ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: VII, Stück: 1 (1789)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

C. P. Moritz und C. F. Pockels.

Siebenden Bandes erstes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1789.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Siebenten Bandes erstes Stück.

<Revision.>

Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Bei Fortsetzung der Revision der drei letztern vorhergehenden Bände dieses Magazins kann ich die Rubriken, worin gewisse Seelenkrankheiten aufgezeichnet sind, füglich übergehen, da man die Ursachen der meisten dieser Krankheiten und ihre Folgen in den vorhergehenden Stücken zu erklären, und nach psychologischen Gesetzen zu zergliedern gesucht hat, und da schon mehrere Psychologen ihre verschiednen Meinungen hierüber in öffentlichen Blättern geäußert haben. Ich wende mich daher diesmal gleich zu den vorzüglichsten Aufsätzen der letzten drei Bände, welche unter der Aufschrift: [2] Seelennaturkunde, vorkommen, und hier und da eine genauere Beleuchtung erfordern, als ihnen die Herren Einsender gegeben haben.

Das erste Stück des vierten Bandes enthielt lauter Erzählungen von Seelenkrankheiten; das zweite hingegen des nehmlichen Bandes hat destomehr Aufsätze, die zur Seelennaturkunde gehören.

Seite 42ff. 4. B. 2. St. befinden sich einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen, vom Herrn F.A. Wallroth. Ein sehr interessanter und lesenswürdiger Aufsatz, der manche wichtige Aufschlüsse über die sonderbare Ideenentwickelung in der Seele der Taubstummen enthält, und die Eigenheit ihres oft eben so sonderbaren Charakters in einzelnen Stücken sehr gut darstellt. »Der taubstummgeborne arme Mensch, dessen hier gedacht wird, war zwar in seiner Jugend in die Schule geschickt worden; allein seine Lehrer hatten theils nicht Zeit, theils nicht Lust genug gehabt, sich mit ihm besonders abzugeben, weil sie sich selbst keinen glücklichen Erfolg ihrer Arbeiten versprachen. Sein Verstand blieb also unaufgeklärt, und man fing nur alsdann erst an, ihm etwas als sündlich vorzustellen, wenn er es schon begangen hatte, und um so viel mehr, sagt der Herr Verfasser, scheint sein Betragen die Aufmerksamkeit des Psychologen zu verdienen. Die Gelegenheit, wie dieser Mensch zuerst auf die Idee von dem Daseyn einer Gottheit kam, war sehr besonders,[3] und ist vorzüglich bemerkenswerth. Schon öfters hatte man sich zwar bemüht, ihm zu zeigen, daß ein Wesen im Himmel sey, welches alles erschaffen und noch die ganze Welt regierte; allein alle Bemühungen hierin schienen fruchtlos zu seyn. Endlich kam eine Naturbegebenheit seinen Lehrern zu Hülfe, und ein Blitz, der vor seinen Augen in eine seiner Wohnung gegenüber gelegenen Scheune einschlug, überzeugte ihn auf einmal von dem Daseyn eines Gottes, der im Himmel wohne.« (Ungefähr wie die meisten rohen Völker durch dergleichen Naturbegebenheiten wohl zuerst auf den anfangs freilich noch sehr armseligen Begriff von einer Gottheit gekommen seyn mögen.)

»Kaum hatte er sich von seinem Schrecken etwas erholt, als er zu dem Herrn Wallroth eilte, und ihm das, was er gesehen, erzählte, und wie er nun auf einmal glaubte, daß ein großer, dicker Mann im Himmel sey, (denn so bildete er Gott ab, indem er die Backen und den Bauch aufbließ, und die Hand so hoch hielt, als er nur konnte, um dadurch seine Größe zu bezeichnen.) So oft er seit dieser Zeit Gewitterwolken am Himmel erblickte, fürchtete er sich außerordentlich, und bisweilen war ein schwarzes Wölkchen, das im Sommer am Himmel aufstieg, schon vermögend, ihn nach Hause zu treiben; denn so oft er ein Donnerwetter ahndete, floh er nach seiner Wohnung, und selbst Versprechungen waren nicht vermögend, auf [4]seine Seele zu würken und ihn davon abzuhalten.« (Wozu wohl vorzüglich seine unten geschilderte große Furcht vor dem Tode kam.) »So oft er nun seit der Zeit einen Menschen etwas thun sah, was nach seinen Gedanken unrecht und böse war, so warnte er ihn nicht nur, sondern kündigte ihm auch gleich seine Strafe an, daß nehmlich ein Blitz des Allmächtigen seine Scheitel dafür zerschmettern würde, welchen Blitz er durch eine schlangenähnliche Bewegung mit der Hand von oben herab auf den Kopf des Sünders leitete. Eine gleiche Strafe drohete er auch allen seinen Beleidigern, und besonders seiner Muhme, die ihn oft grausam behandelte, und ihm nichts zu essen gab.«

So viel Mühe sich übrigens der Herr Verfasser gegeben hat, dem Taubstummen Religionsbegriffe, besonders von der Erlösung durch Christum, von seinem Tod und Auferstehn, seiner Himmelfahrt u.s.w. beizubringen, so zweifle ich doch sehr, daß er diese Begriffe, wobei alle Anschaulichmachung und Versinnlichung ohne mündlichen Unterricht nicht viel fruchten kann, richtig gefaßt haben sollte. Einmal sind alle diese Vorstellungen an sich schon so dunkel, daß sie mir ohne einen wörtlichen Unterricht für keinen menschlichen Verstand erreichbar genug scheinen; zweitens liegen sie, als Facta betrachtet, so sehr außer dem Bezirk aller sinnlichen Begriffe, daß der menschliche Verstand ohne jenen vorhergegangenen mündlichen Unterricht [5]nicht leicht, oder überhaupt gar nicht ein Bedürfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religiösen Sinn der Geschichte, oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedrückt werden soll. Zeigt er ein gewisses Wohlgefallen daran, so würde man nach meiner Meinung sehr übereilt schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen haben müsse; — es ist wieder das Bild, an dem er sich ergötzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem Beispiel: »der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der Gottheit an.« Es ist unmöglich zu glauben, daß der unwissende taubstumme Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben sollte. Was er anbetete, war der am Creutz hängende Mann, den er sich als einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermöge der ihm hiervon sinnlich beigebrachten Ideen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet hätten, und hieraus floß ganz natürlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme vor allen Juden hatte. »So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte für einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un- [6] willen, zeigte, daß die Leute den Heiland in die Seite gestochen hätten, und daß der Blitz sie dafür tödten müsse.«

Ueberhaupt habe ich an den Taubstummen, die ich zu beobachten Gelegenheit gehabt, fast ohne Ausnahme einen erstaunlichen heftigen Unwillen gegen ungerechte, menschenfeindliche Handlungen, und einen sehr hohen Grad des Mitleids gegen Unterdrückte bemerkt. Da sie sich nicht durch Worte äußern, und dem Beleidiger durch Vorstellungen sein Unrecht vorhalten können, so drückt sich ihre Wuth, bei der ihnen ohnehin eigenen heftigen Gemüthsart, in den wildesten Geberden aus. Da sie sich ferner selbst unglücklich fühlen mögen, und durch die harten Behandlungen andrer oft viel leiden müssen, so wird dadurch ihr Herz sehr zum Mitleiden gestimmt und weich gemacht. Ich habe einen Taubstummen vor Wuth schäumen gesehen, der einer Mutter nicht das Kind aus den Händen reißen konnte, was sie auf eine unbarmherzige Art schlug; obgleich Mutter und Kind ihm ganz fremde Personen waren, und sein nachheriger Haß gegen dieses Weib blieb unauslöschlich.

Die Erzählung von dem heftigen Triebe des hier angeführten Herbst (so hieß der Taubstumme) zum heil. Abendmahl zu gehen, ist sehr interessant, und der Herr Verfasser erklärt ihn ganz richtig aus sehr natürlichen Ursachen; also nicht aus einer Art von Gnadenwirkung, woraus man so viel na-[7]türliche Dinge auf eine schiefe und widersinnige Art selbst in neuern Zeiten zu erklären sucht. »Er sah nehmlich Menschen am Altare etwas in den Mund nehmen, und hernach aus einem schön vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben lüstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zu zulassen, unstreitig noch mehr vermehrt wurde. Er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, daß er den öffentlichen Gottesdienst ganz abwartete, bis alle Leute aus der Kirche gegangen wären, — und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigtem Gottesdienste weggenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate, und trank den übrig gebliebnen Wein rein aus, worüber er den Seinigen eine lebhafte Freude bezeugte.«

Die ganz außerordentliche Hochachtung, welche Taubstumme gemeiniglich gegen Geistliche empfinden, und gegen den Gottesdienst an den Tag legen, wird auch durch dies Beispiel bestätigt. »Er war in der Kirche ganz Aufmerksamkeit, und ahmte außer der Kirche die Stellung und Bewegung der Prediger so glücklich nach, daß er jedem auf sein Befragen den Prediger durch seine Pantomime zu [8]bezeichnen wußte. Nichts war ihm unerträglicher, als wenn junge Leute in der Kirche plauderten. Er theilte einst sogar Stockschläge unter Knaben während der Predigt aus, die mit einander zu schwatzen anfingen.«

»Den Diebstahl und das Lügen verabscheuete dieser Herbst außerordentlich, wie ich überhaupt dieses, setzt der Herr Verfasser hinzu, bei einigen Stummen schon zu bemerken Gelegenheit gehabt habe.« Dies kann aus mehrern Ursachen herrühren. Die meisten Stummen sind bei ihrer sonst heftigen Gemüthsart doch gemeiniglich furchtsam und schüchtern, und fürchten leicht, daß sie, oder andre wegen einer verübten schlechten Handlung bestraft werden dürften; ferner sind sie erschrecklich mißtrauisch, und glauben, daß man sie immer genau beobachte. Daß der hier angeführte Taubstumme so abgeneigt war, ein Stück Geld zu entwenden, hingegen es doch für kein Unrecht hielt, Speisen hinwegzunehmen, läßt sich wohl aus einem guten Appetit, und der allen rohen Menschen eigenen Gefräßigkeit erklären, wo die Heftigkeit des Instinkts dergleichen Handlungen gleichsam erlaubt macht. Der Herr Verfasser erklärt sichs auch unten aus der Erziehung.

Eine sehr richtige Bemerkung, die Taubstummen betreffend, ist auch die, daß das Lächerliche leicht einen tiefen Eindruck auf sie machen kann, und sie oft bei den ernsthaftesten Beschäftigungen [9]mit lächerlichen Bildern, deren sie sich oft von langen Zeiten her wieder erinnern, unterhält. — Da die Einbildungskraft bei dergleichen Leuten gemeiniglich einen sehr hohen Grad der Lebhaftigkeit bekommen muß; da ihre Vorstellungen von äußern sinnlichen Gegenständen ziemlich eingeschränkt sind, und die Seele sich also mehr auf das, was sie ehemals lebhaft empfunden hat, einschränken und concentriren muß; da sie ferner gemeiniglich eines lebhaften Gemüths sind, und das Contrastirende äußerer Gegenstände ihnen um so viel mehr auffält, weil sie sich es aus Mangel symbolischer Begriffe nicht selbst erklären, oder durch andre deutlich erklären lassen können, so ists ganz natürlich, daß sich die Eindrücke des Lächerlichen sehr schwer aus ihrer Seele verwischen.

Auch unser Herr Verfasser schreibt den Taubstummen einen bis aufs Höchste getriebnen Argwohn zu, und dieser läßt sich, nach seiner sehr richtigen Meinung, theils aus dem unzulänglichen Unterrichte, den sie gewöhnlich bekommen, theils auch ganz besonders wohl daraus am leichtesten erklären, daß es das traurige Loos der Stummen von Jugend an gemeiniglich zu seyn scheint, von muthwilligen Menschen geneckt und auf alle mögliche Art verspottet und gemißhandelt zu werden. Diese traurigen Erfahrungen machen sie gegen jedem, der sich ihnen nähert, argwöhnisch und mißtrauisch, da sie in jedem Unbekannten einen neuen [10] Beleidiger ahnden. Daher es denn sehr schwer hält, das Zutrauen solcher Leute zu gewinnen; so wie man sich aber im Gegentheil vollkommen auf ihre Treue und Freundschaft verlassen kann, wenn sie einmal jenes Zutrauen gefaßt haben.

»Zorn und Liebe, fährt der Herr Verfasser fort, waren die zwei Hauptleidenschaften dieses Menschen; aber so groß auch seine Neigung gegen das schöne Geschlecht war, so floh und verabscheuete er doch den Umgang mit einer verehligten Person. Nichts war ihm daher unerträglicher, als einen Ehemann mit einem Frauenzimmer, sie mochte nun verheirathet, oder ledig seyn, scherzen zu sehen, und ein freundlicher Blick, den eine Frau auf eine andre Mannsperson warf, war schon hinreichend seinen Zorn ganz zu entflammen. Brummend und mit dem Kopfe schüttelnd verließ er ein solches, seinen Augen unerträgliches, Schauspiel, indem er mit schnellen Schritten zu derjenigen Person eilte, die durch die schändlichste Untreue ihres Ehegatten, nach seiner Meinung, aufs empfindlichste beleidigt worden war, und vertrat die Stelle eines förmlichen Anklägers u.s.w. — Wieder ein Beweis von der bei rohen Menschen oft so stark hervorleuchtenden Gerechtigkeitsliebe und Treue. Da aber bei solchen Leuten oft ein gewisser äußerer Umstand eine Sache heilig und wichtig macht, so kann auch die feierliche Ceremonie der Copulation, der Eindruck, daß sie in der Kirche und von einem [11]Geistlichen geschahe, viel dazu beitragen, daß solche Leute einen jeden scheinbaren Beweis von ehlicher Untreue verabscheuen; und daß ihnen natürliche Mißtrauen kann dann leicht verursachen, daß sie die unschuldigste Handlung für ein Verbrechen halten.

Auch einer erschrecklichen Furcht vor dem Tode war unser Taubstumme ausgesetzt. »Wenn man ihn daran erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Glieder zu laufen, und eine Todtenbläße überzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob Furcht oder Zorn mehr Antheil daran hatte. Derjenige wählte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte.« Sonderbar war es aber doch immer bei dieser seiner Furcht vor dem Tode, daß er bei jeder Beerdigung, die bei Tage geschah, zugegen war, und dem Todtengräber beim Einscharren getreue Dienste leistete.


Die Taubstummen sind unstreitig ein sehr merkwürdiger Gegenstand für den Psychologen, und genaue mit Scharfsinn über sie angestellte Beobachtungen würden mir viel willkommner, als Geschichten von Geistererscheinungen und Ahndungen seyn, die eigentlich nicht einmal in dieses Magazin gehören. Solche Beobachtungen würden gewiß [12]über mehrere Zweige der Seelenlehre ein größeres Licht verbreiten, und uns zeigen, welcher erstaunlichen Erweiterung unsere Gesichtsbegriffe, die lediglich bei Taubstummen das Gehör ersetzen müssen, fähig sind, ohne daß die menschliche Seele eine Verminderung ihrer Denkkraft zu leiden scheint; nur müßte man die Taubstummen durch einen Unterricht im Schreiben auch zugleich so weit zu bringen suchen, daß sie die Entwickelung ihrer Begriffe selbst angeben könnten, damit man, was oft der Fall ist, in ihre Seele nichts hineindenkt, was doch nie darin existirt hat. Solche Versuche, die uns nach und nach die ganze Reihe ohne symbolische Kenntniß erzeugter Begriffe in der Seele des Taubstummen darstellen müßten, würden nach meiner Meinung zweckmäßiger seyn, als daß man sich so viel ungeheure Mühe giebt, jenen armen Menschen eine Menge dunkler theologischer Begriffe einzuquälen, die sie doch wohl nie ganz fassen können, und ihnen wohl gar ganz entbehrlich sind. Vornehmlich müßte man aber an den Taubstummen folgende Betrachtungen anstellen.

a) Wie sie durch eine Analogie ihrer Empfindungen und Vorstellungen zu Begriffen gelangen, welche andre Menschen bloß vermittelst des Gehörs bekommen; wie sie diese Begriffe, da ihnen das Vehikel symbolischer Wortverbindungen fehlt, an einander reihen, in [13] sich aufbewahren, und in die Reihe ihrer übrigen Vorstellungen verweben.

b) Wie weit es die menschliche Seele überhaupt in Erlangung solcher analogen Begriffe bringen kann, ohne daß sie durchs Gehör sich Begriffe zu schaffen im Stande ist, — und wie sie sich ihre Abstractionen bezeichnet, um sie als solche und nicht als Empfindungen sinnlicher Objecte zu denken.

c) Ob sich daher die Seele des Taubstummen, um sich nicht durch die unzählige Menge von Gegenständen zu zerstreuen, gleichsam aus einem innern Ordnungsinstinkt eine Art von Sprache bildet, an welche sich alle ihre Gesichtsbegriffe anschließen, und wodurch sie fähig wird, Subjecte und Prädicate nicht mit einander in der Reihe ihrer Begriffe zu verwechseln.

d) Wie es zugeht, daß bei dem Mangel des Gehörs die Beobachtungsgabe der Taubstummen so erstaunlich zunimmt, und wie sie ganze Gespräche bloß durch die Lippenbewegung andrer richtig zu verstehen anfangen.

e) Vorzüglich aber müßte man die Eigentümlichkeit ihres Characters zu studi- [14] ren suchen; woher diese Eigenthümlichkeit rührt, und ob bloß der Mangel an Sprache und Gehör die Ursach davon ist.

