ja mehrere, zusammen, Worte, ja Redensarten bedeuten. Und das Französische war mir nicht allein überhaupt sehr geläufig, sondern es würde mir auch, da ich nie Berichte in meiner Muttersprache abgefaßt hatte, weit schwerer geworden seyn, dazu mich dieser, und nicht der französischen, Sprache zu bedienen.

So oft ich, nach Verlauf einiger Jahre, neue Chiffren erhielte, machte ich immer von neuem dieselbe Erfahrung.

Fußnoten:

1: *) Dieser Aufsatz, dessen Verfasser sich nicht nennt, ist mir vom Herrn Castillon, Friedrich Adolph Maximilian Gustav gütigst mitgetheilt.
Moritz.

[108]

7.

Erfahrungen über Träume.

(Auszug aus einem Briefe an Herrn Maimon.)

Wolfssohn, Aaron

In Ihrem vortreflichen Aufsatz: Ueber den Traum und über das Divinationsvermögen, a nachdem Sie die verschiedenen Grade des Traums angegeben und erklärt haben, sagten Sie: »Ich glaube hier zur Erklärung einiger Phänomene in der Psychologie neue Aussichten eröfnet zu haben. Z.B. zu der Möglichkeit der Ahndungen, Vorhersehungen und dergleichen etc.« Da Sie nun hierdurch genugsam zu erkennen gegeben, daß Sie nicht nur die Möglichkeit der Ahndungen und Vorhersehungen nicht läugnen, sondern sogar glauben, den Grund zu dieser Möglichkeit entdeckt zu haben; so hoffe ich, daß es Ihnen nicht ganz unangenehm seyn werde, wenn ich Sie mit einigen Phänomenen von dieser Art bekannt mache, von deren Wirklichkeit ich ganz überzeugt bin, die ich mir aber, ungeachtet daß ich mir schmeicheln kann, Ihre Gedanken und Meinung über die verschiedenen Grade des Traums gehörig gefaßt zu haben, dennoch nicht ganz erklären kann, und die also Ihrer Aufmerksamkeit werth sind. Hören Sie also, mein werthester Freund! vor eini-[109]gen Wochen träumte mir des Nachts: es wäre in meiner Stube Feuer ausgekommen, welches zwar mir große Gefahr gedroht, das ich aber sogleich mit wenig Wasser gelöscht hätte.

Nun kann ich Sie auf mein Gewissen versichern, daß ich weder des Abends, noch des Tages vorher an Feuer gedacht, viel weniger davon gesprochen habe. Als ich nun des Morgens darauf aufstand, war mir dieser ganze Traum entfallen; ich ging wie gewöhnlich aus meinem Schlafzimmer in meine Wohnstube, nahm ein Buch und las darin. Unterdessen kam meine Aufwärterin, brachte — ganz zufällig, denn dies geschah von ihr denselben Tag zum Erstenmal, ungeachtet sie mir schon ein völliges Jahr aufgewartet hatte — einen Topf mit Kohlen, um zu räuchern, und setzte diesen Topf auf einen Tisch. Ich war zu sehr vertieft in meinem Lesen, auch saß ich mit dem Rücken der Thüre zugewandt, so, daß ich weder sie noch den Topf bemerkte. Eine halbe Stunde nachher aber wurde meine Stube mit einem solchen Rauch angefüllt, daß ich kaum die Buchstaben in meinem Buche mehr erkennen konnte; ich stand daher auf, und siehe! da hatte das Feuer schon sich meines Tisches bemächtiget und hätte ich nicht schleunige Hülfe geleistet, wäre er vom Feuer völlig verzehrt worden. —

[110]