Ihr erstaunliches Mißtrauen auf der einen Seite und ihr unerschütterliches Zutrauen gegen ihre Freunde auf der andern, ihr so sehr zur Rachgier und zum Zorn geneigtes Gemüth, und ihr so sehr zum Mitleiden und zur Sanftheit gestimmtes Herz, ihre Religiosität und Andacht, ihre auffallende fast allgemeine Abneigung gegen verheirathete Frauenzimmer bei dem heftigsten Instinkt der Liebe, ihre unbegränzte Furcht vor dem Tode, — alle diese Dinge geben die wichtigsten Veranlassungen zur Beobachtung ihres moralischen Characters.

Daß diese armen Menschen übrigens bei der Erziehung gemeiniglich verschroben werden müssen, ist ganz natürlich, da man sie so oft wegen gewisser Handlungen bestraft, deren Unrecht sie gar nicht einsehen können, und da die wenigsten ihrer Lehrer Geduld und Geschick genug haben, um sich zu ihnen ganz herabzulassen. Im erwachsenen Alter sind daher dergleichen Leute sehr schwer zu lenken, und aus ihrer ersten Erziehung läßt es sich gemeiniglich schon deutlich erklären, warum die meisten zeitlebens ein boshaftes Gemüth behalten.


[15]
Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit von Herrn Schlichting in Wien.
Seite 62 ff. 4. B. 2. Stück.

»Unauslöschlich, sagt der Herr Verfasser, haben sich die Vorstellungen von Figuren und Größen in mir abgedruckt, die aber mit der natürlichen Richtung meiner Seele nichts ähnliches hatten, flogen vorüber.« Hieraus zieht er nun den Schluß: daß nicht die Lebhaftigkeit der Eindrücke Ursach ihrer Fortdauer in der Seele, sondern Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Character es wäre. »Ich bin aber, fährt er fort, noch nicht überzeugt, daß ursprünglich die Seelenkräfte des Kindes zu einer Art der Dinge mehr gestimmt sind, als zur andern, sondern daß sie dieses erst durch Anlässe werden, und daß sie sich nach Verhältniß der vorkommenden Gegenstände und ihrer Eindrücke aufs Herz mehr oder weniger entwickeln; oder das Kind empfand einmal ein Object sehr tief. Nur sind entweder viele von den folgenden Vorstellungen gleichartig, und gesellen sich zu den vorhergehenden, schmiegen sich an sie an, und so bestimmen sie schon den Character des Kindes auf einen Punkt, daß nicht leicht heterogene Gegenstände sie aus dieser Lage verdrängen können; an diese aufgefaßte adsociirte Ideen erinnern wir uns nachher leicht wieder. Sind aber die folgenden Ideen ungleichartig, so sind sie stärker oder nicht; sind sie dieses, so bringen sie übrigens keine [16]merkliche Sinnesveränderung vor; man kann noch behaupten, es bleibe derselbe Seelenzustand, — dieselbe Seelenrichtung; denn sie gleiten vorüber und lassen kein Gepräg ihrer Existenz zurück; die in dem Menschen da gewesene Modification der Seelenorgane dauert fort im ersten gerührten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte, Vorwürfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tyrannen der Seele und ihrer Stimmung eindrängen, oder bis ein andrer gleichartiger kömmt, und denselben Seelenzustand befestigt. Wenn aber die ungleichartigen Eindrücke stärker sind, — so muß nothwendig die Wirkung dieser überlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer, (sind sie noch nicht zu alt, und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedner Gründe zu interessant gemacht) vertreiben, — sich ihrer Stelle versichern, — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele führen.«

Der Herr Verfasser urtheilt, wie mich dünkt, sehr richtig, daß die Lebhaftigkeit der Empfindungen nicht, wenigstens nicht immer, der Grund von ihrer längern Dauer sey, sondern daß, wenn Empfindungen lange fortdauren sollen, ein gewisser Zustand der Seele, eine gewisse innere Stimmung und Richtung derselben, die ihr natürlich sey, vorausgesetzt werden müsse. Aus unzähligen Bei-[17]spielen, sonderlich sehr lebhaft, sehr feurig empfindender Menschen wissen wir, daß die lebhaftesten Empfindungen und Vorstellungen gemeiniglich viel zu schnell vorüber gehen, als daß sie sich, um mich so auszudrücken, tiefer in den Grund der Seele hinabsenken sollten. (Ja! in der Lebhaftigkeit der Gefühle liegt sogar der vorzüglichste Grund, daß jene Menschen sollten einen fixirten Character erlangen können.) Die Seele wird dadurch entweder wie betäubt, so daß sie sie nicht mit gehöriger Aufmerksamkeit auffassen, und mit ihren übrigen Vorstellungen in Reih und Glied stellen kann; oder es löscht eine lebhafte Empfindung die andre augenblicklich wieder aus, weil sie gleichsam nicht Platz, nicht Spielräume genug in unserm Gehirn haben; oder die Lebhaftigkeit überschreitet den Grad des Angenehmen oder Unangenehmen der Empfindung, welcher mit der gegenwärtigen Disposition unsrer Natur heterogen ist, so, daß wir der Lebhaftigkeit der Eindrücke augenblicklich entgegen zu wirken anfangen. Nach psychologischen Gesetzen wird durchaus zur Dauer einer jeden Empfindung a) eine Receptivität der Seele erfordert, vermöge welcher sie sich geneigt fühlt, diese oder jene Empfindung vorzüglich aufzunehmen, (ein positives Streben zu jener Empfindung) weil sie entweder mit andern gleichartigen in der Seele schon vorhandenen eine Aehnlichkeit hat; oder weil eben die Seele müßig ist, und mit der ersten besten Sen-[18]sation ein gewisses Leere ausfüllen möchte; oder weil sie die Seele in einem ihr jetzt eben behaglichen Zustande des Vergnügens, des Schmerzens, oder des Denkens überhaupt befestigen. b) Eine in dem Augenblick der einwirkenden Empfindung erweckte Aufmerksamkeit, entweder auf der Totalempfindung oder auch nur auf einzelne Theile derselben, vermöge welcher sie das Ganze augenblicklich wieder in sich zurückrufen kann; — und diese Aufmerksamkeit kann theils durch eine Geneigtheit der Seele zu gewissen neuen Empfindungen erhalten werden; theils auch durch ein negatives Streben die Empfindung nicht zu behalten, oder durch eine Abgeneigtheit sie sich an andre Vorstellungen anschließen zu lassen. c) Ueberhaupt aber muß die im Augenblick der Empfindung erregte Aufmerksamkeit durch den Contrast der Lebhaftigkeit unterhalten werden; oder um mich anders auszudrücken, die Seele muß in sich nicht bloß ein momentanes, sondern anhaltendes Gefühl bekommen, daß die neue Empfindung viel stärker, viel auffallender und frappanter ist, als die andern Empfindungen, die sie zu gleicher Zeit erhielt, oder die sich schon in die Seele gelagert hatten; oder sie muß sich die Verhältnisse wenigstens einigermaßen deutlich vorstellen, in welchen die neue Sensation mit andern gleichartigen schon vorhandenen steht. d) Endlich muß vornehmlich mit allen diesen zur Dauer einer Empfindung erforderlichen Umständen der jedesmalige [19]Zustand der Organe harmoniren, weil es bekannt ist, daß Empfindungen bald länger, bald weniger fortdauren, je nachdem unser Nervensystem so und nicht anders gestimmt ist.

Daß die Vorstellungen von Figuren und Größen in unsrer Kindheit, wie der Herr Verfasser von sich erzählt, gemeiniglich die lebhaftesten sind, und am längsten fortdauren, ergiebt sich nicht nur daraus, daß wir uns anfangs vermöge der Natur unsers Denkens gar nichts ohne Raum und Ausdehnung vorstellen können, und an diese, obgleich dunkeln, Begriffe gleichsam jede Operation der Seele, wie an einem Stammbaum anhängen; theils auch daraus, weil an sich schon die Gesichtsvorstellungen einen höhern Grad der Lebhaftigkeit vor andern haben, indem uns die übrigen Sinne noch nicht so sehr zerstreuen. Vielleicht liegt auch selbst in der Natur des Lichts ein Grund, warum uns sichtbare Gegenstände tiefer eingedrückt werden; so wie in der originellen Beschaffenheit der Gesichtsfiebern.

Zu den Eindrücken, die am längsten aus unsrer Kindheit in der Seele fortexistiren, gehören unstreitig auch die der Farben, worüber man einen merkwürdigen Aufsatz im 2ten Stück dieses Magazins 1. Band. S. 82 nachlesen kann, was unstreitig daher rührt, weil die Eindrücke von Farben in der Seele eine sehr [20] einfache Totalvorstellung von einer gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegenstände gleichsam in den hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen.

Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens, diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden süßesten Freuden, selten über das vierte Jahr hinaus. Die Seelenorgane müssen erst eine gewisse Stärke erhalten, ehe sie Eindrücke dem Gedächtnisse auf lange Zeit überliefern können; obgleich die Denkfähigkeit noch keine Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Gedächtniß, um mich so auszudrücken, mehr animalischer Natur ist. Um die ersten Eindrücke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene Zurückerinnerungen an gewisse Gemüthsbewegungen an, ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser Gedächtniß gar nicht üben würden, — nehmlich Furcht und Freude. Wir werden dieß fast bei allen Zurückerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der Erinnerung genommen hätte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-[21]mer und Mißmuth nur noch wenig kannten, so behält auch das Zurückerinnern an fröhliche Scenen unsres frühern Lebens hernach immer die Oberhand, und daher entsteht dann das seelige Gefühl des Herzens, welches aus den Zurückerinnerungen aus unsern Kinderjahren entspringt;— ein Gefühl, dem an einer innern Herzlichkeit und Lebhaftigkeit nicht leicht eine andre Freude in spätern Jahren gleich kommt, und welches uns gewiß von der gütigen Gottheit zur Versüßung unsres mannichfaltigen Kummers in unsern spätern Jahren mitgetheilt worden ist. Wie sehr aber eine Menge unangenehmer Eindrücke in der Kindheit auf den ganzen nachfolgenden, selbst moralischen Character des Menschen würken, und ihm eine ganz eigenthümliche finstre Stimmung geben können, aus welcher er sich hernach nie wieder herausarbeiten kann, lehrt die große Anzahl düstrer, boshafter und schiefer Menschen, die in ihrer Jugend durch eine unbarmherzige Erziehung verdorben wurden.

Auszug aus einem Briefe. Haag den 15ten Dec. 1785, vom Herrn van Göns.

Dieser Brief enthält einige merkwürdige psychologische Phänomene, davon vornehmlich das erstere: Sonderbare Aeußerung der Gedächtnißkraft im Traume, unsre Aufmerksamkeit und [22]Beleuchtung verdient. Hier ist das ganze sonderbare Factum, das um so viel authentischer ist, da es der gelehrte Herr Verfasser an sich selbst beobachtet hat.

»In meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veränderte.

Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte.

Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich, zu behaupten.

Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir [23]vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden.

Ich sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden; — ein Beweis, daß er die Antwort wußte. —

Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu müssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe nach, und konnte den Sinn der Phrases auf keine Weise herausbringen.

Der Lehrer ermüdete endlich, mir länger Zeit zu lassen, und sagte zu dem Folgenden: nun ists an Dir.

Und der Schüler setzte sogleich den Sinn der Phrases deutlich auseinander, und diese Auseinandersetzung war so einfach, daß ich gar nicht begreifen konnte, wie ich nicht darauf hatte verfallen können.« —

Der Herr Verfasser setzt am Ende hinzu: »daß es ihm unbegreiflich sey, wie die Seele, welche mit der größten Anstrengung vergebens etwas sucht, in einer Minute, oder vielmehr in einer Secunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es eine andre sagen zu hören.«

Ich glaube nicht, daß der Herr Verfasser den Sinn der Phrases, indem er sich ihn zu finden an-[24]strengte, damals schon wirklich wußte, und sich ihn, nicht zu wissen, nur eingebildet habe, er konnte ja ihn bei aller Anstrengung in dem Momente wirklich nicht herausbringen. Vielmehr ists mir sehr wahrscheinlich, und anders läßt sich dieß Phänomen wohl nicht erklären, — daß der junge Schüler in dem Moment, daß der andre die Frage zu beantworten anfing, die Beantwortung selbst sogleich fand, und da er sie selbst nicht geschwind genug mittheilen konnte, sie dann dem zweiten Schüler in den Mund legte. Es läßt sich nicht begreifen, daß die menschliche Seele zu gleicher Zeit etwas wissen und auch nicht wissen sollte, und es wäre ein unerhörter Grad der Einbildungskraft, daß wir uns einen Gedanken als nicht existirend in uns denken sollten, dessen Daseyn wir doch wirklich in uns wahrnehmen.

Vielleicht war auch das erste Wort, das der zweite Schüler aussprach, und das die Seele des ersten dem andern auch wohl nur zufällig in den Mund legte, eine gelegentliche Ursach, daß durch eine Association der Ideen der Sinn der Phrases vom Verfasser hinterher gefunden wurde; eine Erscheinung, die nichts ungewöhnliches im Traume ist. Wir träumen, daß der andre etwas wissen könne, was wir sonst gewußt haben, worauf wir aber in dem Augenblick uns nicht gleich besinnen können — und lassen dann durch eine Verwechselung unsrer Person mit einer andern, ihr (der letztern) etwas [25]finden, was wir doch selbst gefunden hatten. Daß oft die einfachsten Probleme von uns im Traume nicht aufgelöst werden können, ist etwas sehr gewöhnliches, weil das Gedächtniß oft seinen Faden so sehr verloren hat, daß es sich nicht einmal auf die alltäglichsten Dinge besinnen kann. Aus diesem Gedächtnißmangel, der wohl vornehmlich durch die im Schlaf entstandene Erschlaffung der Gehirnfiebern herrühren mag, entstehen dann die sonderbarsten Umtauschungen von Vorstellungen und Empfindungen, und die häufigen Transgressionen der Einbildungskraft in idealische Welten, wozu es in der wirklichen kein Urbild giebt.

Unempfindlichkeit gegen ihren Zustand bei Wahnwitzigen,
von eben dem Verfasser. Seite 91.

Herr van Göns hatte verschiedene Jahre lang ein Mädchen von vierunddreißig bis sechsunddreißig Jahren beobachtet, die so rasend war, daß man sie nackend lassen mußte, weil sie alle ihre Kleider sogleich zerriß.

»Ich habe, sagt er, dieß arme Geschöpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal nackend auf dem Stroh liegen gesehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und [26]ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles zerbrechliche, gleich zerbrach.«

Dieses Mädchen bekam endlich ihren Verstand wieder. Herr van Göns befragte sie nachher wegen der physicalischen Empfindungen, die sie in Absicht ihres Zustandes gehabt hätte, und sie gab ihm zur Antwort, daß sie sich vollkommen erinnerte, nie die geringste Empfindung von Kälte, oder sonst einer Ungemächlichkeit gehabt zu haben; ausgenommen bei Gewittern, wo sie viel Schrecken und Angst ausstand, und sich allemal tief ins Stroh verbarg, oder in einen Winkel verkroch. — »So wahr ists, setzt der Herr Verfasser am Ende hinzu, daß es sowohl von Seiten der physikalischen Empfindlichkeit, als von Seiten der Moral selbst, in den Situationen, die uns oft am schrecklichsten vorkommen, Schadloshaltungen giebt, die bewundernswürdig sind.«

»Ich habe, sagt van Swieten in seinem Commentar zu Börhavens Aphorismen, B. III. S. 521, a einen Tollen gesehen, der alle seine Kleider zerriß, und mehrere Wochen lang nackend auf dem Stroh an einem gepflasterten Orte bei dem heftigsten Winter lag. Er aß zuweilen acht Tage hindurch nichts, darauf schluckte er alles, was man ihm gab, mit Heftigkeit, und sogar seinen eigenen Koth hinein, falls ihm auch die besten Speisen im Ueber-[27]fluß gegeben wurden. Er blieb viele Wochen lang Tag und Nacht wachend u.s.w.« —


Herr van Göns führt S. 94 eine Erinnerung aus den frühesten Jahren seiner Kindheit an, die in der That sehr selten ist. Er erinnerte sich nehmlich eines Besuchs, wozu ihn seine Anverwandten mitgenommen hatten, des Hauses, worin er war, und mehrerer Umstände, und zwar aus einer Zeit, wo die meisten Kinder noch ganz unfähig sind, Gedächtnißeindrücke zu behalten; er war nehmlich damals ungefähr anderthalb Jahr alt. Wir wünschen sehr, daß der Herr Verfasser fortfahren möge, zur Bereicherung der Seelenlehre mehrere Beobachtungen dem Publico mitzutheilen, da er, nach seiner Versicherung, schon lange angefangen hat, Materialien zu einer Experimentalseelenlehre zu sammeln.

C. F. Pockels.

Die Fortsetzung folgt.

Erläuterungen:

a: Erste Ausgabe van Swieten 1742-1772. Bd. 3 erschien 1755 in dieser Ausgabe. Es gab aber viele Ausgaben und Nachdrucke und das Werk wurde ins Englische und ins Deutsche übersetzt (van Swieten 1755-1775).

[28]

Zur Seelenkrankheitskunde.

Johann Herrmann Simmen,
ein braver Soldat, ein zärtlicher Vater, liebreicher Gatte, ehrbarer, ordentlicher, stiller Bürger und — — kaltblütiger Mörder seiner Anverwandten. a

Pockels, Carl Friedrich

Das Leben dieses sonderbaren Mannes, so wie sein letztes trauriges Ende, welches er sich durch ein schwarzes Verbrechen selbst zugezogen hatte, ist in einer kleinen, sehr lesenswürdigen Schrift beschrieben*), 1 woraus ich hier einen Auszug mit Anmerkungen liefern will, der in einem Magazin der Erfahrungsseelenlehre allerdings einen Platz verdient, um so viel mehr, da obige kleine, vor sieben Jahren erschienene Schrift lange nicht so bekannt geworden ist, als sie es zu seyn verdient.

Der angezeigten Schrift ist ein Kupferstich des genannten Simmen beigefügt, woraus Lavater, dem es zugeschickt wurde, ohne daß man ihm eine [29]nähere Nachricht von Simmen mittheilte, schloß: daß es sicherlich das Profil von einem außerordentlichen Mann sey, der groß seyn würde, wenn er etwas mehr eigentlichen denkenden Scharfsinn, und mehr innige Liebe hätte. Etc. Aus dem vor mir liegenden Kupferstich erhellet nach meinem Urtheil, daß Simmen kein gewöhnlicher, kein gemeiner Kopf war. Zwar nicht denkender Scharfsinn, aber ein zum ernsthaften Forschen und Untersuchen aufgelegter Verstand leuchtet daraus sehr deutlich hervor, — eine feste Seele, ein kühner Character, ein beharrlicher Sinn, ohne einen Zug von Grausamkeit. Vielmehr glaub' ich in ihm einen nicht geringen Grad von Menschenliebe, von väterlicher Herzlichkeit, obgleich auch einer beigemischten Rohheit der Natur zu bemerken. Steifer Ehrgeitz und Streben nach Vorzügen zeichnet sich auch darin aus. Im Ganzen ists das Gesicht eines rechtschaffenen Mannes.

»Der Unglückliche, so hebt der Verfasser oben angezeigter kleinen Schrift an, war in seiner Kindheit ein flüchtiger Knabe, dem nichts weniger, als das Stillsitzen anstand, der in der Schule von den Grundwahrheiten des Christenthums, und dem Uebrigen, was zum Gebrauch des Lebens darin gelehrt wird, wenig begriffen, und kaum fertig lesen und seinen eigenen Nahmen schreiben gelernt hat. Dieß ist das Zeugniß, das ihm diejenigen geben, [30]die sich noch von jenen Jahren her seiner zu erinnern wissen.«

Der Verfasser obiger Schrift zeigt sehr gut, daß diese Schilderung uns keine widrigen Vorstellungen von seiner natürlichen Gemüthsart beibringen darf.

» Simmen zeigte frühzeitig Lust zum Soldatenstande. Die Begleiter seiner Jugend erzählen, daß er wöchentlich mit Holz nach der Residenz gefahren, wenn er aber solches verkauft, halbe Tage vor der Hauptwache daselbst gestanden, und den Soldaten zugesehen habe. Er ward denn auch in seinem 17ten Jahre Dragoner.«

Der Verfasser glaubt nicht, daß Simmen durch besondre Jugendfehler zu dem gedachten Stande gebracht worden sey. »Sein Verhalten in demselben macht es auch nicht wahrscheinlich, daß er aus Verlangen nach einer ungebundenen Lebensart zu seiner Wahl hingerissen sey, und die Erlaubniß zu dieser Freiheit beim Kriegshandwerk zu finden, irriger Weise geglaubt habe.«

»Er machte mit seinem Regimente im Dienste der Generalstaaten gleich anfangs den letzten Feldzug vor dem Aachner Frieden mit, kam aber bei dem Schluße des Krieges mit seinem Regimente wieder nach Hause. Er muß hernach als Soldat in Friedenszeiten Wohlverhalten, Ordnung und Unverdrossenheit bewiesen haben, da die ältesten [31]Leute von seinem Regimente ihm nichts übels nachzusagen wußten, und er den Beifall zweier seiner Befehlshaber hatte. Er bekam den 31sten Dec. 1758 von seinem Chef, einem erlauchten Herrn, einen ehrenvollen Abschied.«

»Der zweite Preußische Krieg rief ihn wieder ins Feld. Außer dem Fußvolk mußte sein Fürst auch den größten Theil des Dragonerregiments, unter dem Simmen stand, als ein Contingent zur Reichsarmee stoßen lassen. Simmen durfte mit marschiren; in einer altenburgischen Landstadt wird er aber von preußischen Husaren aufgehoben, durchs Erzgebürge nach Sachsen geführt, und nimmt unter dem berühmten Belling Dienste. Beim Aufbruch aus den Winterquartiren in Chemnitz und Eröfnung des Feldzugs 1759 rief ihn sein vorgedachter Chef unvermuthet vor die Fronte, erklärte ihn zum Unterofficier, und wünschte ihm dazu Glück, obgleich Simmen sich alle Mühe gab, die neue Charge zu verbitten. Bald darauf stieg er bis zum Wachtmeister, zum Beweis, daß er allen Muth, Entschlossenheit, Unerschrockenheit und Ordnungsliebe bewiesen haben müsse, die der Preußische Geist und die Preußische Zucht erfordern.«

»Im Jahre 1760 mußte er mit seinem Regimente nach Pommern, wo er bis 1762 gegen die Schweden fochte. 1762 gerieth er durch einen Zufall im Erzgebürge unter die Reichstruppen und [32]wurde von ihnen aufgehoben, durch List aber kam er zur Preußischen Esquadron zurück. Von Feldschlachten hatte er der bei Frankfurt an der Oder und bei Zorndorf, und außerdem sehr vielen Scharmützeln beigewohnt, bei welchen Gelegenheiten er denn unterschiedene Säbelhiebe bekommen. Er versicherte, daß ihm einigemal sein eigner Säbel vor der Faust weggehauen sey; Kugeln aber hätten ihm nichts gethan. Er bildete sich ein, fest dagegen gewesen zu seyn, und sagte mit Entdeckung eines wunderlichen Aberglaubens, der 91. Psalm habe ihn fest gemacht, den er allezeit ein- oder mehreremale vor dem Handgemenge gebetet habe. Dieses Geheimniß verdankte er einem Prediger zu Hirschberg, der vorher Feldprediger gewesen sey.«

»Nach seinen sechsjährigen Preußischen Kriegsdiensten bekam er von seinem Chef Erlaubniß, in sein Vaterland zu reisen. Der Kriegsdienst war die Schule, sagt der Herr Verfasser, in welcher dieser Mensch das sanfte, und den guten Anstrich seiner Sitten, auch die Geschicklichkeit, wohlzureden, gewann, und den ehrlichen, ehrbaren, feinen Mann so meisterhaft spielen lernte; daß er aber darin ein Mensch von guten, festen moralischen und Religionsgrundsätzen, ein Mensch von einem eigenthümlich guten moralischen Character geworden sey, das läßt sich nicht sagen. Genug, er lernte aus Bewegungsgründen von Anstand oder Uebelstand, von Ehre oder Schande, von Belohnung [33]oder Strafe, was gelobt würde, was ihm zur Empfehlung dienen könnte, nachahmen.«

»Freilich haben alsdann diejenigen nicht Unrecht, die ihn für einen feinen Heuchler erklären. Die Vorblicke von Ehrlichkeit, von Ehrliebe, von Güte des Herzens, die in seinem Betragen hervorstechen, könnten wir für nichts anders halten, als was Cicero in einer bekannten Schilderung: adumbrata non expressa signa virtutum & vitia radicibus quibusdam virtutum nixa nennt. In dem Falle, daß strafbare Begierden und Affecten sich seines Herzens möchten bemeistert haben, ist freilich alsdann nicht anders zu erwarten, als daß er diese Geschicklichkeit, sich zu verstellen, und einen guten Schein anzunehmen, mit zum Dienst seiner bösen Begierden angewendet, und er alsdenn als ein arglistiger böser Heuchler gehandelt haben werde.«

»1764 erhielt er, wie schon gesagt, Urlaub, und kam in dem nehmlichen Jahre glücklich und mit Ehren an seinem Geburtsorte an. Er fand hier nach seiner Zurückkunft allerlei Verstrickungen, die ihn zu dem Entschluß brachten, den er wohl bei seiner Abreise nicht gehabt hatte, seinen Dienst zu verlassen, und nicht wieder zu seinem Regimente zurückzukehren; er suchte beim Obrist von Belling um seinen Abschied nach, der ihm aber seinen Gesuch zweimal abschlägt.«

[34]

»Es kamen wohl bei ihm viele Bewegungsgründe zusammen, die ihn vermochten in seinem Vaterlande zu bleiben. Er hatte Freunde, die ihn dazu beredeten, und durch mancherlei Vergnügungen, die sie ihm machten, an sich zogen; vielleicht mischte sich auch die Liebe darein, nach welcher er sich kurz hernach zu seiner Heirath entschloß. Er kaufte sich also in seinem Geburtsorte an, ließ sich häuslich nieder, und trat zu einer Gesellschaft Viehhändler, die ihn zu den auswärtigen Geschäften ihres Handels gegen gute Vergeltung seiner Dienste gebrauchten. In der Folge aber gab die Verbindung mit seinen Handelsconsorten zu Irrungen Anlaß, woraus Schuldklagen erwuchsen. Wegen einiger derselben will man Simmen beschuldigen, daß er Schuldposten, die er für die Gemeinschaft gehoben hätte, abgeschworen habe. Er hat aber in sehr ernstlichen Unterredungen behauptet, mit Wissen nie falsch geschworen und allezeit ein Entsetzen vor falschen Eiden gehabt zu haben, mit Anführung des Denkspruchs des gemeinen Mannes: einen falschen Eid geschworen, heiße die Seele verloren.«

»Durch seine Verheirathung kam er mit dem, mit dessen Blute er sich befleckte, in eine doppelte Verschwägerung. Denn Simmens Weib war George Schmidts leibliche Schwester; und dieser hatte Simmens Schwester zur Frau.«

[35]

»Simmens Ehe ward einträchtig und gut geführt, ohne daß ein Theil über den andern Beschwerden geäußert hätte. Dem entgegen, was man von ihm vermuthen sollte, wird er von solchen, die sein Haus kennen, als ein gefälliger, sich sehr bequemender Ehemann beschrieben, der häuslichen, auch gewöhnlicherweise nur weiblichen Verrichtungen sich oft unterzogen habe.«

»Gegen seine Kinder soll er sehr nachgebend gewesen seyn, ob es ihm gleich sehr am Herzen lag, daß sie etwas lernen sollten, daß er Geld auf ihren Privatunterricht außer der Schule wandte, ihnen zum lernen, so gut er konnte, behülflich war, sie mehrmals selbst prüfte, und nach befundenem Zunehmen sich gegen ihre Lehrer sehr dankbar bewies.«

» Simmens neue Lebensart und Haushaltung an seinem Geburtsorte schien nun ganz gut eingerichtet zu seyn. Er hielt sich fein, sein Betragen war ordentlich, bescheiden und gesittet; auch selbst diejenigen, denen sein feines Betragen am verdächtigsten war, können ihm das Lob eines äußerlich ehrbaren, ordentlichen und stillen Mannes nicht versagen. Er erwarb sich dadurch Zutrauen und Ansehn, und weil sein guter Verstand, seine durch Erfahrung erworbene Kenntnisse, seine Bedächtlichkeit und gute Art zu reden dazu kam, wurde auch die Vormundschaft seines Orts bewogen, ihn zu ihrem Mitgliede anzunehmen. Er soll in dieser [36]Verbindung alle Obliegenheiten und Aufträge gut ausgerichtet haben.«

»Es kann ihm keine einzige Art öffentlicher, habitueller Ausschweifungen schuld gegeben werden. Er trank wohl eine Zeche mit, und konnte sie vertragen; aber er war kein Schlemmer von Profession, er wußte sich nicht nur vor Unordnungen in Acht zu nehmen, die beim Trunk vorzufallen pflegen, sondern hielt bei solchen Gelegenheiten immer selbst auf Ordnung, wehrte Händeln, stiftete Frieden, und ich habe rühmen gehört, daß wenn auch mehrere volle Tische mit einander in Zwist geriethen, er sie, wie der gemeine Mann sich ausdrückt, durch seine Redensarten zu befriedigen gewußt habe.«

»Eben so frei ist er von dem Verdacht geblieben, mit Personen andern Geschlechts ausgeschweift zu haben, seit der Zeit, da er den Säbel abgelegt und sich verheirathet hat. Er versicherte selbst, vor lüderlichen Personen dieses Geschlechts allezeit einen Abscheu gehabt zu haben.«

»Verschiedne Jahre ging es glücklich mit seinem Viehhandel, und seine Vermögensumstände schienen auf einem guten Fuße zu seyn. Allmälig aber wurde seine Familie zahlreicher. Er war schon ein Vater von drei Kindern, als die bekannten theuren Jahre einfielen. c Diese traurige Zeit wurde eine Ursach von dem ersten Verfall seines Vermögens und seiner Nahrung; — er mußte zusetzen, [37]und es war ihm nicht möglich, sich ganz wieder aufzuhelfen. Es entstanden zwischen ihm und seiner Handelsgesellschaft Zwistigkeiten, sie trennte sich von ihm, und er sollte nun für sich allein handeln; das konnte er aber nun mit seinem eigenen Vermögen nicht glücklich durchsetzen. Es ging nun nicht mehr so, wie er es wünschte, er konnte sich nicht mehr auf dem Fuße halten, wie er angefangen hatte; zum Bauer wollte er sich nicht ganz herablassen.« *) 2

[38]

»In dieser drückenden Lage wurde seines Vaters Schwester, die mit einigem Ansehn in der benachbarten Stadt lebte, zur Wittwe. Diese erbot sich, ihn mit den Seinigen zu sich zu nehmen, wenn er ihre Angelegenheiten besorgen und ins Reine bringen würde. Er folgte hier unsichern Hofnungen, und vielleicht auch dunkeln Blendwerken, die ihm seine Ehrsucht vorspiegelten. Mich dünkt, daß ihn die Begierde, größer zu scheinen, auch wohl größer zu werden, als er war, und noch einmal wieder einen verhältnismäßigen Character zu gewinnen, eben so sehr zu dem Schritte, den er hier that, verleitet haben möge, als der Drang häuslichen Mangels. Er entschloß sich, in die Stadt zu der gedachten Verwandtin zu ziehen, ward Bürger und verkaufte sein Haus an seinem Geburtsorte an seinen Schwager Schmidt. Die Hoffnungen, die ihm waren gemacht worden, oder er sich selbst gemacht hatte, täuschten ihn, oder er hatte nicht Geduld und Schmiegung genug, sie ab-[39]zuwarten. Er verlor darüber, daß er sich fremden Angelegenheiten unterzog, vollends alle Vortheile seines bisherigen Handels und voriger Einrichtung, und durch mehrere Umstände, die dazu kamen, wurde dieses der Schritt zu seinem Fall und Verderben.«