So sehr ich nun durch Ihre Erklärung der Träume und des Nachtwandeln mit verschiedenen Erscheinungen in der Psychologie fertig werde; so unmöglich ist es mir, meine obenerzählte Erscheinung, mir dadurch gänzlich zu erklären, wenn ich sie nicht als eine Geburt des Ungefährs oder Zufalls betrachten solle. Denn zugegeben, daß die Vollständigkeit der Associationsreihe bei solchen Erscheinungen weit mehr ist, als im wachenden Zustande; daß auch die Einbildungskraft viel geschwinder und schneller von einer Vorstellung zu der Andern übergeht, so bleibt doch immer hier noch die Frage: Woher und wodurch entstand in meiner Associationsreihe die Idee des Feuers, da ich doch den ganzen Tag vorher nicht an Feuer dachte? Setzen Sie mir nicht den Nachtwandler entgegen, der, wie Sie in Ihrem Aufsatze erzählen, in seinem Paroxismo auf neue Erfindungen gerathen, so daß der Dümste auf einmal ein witziger Kopf und der Feigste ein Held werden kann. Denn diejenigen Erfindungen, auf welche er geräth, können, und wahrscheinlich sind sie auch schon vorher in seiner Associationsreihe gewesen, so daß die Einbildungskraft hier nichts weiter zu thun hat, als diese Idee hervorzusuchen, aber wenn diese Idee noch gar nicht in meiner Associationsreihe existirt hätte, woher soll nun die Einbildungskraft grade auf diese Idee kommen? Und warum just auf eine solche Vorstellung, die sich wirklich nachher zuträgt? ja [111]was noch mehr, selbst die Visionen — wenn sie auch in der Psychologie aufgenommen werden — haben mit meiner obigen Erscheinung gar nichts gemeinschaftliches; indem von jenen sich eben das sagen läßt, was ich von den Träumen und Nachtwandeln gesagt habe, nämlich, daß bei den Visionen kann die Vorstellung von dem Künftigen schon versteckt vorher in einer Associationsreihe gewesen seyn, z.B. wenn der Prophet den Umsturz des israelitischen Landes in einer Vision vorausgesehn hat, so kann diese Vorstellung darum in seiner Associationsreihe schon vorher gewesen seyn, weil ihm nämlich die Sünden der damaligen Israeliten gegen Gott bekannt waren, und daher leicht die Idee ihres Untergangs sich damit verbinden läßt. — Doch ich will hier abbrechen, um Ihnen einen andern Traum zu erzählen, der noch merkwürdiger ist, als der vorhergehende, und der gewiß eine wichtige Beschäftigung für jeden Psychologen seyn muß.

Ein sehr rechtschaffener und wahrheitsliebender Mann, der gewiß das Lügen so haßt, wie mancher Geistlicher die Aufklärung, erzählte mir folgende Geschichte.

Es träumte ihm eines Nachts, er habe in sein gewöhnliches Kaffeehaus gehn wollen, als er aber dahin käme, fände er die Thüre desselben [112]verschlossen. Da er nun sehr stark angepocht hätte, wäre ihm die Thüre aufgemacht worden; er gienge also hinein, fände einige beim Spiele sitzen, mit welchen er sich in Gespräch einließe, welches aber sich endlich in einen Wortwechsel verwandelte, bei welcher Gelegenheit einer von den Spielenden sich einiger anzüglicher Worte gegen ihn bedient hätte, worüber er in solche Wuth gerathen wäre, daß er sogleich nach einem Stuhle gegriffen, und seinen Gegener damit auf den Kopf geschlagen hätte, daß dieser sobald zur Erde gefallen und auf der Stelle todt geblieben wäre. Hierauf hätte man ihn als Mörder in Verhaft genommen, ihn sehr genau bewacht, und strenge mit ihm verfahren, und endlich ihn zum Tode verurtheilet. Hier wurde der Traum unterbrochen, denn mein Freund erwachte, und da es just seine gewöhnliche Zeit zum Aufstehn war, verließ er auch zugleich das Bett.

Nun hatte diese furchtbare Vorstellung so viel Eindruck auf ihn gemacht, daß er den ganzen Tag darauf mißmüthig war, und wie er mich versichert, war dieser Traum noch zwei Wochen nachher ihm beständig gegenwärtig, doch verlor er sich allmälig aus seinem Gedächtniß ganz und völlig.

Eine geraume Zeit nachher traf es sich nun, daß dieser des Sonnabends in ein Kaffeehaus gehen wollte, als er hinkam, fand er die Thür der [113]Billardstube verschlossen (es spielten nämlich einige Juden darin, die sich darum eingeschlossen, um nicht von orthodoxen Juden überrascht zu werden, weil, wie Ihnen doch bekannt ist, das Billardspielen am Sonnabend nicht erlaubt ist) mein Freund pochte, es wurde ihm auch aufgemacht, aber gleich nach seinem Hineintreten die Thüre wieder verschlossen. Dieser stellte nun den spielenden Juden vor, daß wenn sie bei verschlossenen Thüren spielen, sie bei den Hereinkommenden den Verdacht erregen würden, daß sie sich mit Hazardspielen abgäben, und könnten dadurch nicht allein sich, sondern auch ihm als Zuschauer Unannehmlichkeiten zuziehen; er verlangte daher ausdrücklich, daß man die Thüre wieder aufschließen solle, jene aber bestanden auf ihren Eigensinn, wodurch zwischen ihnen ein Wortwechsel entstand, bei welcher Gelegenheit einer von den Spielenden gegen meinen Freund sich unerlaubter Ausdrücke bediente, die ihn zum Zorn reitzten, so daß er, ganz wider seine gewöhnliche gütige Natur, nach einem neben sich stehenden Stuhle griff, um den Streitsüchtigen damit zum Stillschweigen zu bringen.

Aber kaum war er im Begriff mit dem Stuhle um sich zu schlagen, da fiel ihm ganz unvermuthet sein gehabter Traum ein, und sieh da! er faßte sich sogleich, setzte den Stuhl ganz gelassen nieder, und ging nach Hause. —

[114]

Was sagen Sie nun, werthester Herr Maimon, zu dieser Erscheinung? ich kann sie weder Ahndung noch Vorhersehung nennen, sie ist eine ganz neue Art, welche von Ihnen gar nicht ist erwähnt worden, und ich erwarte daher mit Sehnsucht Ihre Antwort und Ihren Aufschluß darüber, wodurch Sie unaussprechlich verbinden werden, Ihren aufrichtigen Freund

Aaron Wolfssohn.

Berlin, den 1sten Sept.

1791.

Erläuterungen:

a: Vgl. MzE IX,1,70-88.

[115]

8.

Heilung eines Melancholischen. a

Reinhardt, Karl August

C. L. B. wurde als wirklicher Melancholischer von dem Herrn Doctor und Domphysikus Abel zu Halberstadt nach Berlin in die Charité geschickt. Da ich ihn das erstemal auf der Station erblickte, wankte gleich mein Vorsatz und Hofnung, etwas thun zu können; denn ich sah ihn zwar vom Bette auf allein die Stube und zwar auf einer Diele trippelnd auf- und niedergehen, die Arme und Hände steif am Leibe herabhängend, und jeden, der ihn anredete und fragte, zwar ansehen, aber keinem etwas antworten; statt nach geschehener Aufforderung, seine Hand darzureichen, sie und seine Füße ansehn und allenfalls gezwungen lächeln.

Ich sah ihn so, faßte noch Muth und ließ ihn zu mir führen. Aufrichtig zu gestehen, wußte ich anfangs nicht, wie ich mein Unternehmen mit diesem Menschen beginnen sollte, da ich weiter nichts, als das von Halberstadt herübergebrachte Gerücht seiner Religionsveränderung hatte, woran ich mich als an der Ursach seiner Melancholie halten konnte (einen Brief aus Halberstadt, daß er von einem hitzigen Fieber dort befallen, bekam ich nachher erst von seinem Vetter). Ich fing an mit ihm zu reden, allein auf den Zehen stehend trippelnd, starr nach [116]mir sehend, bekam ich keine Antwort. Ich empfing darauf den Brief von seinem Vetter, sah, daß er nicht wie Herr Dokt. Abel in Halberstadt unrecht benachrichtiget geglaubt, schon vorher Anfälle davon gehabt, sondern daß seine Melancholie sich mit einem hitzigen Fieber angefangen hatte. Ich dachte dem nach, und gerieth dabei auf den Gedanken, daß vielleicht eine Krankheitsmaterie sich auf seine Nerven geworfen haben könnte, die, nachdem sie gehoben und zertheilt, einen gewissen Blödsinn, Stumpfheit oder Unbrauchbarkeit seiner Geisteskräfte zurückgelassen hätte, beschloß also, ihn als ein Kind zu behandeln, in dessen Seele ich neue Ideen nicht erst erzeugen, sondern die alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben müßte.