Vorzüglich aber scheint mir in folgenden Umständen die eigentliche Vorbereitung zu seiner abscheulichen That gelegen zu haben. »Es entsponnen sich über den Hauskauf allerlei Entzweiungen zwischen ihm und seinem Schwager, die bis zu einer tödtlichen Verbitterung anwuchsen. Dieser bezahlte von dem Hauskaufsgelde, womit sich Simmen zu helfen gedacht hatte, nicht nur ein darauf haftendes größeres Capital, das mit Willen des letztern geschehen seyn soll, sondern auch andre kleine Posten wider seinen Willen. Simmen glaubte, daß derselbe dabei auch seine Gläubiger, die auf andre Art vortheilhafter für ihn hätten befriedigt werden können und sollen, unredlicher Weise selbst aufgereitzt habe, so daß ihm hierdurch nicht nur das Kaufgeld zersplittert und seine Hülfe benommen, sondern auch die Bezahlung des Geldes zu seinem mehrern Ruin und dem Contract zuwider verzögert sey. Aus dem Wortwechseln hierüber entstanden ferner auch wohl Thätlichkeiten und Injurienklagen, wodurch der Groll des, besonders durch die letzte Art Klagen, mehrmals empfindlichst gereitzten Wachtmeisters immer stärker aufloderte. — Hierzu [40] kam noch, daß Schmidt seine Schwiegereltern, als Simmens Vater und Mutter, geschlagen, und seine erste Frau, als Simmens Schwester, und welche dieser sehr geliebt, sehr übel gehalten habe, wenigstens hat Simmen dieses in seinem gerichtlichen Verhör behauptet, und als eine Hauptursache seines fürchterlichen Hasses angegeben. Weil aber endlich Schmidt sich auch immer in Absicht seiner äußern Lage besser, als der Wachtmeister, befand, so kann daher wohl einige Eifersucht in die Verbitterung des letztern sich mit eingemischt haben. Das konnte der Wachtmeister selbst nicht läugnen, daß er in dieser Gemüthsfassung seinem Schwager öffentlich und vielleicht mehrmals Rache gedrohet und geschworen habe.*) 3 Die nächste Ursach des [41] Ausbruchs seiner Wuth war unstreitig die, daß er von seinem Schwager einen Vorschuß zu erhalten versuchte, welcher ihm auch vom letztern versprochen wurde; nachmals aber sich von der Erfüllung dieses Versprechens wieder ablenken ließ.«

»Seine nunmehrige traurige Lage will ich mit des Unglücklichen eigenen Worten beschreiben. Kein Haus! keine Hülfe bei Freunden! keinen Trost! keinen Credit! da mir sonst jeder ein paar hundert Thaler zu borgen bereit war. Hierzu kamen nun noch der Drang von Gläubigern und zu fürchtende Rechtshülfe, auch die Nothwendigkeit, einen Sohn zum Handwerk zu helfen, und das Uebel, dazu kein Mittel zu wissen, und wer weis, was noch mehr, das verborgener ist? Man denke sich hier den Mann, der gewohnt war, seine Rolle mit Ansehn, ja mit einigem Glanz zu spielen, dem es der Stolz unerträglich machte, sich so weit herunter zu lassen, als ihn nun seine Umstände herabzusetzen droheten, der weder die Gründe der Vernunft, noch der Religion so gefaßt, oder im Herzen hatte, daß sie dasselbe hätten beruhigen, aufrichten und bei Muth erhalten können! Wenn er gewohnt war, so wie ers wirklich war, bei dem allem im Resultat zu denken — und an dem allen ist dein Schwager schuld; so muß man vor dem erzittern, was bei der Unbändigkeit einer solchen Gemüthsart, wie die Simmische, von starken, [42] schwermüthigen Affecten war, endlich zu fürchten schien.«

»An einem unglücklichen Sonntage durchbrach der Damm seiner Verzweiflung und Wuth. Simmen besuchte früh den Gottesdienst in der Stadt, und man will bemerkt haben, daß er, wie es geschienen, einer ernsthaften Predigt aufmerksam zugehört habe. Den Nachmittag ging er über Feld, einiger Geschäfte wegen, und auch da noch einmal in die Kirche.«

»Am Abend kam er wieder nach Hause, und brachte noch einige Stunden bei einem Bekannten in der Nachbarschaft zu, wie ich glaube, den Gedanken, mit denen er sich trug, und wie ich vermuthe, wohl noch selbst seinem bösen Vorhaben zu entgehn: denn es zog ihn wohl das innere Gefühl noch zurück. Aber sein Herz hing schon zu sehr auf die böse Seite, und wandte nicht Ernst und Kraft genug an, zu widerstehen. Er klagte beim Weggehen von seinem Besuch und bei seiner Wiederkunft zu Hause, daß er nicht recht wohl sey, und ging, zu seinem Verderben, auf das zweite Stockwerk, allein zu schlafen. Der Vorsatz, die Mordthat zu verüben, drang sich immer mehr in seiner Seele vor; er faßte den Entschluß, und machte Anstalten dazu, doch alles noch mit innerlichem Widerspruch und Widerstreben. Er gerieth darüber in einen Schlummer, fuhr aber aus demselben, wie er es bei der Abzeichnung seines [43] Bildes erzählte, gegen eilf Uhr plötzlich und voll von einer Wuth auf, die ihn so gedrängt, daß er sich nicht zu helfen gewußt hätte, und wie verdüstert zur Ausführung fortgegangen sey.«

»Anderthalb Stunden brauchte der Unglückliche, nach seinem eigenen Bekenntniß, zu einem ihm höchst bekannten Wege, von einer kleinen halben Stunde; ein Umstand, der nicht zu erklären steht, wenn wir uns nicht vorstellen, daß ihn der Sturm seiner Affecten und der Kampf in seiner Seele mehrmals aufgehalten und zum Stillstehen gebracht habe. Sehr sonderbar ist folgendes Geständniß des unglücklichen Mannes: Ich würde, sagte er, wenigstens diesmal, vielleicht aber auch aufs künftige, mich bedacht haben, und von meinem Vorhaben abgestanden seyn, wenn mir jemand beim Weggehen aus meinem Hause, oder ein Wächter auf der Straße begegnet wäre, oder ich bei der Einlassung in das Mordhaus einige Schwierigkeiten gefunden hätte. Aber selbst den Zufall, daß ihm nichts hinderlich gewesen sey, nahm der Unglückliche als ein Kennzeichen an, daß sein Vorhaben ein Verhängniß sey, ja noch damals, wie ich ihn dieses habe erzählen hören, suchte er darin eine heimliche Entschuldigung seines Verbrechens, die mir bedenklich war.«

» Simmen taumelte aber nun dahin, wo er die Verbrechen begehen wollte, so schwankend, so [44] verblendet, so verdüstert, wie schon gedacht. Er fand noch Licht im Hause, und klopfte, wie er es erzählte, leise an. Seine Schwägerin sahe heraus, fragte ihn, auf seinen Gruß und Bitte, eingelassen zu werden, wo er so spät herkomme? glaubte seinem Vorwande, über Feld herzukommen, ließ ihn ein, und führte ihn in die Stube, wo er seinen spät heimgekommenen Schwager im Bette, wie man sagt, etwas berauscht, aber noch nicht völlig eingeschlafen fand. — Alles also so leicht, so bequem. Nun ward sein Entschluß fest.« —

» Simmen ward von seiner Schwägerin willig und freundlich aufgenommen, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß sie einen Erbitterten einlasse, der mit Hülfe der Nacht ihr Mörder werden könnte; noch mehr, sie bietet ihm zu essen an, und nimmt ein Licht, um ihm noch um Mitternacht Sauerkraut aus dem Keller zu holen, davon er, wie sie wußte, ein Liebhaber war. Der unempfindliche Mörder legte bald darauf seine eben angebrannte Tabackspfeife wieder hin, — schleicht ihr nach, — nimmt ihr das geholte Sauerkraut ab, das sich nachher noch in der Stube fand, — giebt ihr aber zugleich unversehens mit einem dazu mitgenommenen und unter dem Rock verborgenen Knittel noch in dem Keller, als sie eben im Begriff ist, wieder herauszugehen, auf der untersten Stufe einen schweren Schlag auf den Kopf. Sie behält noch so viel Bewußtseyn, daß sie ihm zuruft: [45]warum er das an ihr thue? aber weder die Wuth, noch die einmal gewagten argen Vorschritte, ließen ihn zurückgehn. Er giebt ihr noch einige Schläge, und da sie noch immer wimmert, nimmt er sein gewöhnliches schlechtes Taschenmesser, und giebt, wie er es erzählte, um ihr von ihrer Qual zu helfen, ihr noch einige Stiche und Schnitte, das er selbst im Dunkeln, weil das Licht ausgegangen war, nicht hätte unterscheiden können. Verläßt darauf den Keller, ungewiß, ob sie ganz todt sey, sieht auch weiter nicht nach ihr, sondern legt nur, als er wieder aus dem Hause ging, den Keller zu. Bei der Section haben sich an ihr acht Wunden, theils vom Schlag, theils vom Messer gefunden, davon zwei für schlechterdings tödlich erkannt sind, ihr Blut aber war bis sechs Schuh weit von ihr gesprungen. Auch diese umzubringen, hatte er den Vorsatz später gefaßt, und daher nichts bedrohliches sich gegen sie früher verlauten lassen. Zur Ursach hat er angegeben, weil sie ihn und seine Frau vielmals sehr arg und empfindlich geschimpft, diese auch sogar vor kurzem sehr geschlagen habe: auch der Antheil, den sie an der Verweigerung des Vorschusses hatte, den ihr Mann kurz vorher dem Erbitterten versprochen gehabt, gehört wohl mit zu diesen Ursachen.«*) 4

[46]

»Nach Verübung dieser Grausamkeit ging Simmen wieder in die Stube, fand seinen Schwager im Bette unterdessen eingeschlafen, und gab ihm zwei bis drei Schläge auf den Kopf, so daß derselbe keinen Laut mehr von sich gegeben haben, sondern auf einmal ohne einige starke Bewegung erstarrt liegen geblieben seyn soll. Es war auch die halbe Hirnschaale entzwei und in das Gehirn selbst hineingedrungen, auch das rechte Ohr von einander geschlagen; doch gab er noch bis in den andern Tag hinein, obgleich sinnlos, einige Zeichen des Lebens von sich.«

[47]

»Nach Simmens Aussage geschahe es bei dem zweiten Schlage, der den Vater traf, und deswegen auch seine meiste Kraft verloren hatte, daß das Schmidtsche vierjährige Kind, welches beim Vater im Bette lag, und der Thäter vorher nicht bemerkt haben will, sich in die Höhe richtete, und mit von eben dem Schlage auf den Kopf getroffen ward, welches er denn, bevor er aus dem Hause gegangen, noch mit Kissen zugedeckt haben will, das aber nachmals nach des Vaters Füßen zu auf dem Gesichte liegend mit noch einigen Kennzeichen des Lebens gefunden ward.«

»Eine ältere Tochter des Erschlagenen schlief indessen auf einer andern Kammer, und hörte von dem allen nichts. Simmen konnte deswegen nach verübten Verbrechen unbemerkt aus dem Hause gehn; das that er aber erst, nachdem er vorher aus der Weste des sinnlos liegenden Mannes den Schlüssel zu dessen Geldschränkchen gezogen, und demselben das darin vorräthige Geld, nach seiner Aussage beinahe ein Dutzend Thaler, weiter aber nichts, genommen hatte. Er hat auch eingestanden, auf dieses Geld zugleich mit Absicht gehabt zu haben. Ich glaube es leicht, vermuthe aber, wiewohl er damals wegen Geldes von mehr als einer Seite im Drang war, daß der Gedanke an dieses Geld sich doch erst spät an den ältern Gedanken auf Rache angeschlossen, und, weil er seinen Schwager als die Ursache seines Ruins ansahe, er sich für [48] nicht unberechtiget gehalten habe, auch durch das Geld, so er bei ihm finden würde, sich schadlos zu halten und aus seinem Drange zu reißen.«

»Was ich jetzt anführen will, hat er zwar nur außergerichtlich geäußert; es wird aber durch die Zusammenbestimmung mit den übrigen Umständen glaubhaft; daß nehmlich sein Vorsatz gewesen sey, im Ueberdruß seines Lebens, als ein doch ruinirter Mensch, nach verübten Mordthaten, sich selbst abzuhelfen, und zwar, wie er sagte, zu ersäufen; wozu er doch hernach nicht kommen können, wovon Gottes Hand ihn müßte zurückgehalten haben; er sey vielmehr die ersten Stunden nach dem Mord ganz ruhig, ja vergnügt gewesen, habe aber, als er nach und nach zum Nachdenken gekommen, den Willen gehabt, sich selbst der Gerechtigkeit zu überliefern, wiewohl ihn wieder der Gedanke, daß doch wohl niemand auf ihn Verdacht haben, und er durch die Anzeige nur Frau und Kinder unglücklich machen werde, von dieser eigenen Anzeige, so wie von der Flucht, so lange zurückgehalten habe, bis er zur Haft gebracht sey; auch da habe ihn noch Anfangs der Gedanke blenden wollen: du kannst vielleicht mit Läugnen durchkommen; sobald ihm aber die Anzeigen seines Verbrechens unter die Augen gehalten worden, sey ihm der Gedanke aufgefallen: Gott hat dich entdeckt, du willst's gestehen. Nun überlasse ich meinen Lesern, mit diesem von ihm selbst angegebenen Gange seiner Ge-[49]danken, den fernern Gang seiner Geschichte zu vergleichen.«

»Ruhig also, ja vergnügt über seine Grausamkeiten, verließ der Mörder das Haus, in welchem er sich so vielfach mit Blute befleckt hatte, wusch Knittel und Messer im Schnee ab, wiewohl er hernach das letzte aus Abscheu nicht wieder brauchen mögen, machte sich auf den Weg und kam unbemerkt in seine Wohnung zurück. Am nächsten Morgen ging er auf einige Dörfer, wohin er sonst seinen Viehhandel gehabt, und wo er noch einige Reste einzufordern hatte; und bis gegen Mittag, versichert er, sey er noch in diesem Rausch seiner Seele gutes Muths gewesen; alsdann aber sey er unruhig geworden, und habe von selbst angefangen, nachzudenken, was er verübt habe. Damals mögen denn auch wohl die Versuchungen bei ihm wieder erwacht seyn, sich selbst das Leben zu nehmen, wozu er aber, nach seinen Privateröffnungen, nicht habe gelangen können.«

»Unterdessen war am Orte der Entleibten am Morgen nach der That es einem Nachbar befremdend vorgekommen, noch um sieben Uhr die Fenster des Schmidtschen Hauses geschlossen zu sehen. Er gehet also hinzu, findet das Haus unverschlossen, und beim Eintritt in dasselbe die mittlere, etwas blödsinnige Tochter, die deswegen der Mörder auch zu verschonen willens gewesen seyn will, eben aufgestanden, noch erst halb angekleidet, und [50] noch unwissend, was geschehen sey. Er geht darauf in die Stube, findet den Mann im Blute, sinnlos und bei ihm die jüngste Tochter in der schon gedachten Lage, ruft darauf voll Bestürzung des erschlagenen Bruders, und beide zeigen es gehörigen Ortes an.«

»Ungesäumt wird der Amtsobrigkeit Bericht erstattet, die schleunig Arzt und Wundarzt mitbringt, deren Hülfsversuche aber nichts hoffen ließen. Indessen war die Frau, auf welche anfänglich der Verdacht des Mords, auch bis zur genaueren Untersuchung, des Selbstmords, geworfen worden war, im Keller gefunden.«

» Simmen war nun ebenfalls wieder nach Hause gekommen. Seine Frau hatte ihn durch einen Boten die Nachricht von der Ermordung ihres Bruders und Schwägerin wissen lassen, und mit demselben war er den Tag nach der That, früh, über die Residenz wieder zurück gegangen, wo auch schon einiger Ruf von diesen Mordthaten erschollen war. In derselben hätte sich Simmen an einigen Orten, wo er einsprach, und viel von dieser unglücklichen Begebenheit geredet wurde, beinahe, und zwar an dem Einen durch seine Aengstlichkeit und Zittern, die ihm nicht einmal ein angebotenes Glas Brandwein auszutrinken, oder einen Anbiß zu nehmen verstattete, verrathen, auch sich dadurch blos gegeben, daß er sich, in dem Gespräch, von [51] freien Stücken verlauten ließ: Der erschlagene Schmidt habe nicht viel Geld bei sich gehabt. Am andern Orte, wo die älteste Schmidtische Tochter Amme war, die er aber wider seinen Willen nicht zu sprechen bekam, weinte er, und hielt sich nicht lange auf; an dem dritten aber verbarg er die Unruhe seines Gewissens durch eine angenommene Freimüthigkeit größtentheils, so, daß er daselbst einige Tassen Caffee mittrank, eine kleine Schuldpost bezahlte, und wieder etwas Waare gegen Bezahlung mitnahm; es entfuhr ihm blos ein tiefer Seufzer, mit den Worten: Er würde doch wohl auch durch dieses Unglück zu thun bekommen! Er besann sich aber hierbei wieder, und half sich durch; man frug ihn, wie er denn das meinte? und er war mit der Antwort fertig: daß er doch wohl Vormund der Schmidtischen Kinder werden müßte. Indessen verrieth sich seine Unruhe und Angst durch ein verstörtes Wesen der Magd im Hause so, daß sie auch, als Simmen weg war, ihren Verdacht nicht bergen konnte, und sich deswegen mit ihrem Herrn überwarf. Es ist kaum zu glauben, daß ein Mensch so sehr seine Empfindungen unterdrücken, oder so geschwind und in der Maße, eine Person annehmen, und wieder eine Rolle spielen kann, die demjenigen so zuwider ist, was in seinem Herzen vorgeht; aber er that entweder das erste oder bewies das letzte, doch stuffenweise, an dem zweiten Orte noch nicht so mei-[52]sterlich, als an dem dritten Orte, wiewohl doch auch da noch nicht ganz vollkommen. Noch unglaublicher wäre es aber, wenn man nicht mehr dergleichen Exempel von Verbrechern hätte, daß er gleich nach seiner Zurückkunft das harte Herz gehabt, in das von dem Blute, das er vergossen hatte, noch beschwemmte Haus hinzugehen, und, zu der Zeit der Section der Erschlagenen, wo alles in größter Betrübniß war, vor den Augen der durch ihn verwaisten Kinder zu stehen.«