Ich fing daher an mit ihm in meiner Stube auf- und niederzugehen, zeigte an meinen Füßen, auf welche ich ihn verwieß, wie er stehen müßte, er ahmte dieß, jedoch mit Mühe und nicht lange anhaltend nach. Dies und eine etwanige Entwickelung eines Ja und Neins, woraus ich dann doch schließen konnte, daß er mich verstand, war in den ersten Tagen meine einzige Beschäftigung, ohne anderweitige Unterredungen mit ihm halten zu können. Nach einigen Tagen gelang es mir, daß er, ohne ihn anzufassen, neben mir her schon ging, allein immer noch furchtsam und mit keinem festen Tritt. Ich war stets aufmerksam auf jede seiner Bewegungen und Blicke, und mehr als einmal entdeckte ich [117]in den schon verflossenen Tagen, daß er, wenn er meinem Spiegel sich näherte, mit seinem Blick darin verweilte. Dies und weil er sich auf meine Aufforderung zum Niedersetzen sich dazu nicht bequemen wollte, weil er nur meine Stube unrein machen würde, führte mich auf den Gedanken, daß in ihm ein gewisses Ehrgefühl verborgen liegen könnte, und daß, wenn ich es rege machte, dadurch viel gewinnen könnte. Ich stimmte darauf diese Saite bei ihm an, wiederholte öfters, wenn er meine an ihn gerichtete Forderungen nicht zu achten schien, und Fuß und Hände in der einmal angenommenen Richtung behielt, die Worte: Carl, schäme dich, wie du da stehst, bist ein so großer hübscher Mensch, und beträgst dich wie ein Kind. Diese Worte schienen auf ihn merklich zu wirken, und durch aushaltendes Bemühn und Reizung seines in ihm liegenden Ehrgefühls, erlangte ich es, daß er mit festem Tritte ging, und seine Hände weniger steif in natürlicher Richtung hielt. Ohne gegenwärtig auch nur entfernt von Sachen der Religion zu sprechen, fuhr ich vielmehr fort, ihn als Kind zu behandeln, und mit sinnlichen, vielleicht ihm angenehmen Dingen zur allmäligen Entwickelung seiner vorräthigen, allein gleichsam geschwächten Ideen, und zur Unterredung zu locken. Ich gab ihm hierauf einen Apfel, und bei Gewahrnehmung, daß er bedenken trug, ihn anzunehmen, fragte ich ihn, ob er den dargereichten Apfel nicht [118]nehmen wolle; er sah ihn an, und antwortete nein. Ich. Weißt Du denn nicht, daß man eine geschenkte Sache annehmen könne. Er. Ja. Ich. Aber darfst Du das, was Dir nicht gehört, nehmen, ohne daß Dir die Erlaubniß gegeben wird. Er. Nein. Ich. Diesen Apfel, der mir gehört, will ich Dir schenken, weil ich Dir gut bin und Du recht artig seyn möchtest, kannst Du ihn also nehmen? Er. Ja. Ich. Nun so nimm ihn. Er nahm ihn ängstlich und behielt ihn in den Händen. Ich. Was wirst Du mit dem Apfel machen. Er. Ich werde ihn essen. Ich. Gut, dazu habe ich ihn Dir auch gegeben; allein verwahre ihn Dir so lange bis nachher, und steck ihn jetzt ein. Gleichsam als wenn er nicht wüßte, wie es anzufangen wäre, steckte er ihn langsam ein. Weißt Du auch wohl, lieber Carl, fuhr ich fragend fort, wie wir die Aepfel und alles Obst bekommen. Er. Ja (und gleichsam, als wenn es seine Lieblingsidee wäre) antwortete er mit einer gewissen Erheiterung der Seele, der liebe Gott läßt sie wachsen. Ich. Wo läßt er sie denn wachsen. Er. Auf den Bäumen. Ich. Ißt Du sie gern. Er. O ja. Ich. Also erzeigt uns auch der liebe Gott wohl einen Gefallen und Güte damit, daß er solches Obst wachsen läßt. Er. O ja, er ist allen Menschen gut. Ich. Nun, wenn er auch Dir recht gut seyn soll, so mußt Du auch hübsch artig seyn und thun, was ich Dir sage. Das war ohngefähr die erste anhaltende Unterredung, die ich freilich [119]nur gedrängt gedacht, um nicht durch Wiederhohlungen der Fragen, auf welche die Antworten ausblieben, oder wo ich vermuthete, daß er mich nicht verstanden haben möchte, den Leser zu ermüden. Ich entließ ihn jetzt immer in kürzerer Zeit, um ihn durch die Anstrengung seiner Geisteskräfte, die ich an ihm zu bemerken glaubte, nicht zu sehr zu ermüden, und eine Abneigung gegen meine Fragen zu erwecken. Ich fuhr mit jedem Tage in ähnlichen Fragen und Antworten fort, und suchte nun, da ich bemerkte, daß es ihm auf meiner Stube gefiel und auch auf seiner Krankenstube ein Verlangen nach mir geäußert, ein gewisses Zutrauen zu mir einzuflößen. So oft ich daran dachte, fragte ich ihn daher: kömmst Du gern zu mir, worauf er sich anfänglich in meiner Stube umsah, und es bejahete, und nachmals dann mir selbst versicherte: Es gefällt mir außerordentlich bei Ihnen, ich wollte wohl bei Ihnen seyn. Eben so wiederholte ich an ihn die Fragen: ob er wohl einsehe, daß es gut für ihn sey, und ich es gut mit ihm meine, daß ich ihn zu mir kommen ließ und mich mit ihm unterredete, welches er eingestand. Kurz, ich erreichte, was ich wünschte. Das Zutrauen vergrößerte sich, so daß er auf seiner Stube mich nach seiner Art zu loben anfing. Sobald ich das bei ihm bemerkte, fing ich nach mehrern Gesprächen und verschiedenen Uebungen seines Gedächtnisses dadurch, daß ich mir von ihm einige Winke aus seinem frühern Leben geben ließ, an [120]einige größre Fortschritte zu machen. Aus dem Halberstädtschen Briefe des Wirths und aus einem andern seines Freundes, des Cammerdieners aus Schlesien (den mir sein Vetter gebracht) hatte ich die Vermuthung genommen, denn mit Gewißheit konnte ich nichts schließen, da die specielle Erzählung seines vorhergegangnen Lebens keiner mir so treu geben konnte, als er nach seiner völligen Wiederherstellung es gethan; daß vielleicht ein gewisser Hang und Sehnen auch bei ihm statt finden könnte. Ich führte ihn oft nach einiger Zeit, da ich ihn schon stärker glaubte in Gedanken nach Schlesien hin, fragte ihn, wie es ihm da gefallen, und ob er Bekanntschaft gehabt, ob er gute Freunde da gefunden. Er beantwortete mir dies alles zwar gehörig, allein wie es mich dünkte, in der Art, als wenn er schon die folgenden Fragen ahndete. Ich fuhr nehmlich bald darauf fort, mich nach seinem Umgang mit dem weiblichen Geschlecht zu erkundigen, und er gestand mir, nachdem ich durch die Vorstellung, daß einen jungen Menschen ein erlaubter Umgang mit dem weiblichen Geschlecht nicht strafbar mache, ihn vertraulicher gemacht, die Bekanntschaft mit den Kammerjungfern, die mit ihm in Diensten in dem Hause seines Herrn in Schlesien gestanden, bei welcher Erzählung er jedoch die Nahmens öfters verwechselte; ob aus dem zu lebhaften Andenken an sie, oder weil sein Gedächtniß noch zu schwach war, als daß er sie sich jede besonders hätte [121]denken und nennen können, muß ich unbestimmt lassen. Eben so schreibe ich seine damals wiederholentliche Aeußerung, nach Schlesien wieder zu wollen, einer gewissen Schwäche zu, indem dieses Verlangen und Heimweh nachmals aus seiner Seele gänzlich geschwunden war. Je nachdem ich ihn stärker oder schwächer fand, denn dies Stark- und Schwachseyn wechselte an verschiedenen Tagen sehr oft ab, drang ich mehr oder weniger in ihn zu wissen, ob etwa Liebe Mitursach seiner Krankheit gewesen seyn könne; drang in ihn, ob er vielleicht dort wirklich sich versprochen oder verbunden. Indeß immer war das Resultat, daß man ihn gern um sich gesehn und ihn hatte leiden können, zumal, da er sich gern zu kleinen Gefälligkeiten, sowohl seiner erlernten Profession, als auch in dem Dienste bereit hätte finden lassen; und was er mir damals gestand, stimmte er auch ein, da ich ihm zu erkennen gab, daß ich manches besser wisse, als er vielleicht glaube. Sein Vetter hatte nämlich von dem Cammerdiener des Herrn, bei dem er in Schlesien gewesen, nachfolgenden Brief empfangen, den er mir mittheilte.