»Indessen verfolgte ihn die Rache geschwinder als er, der zur Flucht Gelegenheit und Zeit genug hatte, und schon in fremder Herrschaft war, wirklich aber nicht darauf gedacht zu haben scheint, sich es wohl einbildete. Die älteste Schmidtische Tochter, deren wir schon gedacht haben, erklärte, sobald sie von der Ermordung ihrer Eltern hörte, den Wachtmeister Simmen laut und öffentlich für den Thäter, behauptete es auch, als sie gerichtlich deswegen vernommen ward, und gründete sich auf die vieljährige Feindseeligkeit desselben gegen ihren Vater, auf die letzte Verweigerung des von ihm bei ihrem Vater gesuchten Geldvorschusses, und vornehmlich auf die vielfältigen Drohungen, deren Simmen sich habe verlauten lassen, ihren Vater aus Rache umzubringen. Dieses gab den Anlaß zu weiterer Untersuchung der Sache, und zuvörderst zur Inhaftirung des Wachtmeisters. Un-[53]versehens wurde er auf öffentlichem Markte, wo er Frucht handelte, eingezogen, wobei sogleich die Verändrung der Farbe und starkes Zittern sein böses Gewissen den Zuschauern merklich verrathen haben soll. Zugleich wurde aber auch zu einer Haussuchung bei dem Arretirten geschritten. Bei derselben fand sich ein blutiges Oberhemd, an dem die Flecken nur halb ausgewaschen waren, so wie auch Beinkleider, an denen Blutflecken zu bemerken waren; ein Beweis, daß den Mörder damals seine Geistesgegenwart und sein Scharfsinn größtentheils verlassen gehabt, da er nicht bedachte, daß ihn diese Anzeigen noch immer verrathen könnten.«

»Im ersten Verhör schien es anfangs, er werde sich aufs Läugnen und auf seine Verstellungskunst verlassen. Bewegliche und überführende Vorstellungen wollten lang nichts bei ihm verfangen, bis ihm, mit einem Feuer und ernstlichen Anrede, von seinem, sich hier vortreflich zeigenden Richter, das blutige Hemd unter die Augen gehalten wurde. Dieses machte ihn bestürzt, und, nun außer Fassung, gab er gute Worte, ergriff die Hand des Richters, versprach alles zu gestehen, und that es auch wirklich, unterwarf sich der Strafe, und bat nur um Beschleinigung seines Processes.«

»Wo war nun der Mann, der noch vor drei Tagen so geschwind über die Schrecken seines Herzens Herr werden, und mit eben so viel Selbstbe[54]zwingung, als Kunst, den Unschuldigen, den Unerschrockenen sogleich wieder vorstellen konnte? Aber hier erfuhr er auch wohl zum erstenmal die Kraft des Gewissens recht; bisher hatte es ihn beunruhigt, erschreckt, zitternd gemacht; aber zum freien Geständniß hätte es ihn, ohne diese Ueberraschung, vielleicht niemals, oder etwa erst an der Schwelle des Todes gebracht. Wenn er dem Gerichte bekannte, er sey entschlossen gewesen, ihm freiwillig sein Verbrechen zu bekennen, so betrog er sich wohl selbst dabei; er hielt Trieb und Drang seines Herzens, zu bekennen, für Entschluß; aber von demselben würde er sich wohl noch lange losgewunden haben, wenn er nicht so überrascht worden wäre, nicht so schnelle Eindrücke von der ihn verfolgenden göttlichen Gerechtigkeit bekommen hätte; und Peinlichkeiten selbst, wenn auch die vorliegenden Anzeigen für stark genug darzu geachtet worden wären, dürften ihn hernach schwerlich zum Bekenntniß gebracht haben, wenn er vermögend gewesen wäre, sich auch hier noch zu verhärten. Er erkannte das auch selbst nachher, und seine Entdeckung für göttliche Wohlthat; ich würde sonst noch viel verstockter und viel verwegener geworden seyn, war sein Ausdruck davon gegen seinen Beichtvater, dem ich die Nachrichten von seinen letzten Wochen und Todesbereitung, so wie mehr andre, verdanke, die mir sonst unbekannt geblieben seyn würden.«

[55]

»Nach dem Geständniß, und während der Erwartung, zu welcher Genugthuung die menschliche Gerechtigkeit ihn verurtheilen werde, blieb er bei einem Betragen, das die Aufmerksamkeit des Menschenforschers auf sich zog. Ueberhaupt war es demjenigen ähnlich, davon ich in der Nachricht von seiner Abzeichnung gedachte, und das ich damals einige Stunden zu beobachten Gelegenheit hatte. Ich weiß, daß die Meinungen darüber sich oft sehr getrennt haben. Da er fortfuhr, mit seiner Bescheidenheit und Höflichkeit die größte Gelassenheit zu verbinden; so hielten einige ihn für fühllos und verhärtet, andre für standhaft und unerschrocken; sein Blick hatte aber dabei nichts wildes, seine Reden nichts ungestümes oder verwirrtes. Er bezeigte nie ein Mißfallen, wenn andere kamen, ihn zu sehen, und wenn es solche waren, die er kannte, oft ein Wohlgefallen und Erkenntlichkeit. Er behielt eine gewisse Freimüthigkeit im Anblick und im Reden, und ein freundliches Lächeln in der Mine, das manchen, die es nicht begreifen konnten, Leichsinn und Frechheit schien. Was ihm von unziemlichen Betragen in der Haft nachgesagt wird, sind sicherlich Mißdeutungen falsch erhorchter Worte, oder muthwillige Erdichtung. Er blieb sich insgemein gleich, mogte wohl essen und hatte einen guten ruhigen Schlaf, so, daß von denen, die ihn am genauesten beobachten konnten, einsmals einer sagte, der Wachtmeister müsse ein sehr gut Gewis-[56]sen haben! ein Urtheil, das vermuthlich paradoxer klingt, als es gemeint war, vielleicht aber auch auf Spuren der Denkungsart des gemeinen Mannes führen möchte, wenn wir ihm nachgehen könnten. Für Dummheit konnte man dieses ruhige Wesen nicht halten, denn übrigens zeigten seine Reden und Erzählungen noch eben den guten Verstand, der ihm Achtung erworben hatte. Daß es Verstellung gewesen, um ein heimliches Vorhaben, etwa der Flucht, oder Selbstentleibung, zu verbergen, hat auch im geringsten keine Wahrscheinlichkeit; man hat nie etwas bemerkt, daß auch nur auf eine entfernte Art darzu angelegt hätte scheinen können. Noch weniger konnte er sich wohl mit der Hoffnung täuschen, das Leben zu erhalten. Dasjenige, was ihm bei seiner Erzählung weich machen und Thränen ablocken konnte, waren, lange Zeit, nur seine Frau und Kinder, und das obengedachte vierjährige Schmidtische Kind; für die erstern bat er viel; soll ihnen auch, was ihm von Personen, die ihn in seinem Arrest besuchten, etwa geschenkt worden, alles geschickt, und kaum davon wenige Pfennige, zu einem Maaß Bier oder Trunk Brandwein, für sich behalten haben; das letzte, das Schmidtische Kind, nannte er unschuldig, wollte aber, wie man merken konnte, damals noch damit sagen, daß seine Rache an dessen Eltern nicht ungerecht gewesen sey.«

[57]

»Sollte ich irren, wenn ich glaube, daß er, seit seiner Haft, wirklich entschlossen gewesen und geblieben sey, zu sterben, nachdem er einmal auf der Welt ein so verdorbener Mensch geworden war, daß er sich also vor dem Tode an sich nicht gescheuet habe, obgleich für gewissen Graden der Schande im Tode, und daß er es für anständiger gehalten, öffentlich mit einer Standhaftigkeit zu sterben, als auf eine feige Weise sich heimlich das Leben zu nehmen? daß er aber auch dabei mit seinen Sophistereien von der Unvermeidlichkeit seines Schicksals, und von der Verminderung seiner Schuld dadurch, daß er ein Werkzeug zur Ausführung des Willens Gottes, und zwar zur Wegschaffung böser Menschen, gewesen sey, eine gute Zeitlang sich getäuscht und eingeschläfert habe? Mir selbst wenigstens ließ er noch dergleichen merken, und äußerte sich sogar, als er auf das Gute geführt wurde, das ihm doch auch in seiner Haft, und besonders durch sein sehr leidliches Gefängniß und Ketten, noch wiederfahre, habe er doch auch nichts so böses gethan! Daß aber bei seinem Scheu vor dem Selbstmord auch etwas religiöse Gewissenhaftigkeit mit eingemischt gewesen seyn möge, ist nicht unwahrscheinlich.«

»Nach und nach erkannte er aber die Unmoralität seines Verbrechens, und fühlte sich überzeugt, daß er sich von seinem Falle die Schuld allein zuschreiben müsse; daß er die Sorgfalt und Mittel [58] seinen grausamen Leidenschaften zu widerstehen, die doch in seinen Kräften gewesen, nicht angewandt, daß ihm sein Gewissen Warnung genug gegeben habe, die er nicht geachtet, die er unterdrückt hätte. Er hat auch freimüthig bezeugt, sein Verbrechen wäre ihm so erschrecklich vorgekommen, daß er zur Verzweiflung an Gottes Gnade gebracht werden wollen; er habe sich aber an die Verheissungen des göttlichen Worts und die evangelischen Trostgründe festgehalten, eifrigst gebetet, und dadurch zu der Barmherzigkeit und Gnade Gottes, durch Christum, wieder ein Vertrauen gewonnen.«

»Er gab Beweise einer innigen Reue, nicht nur über seine letzten Missethaten, sondern auch über alles Gott mißfällige, das er nun in seinem Wesen und Thun gewahr werde. Ich müßte mir, sagte er, selbst feind seyn, wenn ich diese Zeit, die ich noch habe, nicht rechtschaffen anwendete, meiner Begnadigung von Gott und guter Hoffnung in und nach dem Tode mich zu versichern, — und die That bewies es.« —

»Der Ausdruck, den er auf die Befragung, wie er sich finde? mehrmals in der letzten Zeit brauchte: traurig und freudig, und in den letzten Tagen: — mehr fröhlich als traurig, — war so natürlich, daß man ihn für die Sprache des Herzens halten mußte, und begriff wohl nichts weniger, als was man von Reue und Glauben in der christ-[59]lichen Bekehrung verlangt. Keine Betrachtungen rührten ihn so sehr, als die Betrachtungen der allzeit erfahrnen göttlichen Güte, und der Leidensgeschichte, besonders auch der letzten Worte, seines Erlösers; sein liebstes Lied, womit er sich auch aus seiner Haft heraus zu seiner Hinrichtung führen ließ, war das Libichische: »Ich werfe mich in deine Hände etc.«

»Es brach aber seine Reue nicht in heftige Ausbrüche des innern Schmerzes, in Wehklagen und in Winseln aus, sondern zeigte sich in einer etwas tiefsinnigeren Niedergeschlagenheit, in einer stillen Wehmuth, und mit unter durch das Herabfallen einiger Thränen. Ich glaube auch, daß es zu viel gefordert sey, von allen Gemüthsarten jene heftigern Ausdrücke zu verlangen, ob es mich gleich nicht befremdet, daß auch zum Theil denen, die an seiner letzten Bereitung arbeiteten, dieses Betragen eine Zeitlang zweideutig, und Simmens Gemüthszustand räthselhaft oder verdächtig vorkam. Es läßt sich nichts anders vermuthen, als daß er sich bei ungleicher Behandlung etwas ungleich gewesen seyn, daß sein Herz sich bei einem rauhen Ton verschlossen, bei der Stimme des Mittleids und Wohlwollens aber geöffnet haben müsse; denn so ganz und so geschwind konnte er wohl alle Empfindlichkeit seines Characters nicht ablegen; oder so lange er noch zwischen Furcht und Hoffnung schwebte, immer ganz derselbe seyn.«

[60]

»Er hat allen, die zu ihm kamen, ihn auf christliche Betrachtungen zu führen, nicht nur Bescheidenheit, Aufmerksamkeit und Geduld, sondern auch Ehrerbietung, auch Dankbarkeit bewiesen, und sich mehrmals ihren ferneren Zuspruch ausgebeten; insgemein las er auch, was er von dem wieder nachlesen konnte, was vorgekommen war, z.E. Gesänge, mit eigener Ueberlegung, wieder nach. Sein Beichtvater versicherte mich, daß er mehr Erkenntniß der christlichen Religion, und mehr Bekanntschaft mit unsern christlichen Andachtsbüchern, bei ihm gefunden habe, als er ihm zugetraut hätte: er hat aber auch, nachdem er ein Landmann geworden war, die öffentlichen Andachten ordentlich abgewartet, und vielleicht, als Vater, manches wieder durch seine Kinder gelernt. So werde ich auch absonderlich versichert, daß er sich geäußert: er habe Gott niemals vergessen, und niemals gänzlich das Gebet verabsäumet, aber freilich wohl meistens ohne Ueberlegung und Andacht gebetet, er fühle es nun wohl, daß sein Herz von der rechten Liebe Gottes leer, und er besonders zu stolz gewesen sey, bei der Verschlimmerung seiner Umstände, Gottes Regierung zu erkennen, und sich unter dessen Hand zu demüthigen; daß er sich überhaupt mehr nach Menschen, als nach Gott bequemt und geschmiegt habe, daß es ihn jetzt besonders kränke, seinem Schwager zu einer Zeit das Leben genommen zu haben, da er Ursach hätte, seiner guten Bereitschaft wegen [61] besorgt zu seyn, daß es ihm nahe gehe, so vielen Menschen Leiden, Unkosten, Beschwerden und Versäumniß verursacht zu haben. Dieses alles sind doch wohl unmöglich Aeußerungen eines Gedankenlosen, Gefühllosen oder Heuchlers? Er hat vielmals mit allen äußerlichen Beweisen der Aufrichtigkeit, die man verlangen kann, jene Reue, deren ich schon gedacht habe, bezeugt und lebhaft zu erkennen gegeben, wie sehr er nun fühle, sich an Gott selbst durch beide Verbrechen, den Mord und Diebstahl, vergriffen, und die Strafen des weltlichen Richters verdient zu haben, wie willig er sich auch denselben unterwerfe, und seinem Tode gelassen entgegensehe; doch hat er auch in der feierlichsten Stunde versichert, er habe keine andere Verbrechen der Art, wie seine letzten waren, sich vorzuwerfen. So weit Menschen urtheilen können, könnte man nicht zweifeln, daß seine Bekehrung aufrichtig sey. Denn er bezeigte bei seinen evangelischen Hoffnungen ebenfalls von der göttlichen Allwissenheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit eindrucksvolle Ueberzeugungen zu haben; er betheuerte ein Leben nach dem Tode und künftiges Gericht ungezweifelt zu erwarten, aber doch einen gnädigen Richter und einen unverdienten Antheil an der Glückseeligkeit jenes Lebens sich zu versprechen. Er versicherte mit einem Herzen zu sterben, das allen aufrichtig vergebe, die ihm Unbilligkeiten bewiesen hätten; aber auch alle wehmüthigst um Verzeihung bitte, die er [62] auf irgend eine Weise beleidiget oder gekränket hätte, und ersuchte seinen Beichtvater, alle und jede zusammen, Stadt und Land, die er durch sein Verbrechen gedrückt, beschwert, betrübt und geärgert habe, in seinem Namen um Vergebung zu bitten.«

»Sein Vater, ein zweiundachtzigjähriger Greis, wurde vermocht, den Sohn noch einmal zu besuchen, der von ihm Vergebung alles dessen, worin er etwa seine kindliche Pflicht aus den Augen gesetzt haben möchte, auch der letzten Kränkung durch sein Verbrechen, wehmüthig suchte, und sie unter guten Ermahnungen und Wünschen vollkommen erhielt, auch dagegen den kummervollen Greis bat, seines Endes wegen sich zu beruhigen: da er versichert sey, daß er Vergebung und Gnade von Gott habe, und ihn bat, seiner Kinder sich noch ferner anzunehmen, das der Greis auch willigst zusagte, und der Sohn ihm hingegen versprach, daß er auch seinen Kindern, dessen Enkeln, beim Abschied von ihm anbefehlen wollte, ihm in allen gehorsam und beiständig zu seyn. Der nun beruhigte Alte war so froh, daß er sich Kräfte wünschte, dem besten Fürsten sich zu Füßen zu werfen, und ihm für die seinem Sohn erwiesene unverdiente Gnade des gemilderten Todesurtheils danken zu können.«