Schreiben des Cammerdieners an den jungen B.

Werthgeschätzter Freund!

Schon längst habe ich immer wollen an Sie schreiben, aber noch immer ist es geblieben. Erstens wissen Sie, daß ich schwer zum Briefschreiben [122]zu bringen bin, und zweitens viele Geschäfte haben mich ebenfalls davon abgehalten. Der gnädige Herr ist krank, und liegt in Breslau, wo also vor vierzehn Tagen die gnädige Frau dahin abgereiset ist, und soll bisjetzt noch wieder zurückkommen. Ihre Mademoiselle Braut, die Lottchen, ist ebenfalls mit der gnädigen Frau dahin gereiset. Ich habe also die (von Ihnen gegen sie) zwar noch im weiten Felde guten Gesinnungen ihr noch nicht bekannt machen können. Alle gute Bekannten und Bekanntinnen empfehlen sich Ihnen bestens, hauptsächlich die Christel, welche um Vergebung bitten läßt, daß sie Ihnen die Tabacksblase noch nicht hat verfertigen können. Das gute Mädel ist sehr krank gewesen, und so sehr, daß wir geglaubt, Klapperbein würde sie abholen; nunmehr ist sie aber völlig gesund, und wird Ihnen auch die erwähnte Blase jetzt sobald wie nur möglich, verfertigen. Daß Jakob ein Bräutigam ist, wird Ihnen doch wohl bekannt seyn, da sie eine Berlinerinn ist. Sie ist schon vierzehn Tage zu Schiffe auf der Reise hieher zu. Uebrigens leben Sie recht wohl; ich bin, wie Sie wissen, Ihr wahrer Freund.

D. den 22. Aug. 1790.

Dieser Brief bestätigte nach meinem Urtheil seine Aussagen. Als ein gutmüthiger Mensch, der gern gefällig war, erwieß man ihm wieder Geneigtheit und Gefälligkeit, und weil er sich an die Lottchen vielleicht etwas mehr, als an die andern attachirt hatte, so wurde diese für seine Braut gehalten.

So stimmte ich mehrere Saiten in meiner Behandlung mit ihm an; allein ich fand eben nicht, daß ich hätte mit Gewißheit bestimmen können, un-[123]terdrückter Ehrgeitz, Stolz, Liebe wäre alleinige Ursach seiner Gemüthskrankheit gewesen. Doch das hinderte mich nicht, da ich einmal schon solche gute Fortschritte gemacht, fortzuwirken. Vielleicht eine verborgene Neigung zur Thätigkeit, oder vielleicht auch Aufmunterung der Seinigen, die ihn besuchten, erzeugten in ihm das Verlangen zu schneidern. Sein Vetter schickte ihm daher Binden zu verfertigen; er nähete eine davon, allein die übrigen blieben liegen. Was die Ursach davon war, habe ich nicht entdecken, nicht genau von ihm erforschen können. Er wurde indeß fleißig zum Herumgehen angehalten, theils sich zu zerstreuen, theils seine Kräfte zu mehrerer Stärke zu gewöhnen.

Jede kleine Abwechselung zu bestimmen, die ich dieserhalb einschlug, ihn nun völlig zum brauchbaren Menschen zu machen, ist mir nicht möglich zu gedenken, indeß wurde er doch durch sie von Zeit zu Zeit so stark, daß er, vermöge seiner immer stärker wirkenden Denkkraft, nicht nur bestimmter, deutlicher und richtiger alles angab, sondern auch schon ein Sehnen nach Hause zu seinem Vetter äußerte, in der gewissen Hofnung und Erwartung, daß es da besser für ihn seyn würde, als hier, wo er beständig von Kranken umgeben war und seyn mußte. Der Arzt und ich sprachen darüber gemeinschaftlich, und da der Arzt keine Gefahr in Rücksicht seiner Melancholie zu befürchten glaubte, so wurde ihm die Erlaubniß gegeben, einigemale in der Woche mit seinem Aufwärter auf Urlaub zu seinem Vetter zu gehen; wo er, wenn er sich auch noch nicht als ein völlig Gesunder in seinem Betragen gezeigt, doch wegen seiner nun zu hoffenden völligen Wiederherstellung viel Freude veranlaßt hatte. Zu diesem [124]eben gedachten Betragen gehörte ein zurückgebliebenes gezwungenes Lächeln, was ihm wahrscheinlich beigeblieben war, als ich ihn gleich anfänglich dazu aufforderte, und was er nachmals wahrscheinlich darum wiederholte, weil er zu gefallen glaubte. Zwischen Weihnachten und Neujahr wurde er auf sein und des Vetters wiederholtes Bitten mit Genehmigung des Arztes auf einige Zeit gleichsam zur Probe aus der Charité zu seinem Vetter gelassen. Auch in der Stadt unterließ ich nicht, ihn zu besuchen, fand ihn aber bei jedem Besuch, was mir in seiner gegenwärtigen Lage durchaus nicht gefiel, bei Schneiderarbeit sitzend. Ich bat daher seinen Vetter und ihn selbst aufs dringendste, für gegenwärtig die sitzende Lebensart gänzlich zu lassen, recht viel durch Gehen sich noch immer mehr und mehr aufzuheitern und zu stärken, und sich besonders der Mäßigung im Essen und Trinken zu befleißigen, weil er sonst bei seinem gegenwärtig schwachen Magen leicht sich überessen und sich so von neuen eine Krankheit zuziehen könnte. Ohngeachtet der wiederholten dringenden Bitten, dies zu erfüllen, mußten wohl einige nothwendige Arbeiten, als auch eine übelangebrachte Liebe der Muhme zu diesem Menschen, nämlich ihren Vetter, nun nach der Krankheit recht zu pflegen, ihm also nicht nur jede Speise, sondern auch vielleicht recht viel von derselben zu essen gab, Ursach davon geworden seyn, daß ich ohngefähr bei dem dritten Besuche Klagen über ihn hörte, er habe sich schon wieder unartig aufgeführt. Ich schrieb es mit Recht der sitzenden Lebensart und (wie auch der Vetter mir eingestand) des Vollpfropfens mit Speise zu. Ich rieth dies noch ernstlicher ab, und kündigte ihnen bei Unterlassung dessen, [125]einen gewissen Rückfall seiner Gesundheit an (welcher um so natürlicher und gewisser erfolgen mußte, da sein Körper von der Heilung und simpeln Lebensmitteln im Charitéhause noch sehr schwach und eben so seine Geisteskräfte noch einer großen Schwachheit unterworfen waren, die daher, so wie sein Körper, mit der größesten Behutsamkeit nur nach und nach zum stark werden angeleitet werden konnte und mußte). Am 18ten Januar 1791, da ich ihn wieder besuchte, fand ich, was ich seinen Verwandten gesagt; er saß am Ofen, klagte über Mattigkeit in allen Gliedern, sprach sehr wenig, konnte kaum gehen, und hatte auch Nasenbluten gehabt. Ich rieth sogleich den Verwandten, nicht, wie sie gewollt, einen Chirurgus in der Stadt zur Heilung anzunehmen, sondern ihn lieber gleich wieder nach der Charité zu schicken, wo man doch einmal seinen ganzen Zustand kannte. Er wurde auch wirklich den 19ten Januar 1791 mit einem hitzigen Blutfieber in der Charité aufgenommen, dort seiner Krankheit angemessen behandelt, und sehr wahrscheinlich ists, daß diese Krankheit wirklich zur völligen Wiederherstellung beigetragen hat. Den 13ten Februar verließ er darauf völlig gesund die Charité, hielt sich nachher noch einige Zeit bei einem Bekannten auf und ist darauf in Diensten gegangen, wo man, wie ich durch Nachforschungen gehört, keine Spur von seinem vormaligen Krankheitszustand wahrgenommen; ich zweifle auch nicht, daß er, wenn er die seinen Körper angemessene Lebensart beobachtet, gesund bleiben werde.