»Zween Tage vor seinem Ende nahm der Unglückliche, in Gegenwart seines Beichtvaters, von [63] seiner Frau und Kindern einen Abschied, der nicht zärtlicher und rührender seyn konnte. Die Worte flossen ihm jetzt nicht, weil sein Herz zu beklemmt war und zu viel litte; seine Frau aber, die zu wiederholtenmalen bezeugte, daß er ihr niemals etwas zu leide gethan habe, konnte sich kaum von ihm losreissen, und sein jüngstes Kind nahm er auf den Schoos, und drückte es so weich an seine Brust, daß alle Anwesenden mit ihm weinen mußten. Diese rührende Scene bestätigte feierlichst alles gute, was ich von seiner Ehe geschrieben habe. Von allen nahm er einzeln Abschied, aber seine Minen redeten mehr, als sein Mund. Er versicherte den Morgen darauf, daß er in diesen Empfindungen zu väterlichen Vermahnungen unvermögend gewesen wäre, durch eine Tochter aber, die unterdessen wieder bei ihm gewesen, es nachzuholen gesucht habe. Er hat auch an demselben Abend, nachdem er sich wieder gefaßt hatte, einen Knaben, seinen Paten, der Abschied zu nehmen kam, beweglich ermahnet, Gott vor Augen zu haben und sich für Sünden zu hüten. Aus Vorsorge für die Seinigen, denen etwa Mildthätigkeit dadurch erweckt werden könnte, verlangte er bei seiner Ausführung von seinem jüngsten Sohne begleitet zu werden, weil er aber selbst empfand, daß ihn der Anblick leichtlich stören und zu weich machen könnte, stand er davon ab; seinem Begehren aber geschahe doch, auf eine ihm unmerkliche Art, Gnüge.«

[64]

»Auch diejenigen, mit denen er in Streit gewesen war, kamen von ihm Abschied zu nehmen, und freuten sich nachher innigst, sich mit ihm ausgesöhnt und ihn in der guten Gemüthsfassung gefunden zu haben, bewiesen auch, daß es ihnen anliege, in den Stücken, die sie selbst angingen, den nachtheiligen Vermuthungen und Urtheilen von Simmen zu steuren. Bei einem solchen Besuch entfuhren ihm ein paar Worte, die ein Vorwurf zu seyn und einen noch festsitzenden Groll zu entdecken schienen. Er bat aber selbst den andern Morgen um Verzeihung dieses Ausdrucks, und bezeugte, daß damals noch eben, denn es war gleich nach dem Abschied von dem Seinigen, sein Herz zu voll von Empfindung, dennoch aber nicht voll Grolls, auch seine Worte nicht so gemeint seyen, als sie hätten erklärt werden können.«

»Bei der ersten Bekanntmachung seines schärfsten Urtheils veränderte er sich wenig, bei dessen Bestätigung aber gerieth er etwas mehr in Bewegung, und bat mit einigen Thränen, doch bescheiden und gefast, um die ihm auch verstattete Erlaubniß, um Milderung seiner Todesart nochmals nachzusuchen. Nach der Rückkunft in seine Haft fiel er, wehmüthiger als sonst, auf seine Knie, und sagte, als ihm zugesprochen ward: Es sey doch ganz etwas anders So zu sterben; ein So, das sein Gefühl von allem entdeckte, was die Ursach und die Art seines Todes beugendes für ihn haben [65] mußten. Das Schimpfliche der letzten machte ein großes davon aus, und vielleicht war es ihm gewissermaßen schwerer, als das Sterben selbst; es kränkte ihn besonders die Schande dabei, die er auf die Seinigen zu laden fürchtete. Wenn auch in einem Gesang das Sterbbette vorkam, so ward immer seine Bewegung merklich, und bei den Worten: der Leib habe in der Erde seine Ruh, entfuhr ihm die Wehklage: und der meinige nicht! Doch auch diesen Schauder hatte er überwunden, als er den traurigsten Anblick in den Augen hatte, und doch noch zu den Zuschauern seines Todes reden konnte.«

»Bei der Bekanntmachung der ihm angediehenen Milderung brachen seine Dankbarkeit und Freude in Minen, Worten und Gebehrden auf das lebhafteste aus; er bezeugte, daß er so viel Gnade nicht gehoft hätte, und nun gerne sterben wolle.«

»Die Bekanntmachung des Todestages selbst hat er mit dem gesetztesten Wesen und einer Art von Zufriedenheit angenommen, auch dabei nochmals mit Thränen für die gnädigste Milderung gedanket.«

»Während der Zeit, da er nun ein verurtheiltes Opfer der Gerechtigkeit war, blieb seine Bereitung dazu sein ganzes Geschäfte; wie er aber auch in dieser Zeit in härtern Banden gehalten wurde, so behielt er ebenfalls die größte Gelassenheit und [66] Geduld, auch seine lächelnde Mine, und in der Wehmuth selbst eine große Heiterkeit, alles zeigte vom Schuldgefühl und Demüthigung, aber auch von Vertrauen und Muth. Er verfehlte nicht, denen, die ihm Liebe erwiesen hatten, seine Dankbarkeit, und zwar mit merklicher Empfindung der Stärke ihres Wohlmeinens und der Größe ihrer Verdienste um ihn, zu bezeigen.«

»Wenige Tage vor seinem Ende ward er an der Gerichtsstelle vernommen, bat sehr gerührt um Verzeihung, dankte wiederum für die gnädigste Milderung seiner Todesart und alle ihm bei seinem Proceß erzeigte Wohlthaten, bat wieder wehmüthig für die Seinigen, blieb aber übrigens aufs genaueste bei seinem Bekenntniß, versprach, es auch im Halsgerichte zu thun. — Und das that er mit einer Schaam und Standhaftigkeit, die jedermanns Mitleiden erweckte. Er erfüllte bei seinem langen beschwerlichen Todesgang, was er mit Gottes Hülfe von demselben versprochen hatte, ging ihn getrost, aber nicht frech. Er ließ sich weder durch die viele Tausende, deren Augen auf ihn gerichtet waren, noch auf dem Richtplatz durch die erblickten Anstalten zu seinem Tode und zu seiner Schande stören, blieb unverrückt in seiner Andacht, behielt auf dem ganzen sauren Wege, ungeachtet er keine freien Hände hatte, das Gesangbuch in der Hand, sang mit, hörte auf alle Erklärungen und auf jeden Zuspruch aufmerksam, und gab durch [67] kurze Worte oder durch Minen die Anwendung, die er davon auf sich machte, und die Empfindung seines Herzens dabei, zu erkennen.«

»Auf dem Richtplatze selbst blieb er sich vollkommen gleich, ungeachtet der Anblick den Zuschauern selbst schauderhaft war, bedankte sich bei seinem ihm aufstoßenden Defensor, und denen, die ihn auf seinem Todesgang mit ihrem Zuspruch begleitet hatten, insgesammt einzeln und mit vieler Rührung, bezeigte, daß er geneigt, von den Zuschauern Abschied zu nehmen, nahm ihn auch mit gesetztem Wesen und fester Stimme, zwar kurz, aber so, daß nichts, was zweckmäßig, vergessen war: Bekenntniß, Abbitte, Vermahnungen, Fürbitte für die Seinigen und Wünsche zu Gott für aller Wohlfahrt, war ihr Inhalt.«

»Er kniete nochmals nieder, bezeugte die Beharrlichkeit seiner Reue und Glaubens, und ließ sich mit heiterer Mine einsegnen, betete innbrünstig, sorgte noch beim Auskleiden für seine Kinder, half dabei denen, unter deren Hand er sterben sollte, ließ sich von ihnen zurecht weisen, und mitten im Gebet floß sein Blut und büßte seine Verbrechen. Er starb also, zwar den Tod eines Missethäters, und der andern eine Warnung bleiben sollte, aber er starb ihn getrost und muthig, weil er noch gelernet hatte, ihn mit christlichen Vertrauen zu Gott und Hoffnung eines bessern Lebens zu sterben; er starb [68] mit größerem Muth, als er vielleicht außerdem auf dem Bette der Ehre würde gestorben seyn.«

Sein Tod müsse jeden mit ihm aussöhnen, und sein letztes Wohlverhalten seine Verbrechen bedecken!


Dieser Simmen scheint mir ein eben so merkwürdiger und zwar gewissermaßen noch merkwürdigerer Mensch zu seyn, als der bekannte Rüdgerodt, über dessen Silhouette Lavater ein so falsches Urtheil gefällt hatte, und über dessen Character er hernach eine der fürchterlichsten Declamationen in seinen Fragmenten drucken ließ. d

Sobald man ihm den Umriß von jenem Bösewicht Rüdgerodt geschickt hatte, bebte er vor einer Gestalt zurück, die nur für den entsetzlichsten Unmenschen schlimm genug ist. — Den entsetzlichsten Unmenschen! fährt Lavater fort. Ja! seys der einzige in seiner Art: Ein lebendiger Satan! Ein unaufhörlicher Mörder! Stiller in sich grabender Bosheit voll! Ein Hurer ohne Maaße; ein Dieb ohne alle Nothdurft; ein Mädchenmörder; ein Frauenmörder; Muttermörder; ein Geitzhals, wie kein Moralist sich einen dachte, kein Schauspieler vorstellte, kein Poet dichtete, — der in den letzten Lebenstagen nur Wasser, keinen Wein, trank —aus Geitz — ... Er weidete sich an dem Schat-[69] ten der Nacht; schuf sich durchs Verschließen seiner Fensterladen den Mittag in Mitternacht um;L verriegelte sein Haus; sein Haus, ein Abgrund von Diebstahl und Mord, Mordgewehr, Diebswerkzeugen. — Lichtscheu, Menschenscheu, allein in sich vermauert, grub er in die Erde, in tiefe Kellermauern, in Dielen und Felder seine erstohlnen und erworbenen Schätze; beschauete und zählte sie in einsamen Mitternächten, wo ihn der Schlaf floh, das Gewissen die letzten Warnungen vergeblich noch versuchte. Mit dem Blicke der Unschuld bespritzt, tanzte er lachend am Hochzeittage der Frau, die er hernach am Grabe, da sie sich selbst, auf sein Geheiß, in seiner Gegenwart, unwissend bereitete, todtschlug. Er blieb gelassen bei den schrecklichsten Erwartungen und lächelte über die Bosheiten, um derer Willen er sein verruchtes Leben auf dem Rade endigen mußte u.s.w.

Rüdgerodt war durch eine höchstfehlerhafte Erziehung, durch ein natürlich feindseliges Gemüth, durch eine Fühllosigkeit gegen alle moralische Principien schon früh ein Bösewicht geworden — er verrichtete seine erschrecklichen Handlungen aus einer Art von Instinkt; sie waren ihm zur andern Natur geworden, — seine Seele hatte einmal keine andre Richtung mehr, — als die zum Laster. — Allein ganz anders war der Fall bei Simmen. Dieser Mensch, an dessen vortreflichen, ehrlichen, großen und denkenden Gesicht die weissagende Phy-[70]siognomik einen gewaltigen Schiffbruch leiden mußte, hatte von frühern Jahren an selbst in einem Stande, wo so leicht Ausschweifungen vorfallen, — als Soldat, ein ehrbares, wenigstens nicht äußerlich schlechtes, Leben geführt. Er hatte sich als ein ehrlicher Bürger zu nähren gesucht, er hatte seinen Kindern eine gute moralische Erziehung geben lassen, er war der gefälligste Vater und Gatte gewesen, man konnte ihn keiner mit Wissen und Willen begangenen boshaften Handlung beschuldigen. — Ein einziger Umstand erweckt in seiner sonst stillen Seele den schwarzen Keim zu einer schwarzen That. Das, was wir für eine Kleinigkeit halten würden, was aber dem ehrgeitzigen, lebenssatten Simmen wie ein Gebirge vorkam, über welches er nicht hinwegzusteigen vermochte.

Sein Schwager befindet sich in bessern äußern Umständen, wie er, — dieß scheint die Anlage seines ganzen mörderischen Entschlusses gewesen zu seyn. — Der Gedanke, daß er sich durch Arbeitsamkeit und Industrie auch wieder hinaufschwingen könne, kömmt ihm nicht in Sinn; — du bist herabgesunken von deinem sonst etwas glänzenden Standpunkt — bleibt immer der Hauptgedanke, dem er nicht mehr ausweichen kann, an diesen heften sich alle übrigen schwarzen Bilder seiner Seele an, und vermehren den Sturm seiner Leidenschaften. — Am Ende wird die erstaunliche Kleinigkeit, eben dem gehaßten Schwager einige Thaler [71] wegzunehmen, verbunden mit Rachsucht, in der Seele des sonst gutdenkenden Simmen der Ausschlag seiner entsetzlichen That. Man muß bei solchen Entschlüssen der Menschen vorzüglich auf die letzten Motife Acht geben; alle vorhergehenden wirken nur gemeiniglich entfernt, die letztern bringen erst die That zur Reife; und in diesem Moment bemerken wir oft die sonderbarsten Erscheinungen der menschlichen Seele. Die Frau des Schwagers wird nicht aus Haß — sondern gleichsam par compagnie ermordet, sie würde ihm im Wege gestanden haben, den Hauptmord zu begehen. Der Mörder ist noch mitleidig, er schneidet ihr ruhig mit einem Messer die Kehle ab, damit sie nur von ihrer Qual kommt; eben so ruhig erschlägt er seinen Schwager — den vornehmsten Gegenstand seines Mordentschlußes — und zugleich sinkt auch ein vierjähriges Mädchen unter den mörderischen Schlägen, — durch ein Ohngefähr, wie der Mörder betheuerte.

Ruhig — ja vergnügt über seine Grausamkeit — als hätte er eben ein edles Werk der Wohlthätigkeit ausgeübt — verläßt der Mörder das Haus — und wäscht den blutigen Knittel, das blutige Messer im Schnee ab. Kommt ohne alle Gewissensangst nach Hause —schläft ruhig — und versichert, daß er noch bis gegen Mittag des andern Tages — nach gesättigter Rache gutes Muths gewesen.

[72]

Also ists überhaupt oft Befriedigung der Seele — ein gewisses Ziel erreicht zu haben — sey es auch, welches es wolle! — Gestillte Rachsucht wird Wohlbehagen, da eine Last gehoben ist, welche uns drückte, — das Blut wird ruhiger, — die Vernunft und das Nachdenken tritt erst spät aus dem Hintergrunde hervor — und die besten Menschen können, durch Rachsucht verleitet, die abscheulichsten Thaten thun.

Wenn auch die guten moralischen Gesinnungen, die Verbrecher am Rande ihrer Bestrafung äußern, oft nichts als Folgen einer erzwungenen Besserung sind, die man zu leicht einer großen Einwirkung religiöser Begriffe zuschreibt, so unterscheidet sich doch Simmen auch dadurch sehr von dem Bösewicht Rüdgerodt, daß der letztere bis an sein Ende hart wie Eisen blieb, Simmen hingegen sehr deutliche Spuren seiner innigen Reue blicken ließ. Sein ganzes Verhalten im Gefängnisse war exemplarisch gut, und sein Abschied von seiner Familie gleicht der traurigen Scene des Calas, als er von den Seinigen Abschied nahm. Merkwürdig bleibt aber in der ganzen Erfahrungsgeschichte des Simmen ein heimlich verborgenliegender Gedanke, wenigstens anfangs, daß sein Schwager eine solche Behandlung verdient habe. Immer schob die Rachsucht hier den Gedanken unter: du hast deinen Feind ermordet, — und darum ist die Hand-[73]lung des Mordes weniger schändlich. In diesem Gedanken lag zugleich mit der Grund, daß der Mörder nach vollbrachter That so ruhig blieb, und nichts von den Vorwürfen seines Gewissens litte. Auch war ihm der lange mit sich herumgetragene Gedanke: seinen Schwager zu ermorden, wohl schon so habituel geworden, daß er die Handlung selbst nicht ganz von ihrer abscheulichen Seite betrachtete. Oft verwechseln wir auch bei andern Gelegenheiten das Habituelle des Gedankens mit der Handlung selbst; wir beruhigen uns über die Handlung, da der Gedanke uns vorher keine sehr widrige Empfindungen verursachte — nach jener alten Regel, daß wir das, was wir zu denken für erlaubt halten, auch leicht in wirkliche Handlungen übergehen lassen.

P.

Fußnoten:

1: *) Johann Herrmann Simmen. Ein Beitrag zur Physiognomik und Menschenkenntniß. b

2: *) In diesen Umständen, in diesem Herabsinken aus einer guten anständigen Lage in einen armseeligen Zustand, den Simmen nicht erwartet hatte, in den Erschütterungen, den sein früher Ehrgeitz dadurch leiden mußte, welcher bei gemeinen Leuten, die eine gewisse Feinheit und Cultur zu besitzen glauben, oft so erstaunliche Fortschritte macht, — liegt wohl der erste Grund seines Lebensüberdrußes und seine nachher vollbrachte abscheuliche That, die sich auf diesen Ueberdruß zu gründen schien. Wenn die menschliche Seele in einer solchen Lage nicht von Principien einer gesunden Moral unterstützt wird; wenn sie sich bloß ihrem unterdrückten Ehrgeitz überläßt, wenn eine gewisse freiere Denkungsart, ein heimliches, trotziges Wesen, was man wohl leicht als Soldat lernen kann, hinzukommt, so ergiebt sie sich leicht kühnen Projecten, und wird bei aller angebornen Gutmüthigkeit, die aus dem Character Simmens unverkennbar hervorleuchtet, ein Opfer momentaner oft schrecklicher <|38|> Leidenschaften, die man nach ihren natürlichen Anlagen gar in ihr nicht vermuthen sollte. Simmen gehört offenbar zu den Menschen, die vortrefliche Anlagen des Kopfs und Herzens besitzen, meistentheils auch moralisch gut handeln; aber im Drange einer einzigen verschrobenen mißgeleiteten Passion momentane Bösewichter, — und hinterher wieder gute Menschen werden können.
P.