Reinhardt.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 159-167.

[126]

Inhalt.

Seite
Einleitung zur neuen Revision des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, von Salomon Maimon. 1.
Zur Seelennaturkunde.
1) Zwei Briefe von Taubstummen; mitgetheilt vom Herrn Edukationsrath Campe. 29.
2) Untersuchung der Möglichkeit einer Charakterzeichnung aus der Handschrift, von Herrn Grohmann. 34.
3) Sonderbare Art des Trübsinnes, von Herrn Bendavid. 67.
4) Schreiben des Herrn Obereit an S. Maimon. 86.
5) Antwort auf das Schreiben des Herrn Obereit an S. Maimon. 100.
6) Eine das Gedächtniß betreffende Erfahrung; mitgetheilt vom Herrn Professor von Castillon. 106.
7) Erfahrungen über Träume, von Herrn Aaron Wolfssohn. 108.
8) Heilung eines Melancholischen; von Herrn Prediger Reinhardt. 115.
[<127>]

<Verlagsankündigungen.>

Neue Verlagsbücher der Buchhandlung von August Mylius in Berlin.
Ostermesse 1792.

Bahrdts, (C. F.) Ausführung des Plans und Zwecks Jesu, in Briefen. 12ter Theil. 8. 12 Gr. Wird zu Johannis fertig.

Blühdorn, (J. E.) Einige Gedanken über den Vortrag der Geschichte auf Schulen. 8. 2 Gr.

Buttmanns, (P. C.) Kurzgefaβte griechische Grammatik. 8. Berlin. 4 Gr.

Gedike, (F.) Französische Chrestomathie für höhere Klassen. 8. 12 Gr.

Hermbstädts, (S. F.) Bibliothek der neuesten physic. chem. Litteratur. 4. B. 1stes Stück. Gr. 8. 10 Gr.

Hugo, (G.) Civilistisches Magazin. 1. Th. 4tes, und 2 Th. 1. und 2. St. 8. 1 Rthlr.

— Lehrbuch der juristischen Encyklopädie. 8. 12 Gr.

— Dasselbe Buch unter dem Titel: Lehrbuch eines civilistischen Cursus. 1ter Th. 8.

Moritz, (C. P.) und Sal. Maimons Magazin zur Erfahungsseelenkunde. 9. B. 3tes, und 10. B. 1stes St. gr. 8. 20 gr.

Pyl, (J. Th.) Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzneywissenschaft. 8ter Th. Gr. 8. Wird zu Johannis fertig.

[<128>]

Rousseau’s Versuch in der praktischen Erziehung, übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. F. Feder. 8. 10 Gr.

Sammlung der besten und neuesten Reisebeschreibungen. 32 B. von C. P. Moritz, mit Kupf. Gr. 8. 1 Rthlr. 8 Gr.

Spittlers, (L. Z.) Entwurf der Geschichte der vornehmsten europäischen Staaten. 1. B. 8.

Tellers, (W. A.) Wörterbuch des neuen Testaments. Fünfte von neuem durchgesehene Auflage. Gr. 8. 1 Rthlr. 8 Gr.

— Die Religion der Vollkommenern, als eine Beylage zu dessen Wörterbuch des neuen Testaments. Gr. 8.

— Anleitung zur Religion überhaupt und fürs Christenthum; besonders für die Jugend der mittleren und höheren Stände bestimmt. 8. Wird zu Johannis fertig.

Vademekum für lustige Leute. 10 Th. Mit einem Titelkufper von Meil. 8. 12 Gr.

Zückerts, (J. F.) Diät der Schwangern und Sechswöchnerinnen. Dritte Auflage. 8. 8 Gr.