3: *) Der Verfasser dieser Erzählung macht hinterher die Bemerkung, daß Simmen der sich allezeit vor einem falschen Eide entsetzt habe, durch einen falschen Gebrauch seines Schwurs wahrscheinlich noch mehr habe verleiten lassen, seine Mordthat zu begehen, eben weil er sie zugeschworen hätte. Allein ich glaube, Simmen war ein Mann von zu viel richtigem Verstande, und hatte nach allem, was man von ihm weiß, wenigstens theoretisch-moralische Begriffe genug, als daß er eine Handlung, darüber er in einer stürmischen Gemüthsverfassung einen abscheulichen Eid ausgesprochen hatte, für rechtmäßig und für eine Entschuldigung seiner Affecten hätte halten können.
P.

4: *) Auch wohl die, daß er, ohne die Frau vorher auf die Seite zu schaffen, schwerlich seinen bösen Vorsatz an seinem Schwager ausüben konnte. Bei einem solchen Tumult der Leidenschaften ist es einer aufgebrachten und erbitterten Gemüthsart wohl einerlei, ob einer mehr oder weniger umgebracht wird. Man hat mehrere Beispiele, daß Mörder die unschuldigsten Kinder hinrichteten, damit sie von ihnen bei Ermordung andrer erwachsener Menschen nicht hinderlich seyn möchten. Freilich mögen die oben angegebenen Gründe Simmen wohl mit verleitet haben, sich zugleich an der Frau zu rächen, obgleich der Grad seiner Erbitterung gegen sie nicht so stark, als gegen seinen Schwager seyn mochte, indem er selbst, während der Ermordung der erstern, noch ein gewisses Mitleiden gegen sie an den Tag legte, da er sie nehmlich sobald als möglich von ihrer Qual zu befreien wünschte.
P.

Erläuterungen:

a: Vgl. Moritz' Version derselben Geschichte (MzE II,1,38-54 u. II,2,101-110) und sein Kommentar zu Pockels (MzE VII,2,8).

b: Stuss 1782.

c: Der siebenjährige Krieg hinterließ eine wirtschaftliche Katastrophe. Hohe Getreidepreise trieben viele in den Hungersnot. Vgl. Erl. zu II,1,45.

d: Der Arzt Zimmermann hatte die Silhouette geschickt und Lavater nannte die Person "das größte, schöpferischste Urgenie". Danach schickte Zimmermann die biografischen Informationen über diesen Mörder. Lavater zitiert sein ursprüngliches Urteil und begründet sein Fehlurteil dadurch, dass er den "bloßen Schattenprofile" gesehen habe (Lavater 1776, S. 194).

[74]

Zur Seelennaturkunde.

Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler.

Pockels, Carl Friedrich

Fortsetzung. (Siehe vorhergehendes Stück.)

Die genauern Beobachtungen, welche man vornehmlich in diesem Jahrhunderte über diese sonderbare Art Menschen und über das Nachtwandeln selbst angestellt hat, haben, wenn auch nicht grade die Seelenlehre mit ganz neuen Wahrheiten dadurch bereichert wurde, doch zu einer Menge interessanter Untersuchungen über die erstaunliche Wirksamkeit dunkler Ideen, über die Stärke einer isolirten Einbildungskraft, über die Natur des Träumens, und folglich auch über die von äußern Eindrücken nicht unmittelbar abhängende Thätigkeit der Denkkraft sehr viel Stoff und Gelegenheit gegeben, und die Geschichte dieser Menschen mußte daher für forschende Psychologen desto wichtiger bleiben, je mehr [75] sie daraus von den Operationen des menschlichen Geistes in einem so sonderbaren Mittelzustande des Schlafens und Wachens unterrichtet und von dem geheimen Mechanismus dunkler Sensationen belehrt werden konnten. Wenn schon der Traum an sich betrachtet ein sehr merkwürdiges Phänomen der menschlichen Seele ist, so mußte es das Nachtwandeln noch viel mehr seyn, da die Menschen in diesem Zustande nicht nur nach einer mit Ueberlegung angestellten Ideenfolge zu handeln, sondern auch oft sich zu einer solchen Höhe von Gedanken und Empfindungen zu erheben pflegen, die man oft selbst im Wachen nicht immer an ihnen bemerken konnte.

Mehrere Psychologen haben versucht, diesen Zustand der Seele, noch ehe die zum Theil lächerlichen Experimente eines neuerlichen Somnambulismus bekannt wurden, nach gewissen Gesetzen des Denkens und Empfindens zu erklären, und da der eine bald mehr, der andre bald weniger irgend eine Seelenkraft in seinen Schutz nahm, woraus er die geheimen Operationen der Seele zu erklären suchte; so haben sich denn auch die Seelenlehrer in Beantwortung der Frage: Wie das Nachtwandeln eigentlich zugehe? sehr von einander getrennt. Besser hätten sie wohl freilich gethan, wenn sie, anstatt sich, wie gewöhnlich, in sehr inconsequente und unpsychologische Erklärungen dieses [76] Phänomens einzulassen*) 1, sich mehr bemüht hätten, dabei Untersuchungen über die Denkkraft überhaupt, über die Eigenheit, Stärke und Associationen der Ideen dieser Leute, sowie über die Natur des Traums selbst und über die Uebereinstimmung ihrer Handlungen bei verschlossenen Sinnen mit äußern Objecten und Umständen anzustellen.

Es gab eine Zeit, wo die sogenannten Philosophen fast nichts aus eigenthümlichen und natürlichen Gründen zu erklären suchten, wo man sich gewisse Principien gewisser Erscheinungen fingirte, und die Folgerungen aus solchen unrichtig angenommenen Gründen für ausgemachte Erklärungen der Naturphänomene hielt, ohne sich weiter darum zu bekümmern, ob der Erfolg auch nur einigermaßen mit der Natur der Dinge homogen seyn könne. Die Alten haben, wenige Hypothesen ausgenommen, viel richtiger über die Natur der menschlichen Seele gedacht, als die Psychologen des mittlern Zeitalters, die sich die Köpfe durch eine Menge willkührlich angenommener verborgener Kräfte, die nach ihrer Meinung die Phänomene des Denkens, so wie auch alles übrige Unerklärbare erklären sollten, verwirren ließen. Man hätte nur immer [77] auf den Beobachtungen der Alten, mit Hinwegräumung einiges Schuttes, fortbauen sollen, und die Seelenlehre würde nicht bis zu den neuern Zeiten eine so armselige Wissenschaft geblieben seyn, wenn sie noch anders diesen Nahmen vor ihrer Bearbeitung von Spinoza verdient.

Ehe ich zur Darstellung der sonderbaren Phänomene des Nachtwandelns selbst komme, wollen wir nur ganz kurz hören, wie sich diese und jene Gelehrten das Ding zu erklären gesucht haben.

Einige, z.E. Paracelsus, meinten, der Geist des Menschen habe seine Krankheiten, wie unser Körper; so wie nun dieser, vermöge seiner materiellen Einrichtung, den Tag über den Meister über den Menschen spiele, so thue es der Geist während der Nacht, und wenn derselbe eben nicht guter Laune sey, führe er den Leib mit sich herum. Daß aber der Nachtwandrer in einem solchen Zustande keinen äußern Schaden nähme, rühre daher, weil der gute Dämon, den ein jeder Mensch bei sich habe, seinen bösen Dämon abhielte, dem Nachtwandrer Schaden zuzufügen. Man sollte beinahe glauben, daß diese Erklärung des Nachtwandelns mehr aus Scherz, als zu einer befriedigenden Antwort der Sache ersonnen sey. Indeß scheint sie sich doch lange, bald mit etwas mehr Vernunft, bald mit noch etwas mehr Unsinn vermischt, erhalten zu haben, zumal da sie aus einer Zeit herrührt, [78] wo die guten und bösen Dämonen in jede Erklärung natürlicher Begebenheiten, sobald sie etwas dunkel schienen, mit hinein gemischt wurden, und solche Sächelchen dem Genius des Jahrhunderts sehr angemessen waren.

Daß die angegebene Auflösung eigentlich gar nichts auflöse, sieht ein jeder ein, der darüber nachdenken will. Denn es wird dadurch gar nicht erklärt, wie es zugehe, daß ein Nachtwandrer Handlungen im Schlafe, wenigstens in einer Art Schlafe, unternimmt, die man sonst nur im Wachen zu verrichten im Stande ist, daß er bei der Eingeschränktheit der schlummernden Sinne doch Handlungen und Entschlüße verfolgt, die mit den äußern ihn umgebenden Objecten in einer genauen Verbindung stehen, daß er sogar Handlungen unternimmt, die er im Wachen nicht zu unternehmen im Stande wäre, und daß er bei aller im Traume geäußerten Lebhaftigkeit seiner Vorstellungen hinterher nichts mehr von dem weiß, was er als Nachtwandrer that, wenigstens sich der Sachen nur noch wie aus einem Traume erinnert.

Eben so unbefriedigend ist die Erklärung andrer Psychologen, welche den Menschen in drei Stücke zergliedern, und dem Geiste als einem Beherrscher der Seele die Verrichtungen der Nachtwandrer zuschreiben, so wie andre die Einbildungskraft allein zum Erklärungsgrunde dieser sonderbaren Erschei-[79]nung machen; obgleich diese viel für sich haben. Nach der Meinung dieser Psychologen soll die Phantasie bei gewissen Menschen, verbunden mit einer dazu eingerichteten Disposition des Körpers, eine solche Lebhaftigkeit bekommen können, daß sie die Nachtwandrer aus ihren Betten treibt, sie auf hohe Dächer hinaufklettern, zu Pferde steigen, ihre Berufsgeschäfte treiben, sprechen, Briefe schreiben und andre Handlungen im Traume thun läßt, die man sonst nur im Wachen zu verrichten pflegt. Daß die Einbildungskraft im Zustande des Nachtwandelns vorzüglich thätig ist, und die vornehmste Schöpferin aller lebhaften Bilder bleibt, wonach sich der Nachtwandrer richtet, leuchtet aus allen ihren Handlungen und Unternehmungen hervor; allein schon mehrere Psychologen haben die Einbildungskraft für keinen hinlänglichen Erklärungsgrund jenes Phänomens gehalten, wenn man auch annimmt, daß sie bei verschlossenen Sinnen, bei der concentrirten Kraft der Seele auf einen einzigen Punkt, und bei einer, wie es scheint, von aller Furcht freien Anstrengung zu erstaunlichen Dingen fähig ist. Aber immer wird dadurch noch nicht erklärt, wie die Seele sich beim Nachtwandeln und im Traume genau nach der Lage äußerer Objecte richtet*) 2, davon den nehmlichen Gebrauch, wie [80] im Wachen, macht, und nach einer Ordnung der Ideen verfährt, die wir sonst selten bei Träumen bemerken.

Man hat daher versucht, da vorhergehende Erklärungen zur Auflösung des psychologischen Rätzels nicht zureichten, und immer einige wichtige Fragen ganz unbeantwortet ließen, andre zu finden und gewisse Mittelzustände zwischen Wachen und Träumen anzunehmen. Zwischen dem wachenden Zustande und dem Traume, sagen die neuern Psychologen, kann es noch erstaunlich viele Grade des Bewußtseyns und der Vorstellungen geben, und man kann unmöglich annehmen, daß der Nachtwandrer wirklich schläft, denn er verrichtet Handlungen, die nur ein Wachender verrichten kann.

In jenen Mittelzuständen des Denkens und Empfindens, wozu man auch den Schlummer rech-[81]net, kann es wieder einen Zustand geben, wo der Nachtwandrer nicht, wie im Schlaf, ganz das Gefühl äußerer Gegenstände verliert, sondern wenigstens immer noch einige dunkle Vorstellungen von den Objecten behält, die ihn umgeben. Seine Einbildungskraft ist sich also nicht ganz allein, wie in dem gewöhnlichen Traume, überlassen, sondern sie muß sich bald mehr, bald weniger nach den Eindrücken richten, die man im Traume von äußern Gegenständen empfängt, obgleich die Einbildungskraft machen kann, daß er den empfundenen Gegenstand nicht grade für das hält, was er wirklich ist, z.B. wenn der Nachtwandrer das Dach, worauf er reitet, für ein Pferd hält.

Weil nun ferner der Nachtwandrer eigentlich nicht schläft, sondern sich in einem Zwischenzustande des Träumens und Wachens befindet, wo er eine Menge Vorstellungen von außen bekommt, so ist auch seine Erinnerungskraft größer, als im wirklichen Traume. Diesen Umstand haben die neuern Psychologen in ihren Erklärungen des Nachtwandelns, glaub' ich, ausgelassen, ob er gleich nach meiner Meinung der wichtigste Punkt zur Auflösung der meisten Handlungen der Nachtwandrer ist.

Die gewöhnliche Unordnung unsrer Traumideen, das Hin- und Herspringen unsrer Einbildungskraft, die Bereitwilligkeit, die ungereimte-[82]sten Dinge für wahr zu halten, die Hirngespenste, die wir uns im Traume so leicht erfinden, die Contraste der Empfindungen, worin wir versinken, rühren gemeiniglich daher, daß unsre Erinnerungskraft im Traume oft ganz ausgetilgt zu seyn scheint, und wir den Faden nicht wieder finden können, wodurch der Traum mit der wirklichen Welt zusammenhängt. Nicht so bei dem Nachtwandler. Sein Gedächtniß ist ihm viel getreuer, als dem bloßen Träumer, — seine Vorstellungen werden nicht alle Augenblicke durch die Mißgeburten seiner Einbildungskraft unterbrochen, er erinnert sich sehr genau, daß seine Handlungen so und nicht anders nach der Ordnung der Dinge aufeinander folgen können, weil sie im Wachen so aufeinander zu folgen pflegen, er leitet von einerlei Ursachen viel richtiger, als im Traume, einerlei Wirkungen ab, und er weiß diese Wirkungen in die Folge zu stellen, worin sie wirklich stehen müssen. Alles dieß kommt von seiner richtigen Erinnerungskraft her, und er würde sich von einem Wachenden nicht unterscheiden, wenn seine äußern Sinne nicht zum Theil verschlossen wären. Hieraus erhellet nun zur Gnüge, daß sich ein Nachtwandrer von einem gewöhnlich Träumenden in vielen Stücken unterscheidet. a) Er besitzt eine viel deutlichere und richtigere Erinnerungskraft, als dieser, und weiß, vermöge dieser Erinnerungskraft, seine Handlungen besser nach den Gesetzen des Denkens und [83] der äußern Umstände einzurichten, als der wirkliche Träumende. b) Er hat wenigstens dunkle Empfindungen von den Objecten um ihn her, und sein feineres Gefühl vertritt bei ihm die Stelle des Gesichts ungefähr nach eben der Ideenassociation, als das letztere im Wachen bei ihm veranlaßt haben würde. c) Seine Organe sind also offenbar in einem wachendern Zustande, als im gewöhnlichen Traume. Die Bewegungen seines Körpers richten sich nach der vorhandenen, obgleich bisweilen ununterbrochenen Ideenfolge seiner Seele, und diese wickelt den Faden ihrer Vorstellungen fast eben so, wie im Wachen, ab, nur daß sie dieß beim Nachtwandeln mehr mechanisch, als im Wachen treibt.

Endlich ist wohl nicht zu läugnen, daß durchaus eine gewisse Disposition des Körpers zu diesem sonderbaren Zustand erfordert wird, indem er sich nach verschiedenen Jahrszeiten und selbst nach dem verschiednen Mondwechsel richtet, und gemeiniglich durch körperliche Mittel geheilt werden kann. In so fern dieser Zustand vorzüglich von einer gewissen Disposition des Körpers oder der Jahrszeit abhängt, muß dessen Erklärung dem Physiologen überlassen werden, ob ich gleich nicht glaube, daß die bisherigen Erklärungen dieser Herren, die diesen Zustand betreffen, die Sache in ein helleres Licht setzen. Ich habe bei ihnen keine bestimmte Erklärung auffinden können, wie das Nachtwan-[84]deln körperlich hervorgebracht wird, und vielleicht läßt sich eine solche Erklärung auch nicht einmal geben, da uns die Art der Einwirkungen des Körpers auf die Seele bisher immer noch so geheimnisvoll geblieben ist. Hoffmann nennt das Nachtwandeln in seiner 1695 zu Halle herausgekommenen Disputation, de somnambulatione ein semivigilans somnium, in quo ratione subjugata fortior phantasia spiritus in cerebri medullio satis adhuc mobiles determinat ad partes extremas pro variis perficiendis motibus. a

Knoll in seiner Abhandlung vom Nachtwandeln behauptet, daß die Ursach des Nachtwandelns ein überflüßiges gallichtes Blut sey, welches die Theile desselben mehr und mehr zertheilt, eine Menge Lebensgeister zubereitet, welche durch eine starke Einbildungskraft in Bewegung gegen die Theile des Körpers gebracht werden. b Diese Erklärung ist mit jener fast einerlei — aber eben so undeutlich und unbestimmt, wie jene. Um keinen Grad besser ist die des Bontekö (vid. dessen œconomiam animalem), welcher das Nachtwandeln von der ungleichen Menge Bewegung und Dicke des Nervensafts, Bluts und andrer Säfte herleitet, indem einige Gefäße und Gänge dieser Säfte verschlossen und einige offen sind. c

[85]

Da die zum Theil sehr merkwürdigen Erzählungen von Nachtwandlern in sehr vielen Schriften zerstreut liegen, ohne daß man grade daraus Folgerungen für die Seelenlehre gezogen und nach den Gesetzen unsrer Vorstellungen beleuchtet hätte, so werde ich nach und nach die wichtigsten Phänomene dieser Art sammeln und erläutern, und mit neuern Beobachtungen über jenen merkwürdigen Zustand der menschlichen Seele vermehren. Aus den Factis wird sichs selbst am deutlichsten ergeben, daß das Nachtwandeln aus einer Art wachenden Traume besteht, und sich genau nach den Erinnerungsgesetzen der Empfindungen richtet, die sich die Seele während des Wachens erworben hatte, daß sie aber auch hierbei mit einer größern Ordnung, als gewöhnlich im Traume zu Werke gehe, weil nicht die Einbildungskraft allein die Sensationen der Seele beim Nachtwandeln aneinander reihet.


Eins der merkwürdigsten Beispiele dieser Art befindet sich in den Act. Vratislav. 1725 Decemb. Class. IV.art. 7, welches mir um so viel wichtiger scheint, weil es den unwillkührlichen Mechanismus unsrer Ideenverbindungen auch in dieser Art des Träumens sehr deutlich an den Tag legt, und es außer allen Zweifel setzt, daß der Nachtwandler nicht schläft, [86] wenn auch seine äußern Sinne zugedämmt zu seyn scheinen.

Ein Seiler (ein wirklicher Nachtwandrer bei Tage) von dreiundzwanzig Jahren, ein Mann von einem melancholischen Temperamente, hatte seit drittehalb Jahren folgende Beschwerung. Es überfiel ihn vielmals am hellen Tage ein Schlaf, — mitten unter seiner Handthierung, es sey im Sitzen, Stehen oder Gehen. Wenn ihm der Paroxismus ankam, zog er ihm etlichemal die Stirn und Augen zusammen, bis sich diese fest zuschlossen. Und sogleich hörte der Gebrauch aller äußerlichen Sinne auf; hingegen fing er schlafend an, dasjenige zu thun, was er den Tag über bis auf den Augenblick des Paroxismus gethan hatte. (Seine Seele vegetirte also nur gleichsam die den Tag über angelegte Ideenfolge.*) 3 Z.B. er betete den Morgensegen ganz andächtig, that, als wenn er sich ankleidete, sich wüsche, sang ein Morgenlied in gehöriger Melodey, und alle Verse in ihrer Ordnung und ganz vernehmlich. Wiederholte dann nach und nach alle Reden mit eben den Worten, wie er sie wachend ausgesprochen hatte, und drückte alle Geberden und Minen sowohl im Gesicht, als den übrigen Theilen des Leibes ganz natürlich aus. [87] Ueberfiel ihn der Paroxismus im Gehen, so ging er im Zimmer, wo ihm der Zufall begegnet war, hin und her, ohne die Wände oder Tische darin zu berühren, bis ihm eine andre darauf folgende Idee eine neue Richtung gab. Z.B. Er stieg eine Treppe hinauf oder hinunter, so hebt er die Schenkel einen nach dem andern in die Höhe, und zwar ziemlich derb, und grade so oft, als etwa Stufen in der Treppe gewesen. War es eine Wendeltreppe, so ging er krumm herum; bei einer graden oder gebrochenen aber ging er grade oder winkelmäßig.

Wenn ihn der Schlaf im Gehen über Land befällt, so bleibt er nicht stehen, sondern geht seines Weges fort, fast geschwinder, als wachend, ohne des rechten Weges zu verfehlen, oder über etwas im Wege liegendes zu stolpern. Wie er denn mehrmals von Weimar nach Naunburg schlafend gegangen, und einst in eine Gasse gekommen, wo Bauholz im Wege gelegen, worüber er ganz ordentlich, wie ein Wachender, ohne allen Anstoß weggestiegen. Er soll auch Pferden und Wägen, die ihm begegnet, ausgewichen und wieder in seinen Weg gekommen seyn. Einstmals war er im Begriff nach Weimar zu reiten. Ungefähr ein paar Stunden davon überfällt ihn sein Schlaf, er ritt aber fort, traf den Weg auch durch ein kleines Holz, ohne das Gesicht vom Gesträuche zu verletzen, ritte dann durch die Ilme, tränkte darin [88] sein Pferd, pfiff ihm auch dazu und zog die Beine in die Höhe, damit sie nicht naß werden möchten. Passirte hiernächst durch etliche Gassen über den Markt, der eben voller Leute, Buden und Karren stand, und das alles so glücklich und behutsam, daß er, ohne jemand zu beschädigen oder sich Schaden zu thun, in das Haus, wo er hingewollt, gelanget. Hier stieg er ab, band sein Pferd an einen an dem Laden befindlichen Ring, ging durch den Laden seines Mitmeisters, wo allerlei im Wege lag, ohne es zu berühren, in die Stube, und nach einigen gesprochenen Worten wieder heraus, mit dem Vorgeben, daß er durchaus auf die Hochfürstl. Regierung gehen müsse. Als er nun da gewesen und an gedachten Ort wieder zurückkam, wachte er auf. — Wenn der Paroxismus zu Ende gehen wollte, zog er ihm, wie bei seinem Anfange, Stirn und Augen zusammen. Darauf kam er zu sich selber, öffnete die Augen, schämte sich und entschuldigte sich gegen die Anwesenden. Wenn ihn sein Zufall unter seiner Arbeit im Spinnen anwandelt, so spinnt er fort, und macht die Fäden so gut und eben, als wenn er wachte.

Im Paroxismo war er ganz unempfindlich, man mochte ihn stechen, kneipfen, raufen, stoßen, oder auch bei seinem Nahmen rufen. Er roch den allerflüchtigsten Spiritus nicht, sahe nicht, wenn man ihm auch gleich die Augenlieder von einander zerrte, hatte auch nicht gehört, als eine [89] Pistol ganz nahe bei ihm losgeschossen wurde. Wenn der Paroxismus vorüber ist, klagt er über große Mattigkeit. Uebrigens spricht er ganz sittsam und ordentlich, was man von einem gemeinen Manne sonst nicht leicht erwarten sollte, mag auch einen äußerlich guten Wandel führen.

Er kam zu jemanden einst des Abends, der ihn niedersitzen hieß, und ungefähr eine Stunde lang mit ihm redete. Während der Zeit fiel derselbe in Schlaf und fing an zu erzählen und zu handeln, was denselben Tag mit ihm vorgegangen war. Er forderte erstlich sich und seine Frau aufzustehen auf, that vorher ein Gebet, forderte seiner Frau ein Hemde ab, geberdete sich, als wenn er dasselbe umhinge, stieg darauf aus dem Bette, setzte sich hin und machte solche Gebehrden, als wenn er Strümpfe und Schuhe anziehe, sang aber dabei mit heller und vernehmlicher Stimme ein Morgenlied. Als er einen Vers davon gesungen, fiel ihm ein, daß er sich noch nicht gewaschen hatte, stand also von dem Stuhle, worauf er bisher gesessen, auf, ging in einen Winkel der Stube und that, als wenn er sich wüsche und kämmete. Dabei befahl er seiner Frau, daß sie zum Nachbar gehen, und ihn bitten sollte, daß er sein Pferd zurechte machen möchte, darauf er von Sulze nach Weimar reiten wollte. Nach diesem sagte er: er wäre nun allein, ging darauf in eine andre Ecke der Stube und verrichtete kniend sein Gebet. Als er [90]von diesem Gebet aufgestanden war, fing er das zuvor angefangene Morgenlied bei dem zweiten Vers in eben demselben Ton wieder an, und sang solches völlig aus. Hierauf redete er mit seiner Frau unterschiedenes, vertröstete dieselbe den andern Abend wiederzukommen, machte allerlei Abschiedszeichen, und that, als wenn er in des Nachbars Haus ginge, denselben grüßte, das Pferd aus dem Stalle hohlte, sich darauf setzte und zum Thore hinausritte. Worauf er denn ungefähr eine halbe Stunde lang auf einer Stelle stehen blieb, und mit der linken Hand und dem Leibe die Bewegungen eines Reitenden machte. Während der Zeit, als er einen Reiter vorstellte, nahm er verschiedenemal die Mütze ab, und grüßte jemand, der ihm begegnete. Als er eine Weile geritten hatte, fing er an zu singen: Von Gott will ich nicht lassen etc. und sang solches Lied unverstümmelt ganz bis ans Ende aus, doch so, daß er zuweilen ganz laut und zuweilen leise sang; von welchem letzten die Ursach mag gewesen seyn, daß ihm etlichemal unterwegs Leute begegnet sind, weshalb er leise gesungen. Als er das Lied ausgesungen hatte, beschäftigte er sich den ganzen übrigen Weg mit lauter guten Gedanken und Gesprächen, die er im Schlafe alle hersagte. Er hielt auch einmal stille, und forderte ein Maaß Bier, trank zweimal davon, und gab den Krug wieder zurück, mit dem Befragen, ob das Bier einen Dreier gelte? Grif [91] darauf in die Tasche, zog verschiedene Stücke Geld heraus, nahm aus derselben einen Dreier und ließ ihn aus der Hand fallen, als wenn er ihn dem Wirthe gäbe. Darauf fing er wieder an, sich als ein Reitender zu gebehrden, hielt einige Zeit darauf noch einmal stille und merkte, daß der Sattel auf dem Pferde nicht fest läge, stieg herunter und that, als gürtete er den Sattel auf dem Pferde wieder fest, setzte sich auch wieder auf, und ritte weiter. Es hatte sich aber zugetragen, daß er bei dem nächsten Dorfe vor Weimar auf dem Pferde in Schlaf gefallen war, in solchem Schlafe auch grades Wegs fort durch die Ilme auf Weimar, durch die Stadt und über den Markt, und vor des Hofseilers Haus daselbst geritten war. Er hatte hier, wie oben umständlich erwähnt, sein Pferd ordentlich angebunden, war auch im Schlaf auf die fürstl. Regierung und wieder herunter und in des Hofseilers Haus gegangen, da er denn erst nach einiger Zeit wieder aufgewacht war. Alles dieses, was er auf der Hinreise im Schlafe gethan, machte er diesmal auch wieder im Schlafe nach, sogar auch die Gebehrden, da er, als er durch die Ilme geritten, die Füße angezogen und dabei gesagt, daß das Wasser tief sey. Er stellte hierauf, da er nun in Weimar war, vor, wie er seiner Geschäfte halber in verschiedene Häuser ging, und dieselben da ausrichtete. Hierauf kam er endlich zu dem Manne, bei dem er in diesen [92] Schlaf gefallen war. Er redete alle Worte und machte alle Gebehrden, die er geredet und gemacht hatte gegen die Magd, welche ihm jenes Mannes Stube hatte zeigen müssen. Stieg so viele Treppenstufen hinein, als sich daselbst befanden, klopfte an die Thür und fing eben die Worte zu reden an, die er beim Einlassen wachend gegen jenen Mann gesprochen hatte. Bisher hatte er immer gestanden und gewandelt. Nunmehr fand er im Schlafe eben den Stuhl, darauf ihn jener Mann hatte niedersetzen lassen, — der doch etliche Schritte von ihm stand, ging mit festverschlossenen Augen, die auch nicht die geringste Bewegung bei dem davor gehaltenen Licht machten, durch die dazwischen stehenden Leute weg, setzte sich nieder und sprach alle die Worte nach einander wieder her, die er dem Manne, bei dem er in Schlaf gefallen, auf seine Fragen zur Antwort gegeben hatte. Endlich wachte er auf, und bezeugte, daß dieses alles, was er da im Schlafe gethan hätte, denselben Tag so mit ihm vorgegangen sey; übrigens könne er sich nicht besinnen, daß er alle diese Handlungen schlafend nachgeahmt habe.


So seltsam die meisten in vorhergehender Erzählung enthaltenen Facta scheinen mögen, so lassen sie sich doch recht gut aus der Natur unsrer Einbildungskraft und unsrer Ideenfolgen erklären, [93] und daß sie nicht unwahrscheinlich sind, erhellet daraus, daß noch täglich die Nachtwandrer zum Theil noch unglaublichere Dinge zu verrichten pflegen. Der in dieser Erzählung vorgestellte Nachtwandler bei Tage befand sich während seines Paroxismus gewiß nur in einem geringen Schlummer, obgleich seine äußern Sinne geschlossen zu seyn schienen. Eigentlich unternahm er keine neue Handlungen; alles war nur eine Repetition kurz vorhergegangener Vorstellungen und Handlungen, wobei aber doch gewiß die äußern Objecte auf die Einbildungskraft desselben nicht ganz unwirksam seyn konnten. Wenn es heißt, daß beim Anfall des Paroxismus der Gebrauch aller seiner äußerlichen Sinne aufgehört habe, so schien dieß nur so, denn aus der Erzählung selbst erhellet zu deutlich, daß wenn er auch nicht durch den Sinn des Gesichts bei seinen Vorstellungen mit geleitet wurde, doch sein Gefühl desto lebhafter und feiner war, wie dieß bei solchen Fällen gemeiniglich zu geschehen pflegt. Außerdem glaub' ich, daß die Nachtwandler bei ihren Handlungen nicht immer ganz Gesichtslos handeln, weil sich, ohne daß sie einen Gebrauch von ihren Augen machen, viele ihrer gefährlichsten und verwickelsten Handlungen gar nicht erklären lassen. Sie unterscheiden Gegenstände, zu deren Unterscheidung das Gefühl nicht zureicht, sie vermeiden in ihrem Schlummer Gefahren, die sie nur blos durch Hülfe des Gesichts — wenig-[94]stens auf eine dunkle Art, wie Menschen in Entzückung und bei Krämpfen, bemerken können; sie richten sich genau nach den Verhältnissen bürgerlicher Ausdehnung und Raume, ohne daß sie dieselben erst vorher berührt haben.

In so fern sie ihre Ideen nur nach einem allgemeinen Faden wieder abwickeln, und im Traume nichts anders thun, als vorhergegangene Handlungen vegetiren, können sie eher der Augen entbehren, indem die Seele die Entfernungen der Gegenstände im Schlummer so gut, wie beim Wachen, zu messen pflegt, und sich selbst durch die Erinnerungskraft die Punkte und Momente bezeichnet, wo sie zu handeln anfangen, aufhören oder dabei abwechseln soll, und dieß Messen der Entfernungen ist doch das vorzüglichste Stück der Operationen in der Seele des Nachtwanderers, — so wie das richtige Wiedererinnern der Zeitmomente, in welchen beim Wachen ihre Handlungen auf einander folgten. Alles dieß beruhet auf dem gewöhnlichen Mechanismus unsrer Fiebern, nach deren Eindrücken und Bewegungen die Ideen sich einander erzeugen und an einander knüpfen. Der Nachtwandler wird von seinem Paroxismus überfallen, — alle Bilder des vergangenen Tages liegen ihm am nächsten, es kostet der Seele gar keine Mühe, sie wieder in sich zurückzurufen, da die Eindrücke jener Bilder noch ganz frisch in ihm vorhanden sind, — es bedarf nur eines kleinen lei-[95]sen Anstoßes die Ideenreihe anzuheben, die sich auf die Folge der vorhergegangenen Handlungen gründete. Ist der Schlummer des Nachtwandrers sehr leise, desto ähnlicher werden alle seine Handlungen den Handlungen eines Wachenden werden. Sein Gedächtniß zeichnet ihm die Ordnung der vorigen Geschäfte deutlich vor. Sein Morgenseegen, sein Ankleiden, alle seine Arbeiten folgen, wie im Wachen, aufeinander. Er geht, macht Bewegungen mit den Händen, weil er nicht wirklich schläft, weil er noch einigen freien Gebrauch seiner Glieder übrig hat, was der Fall im Schlaf nicht ist. Er wendet sich, vermöge seiner Zurückerinnerungen nach der Lage äußerer Gegenstände; er weiß, vermöge jener Kraft, die Hindernisse, die ihn im Wege liegen; er weicht ihnen aus. Ohne Zurückerinnerung würde er dieses nicht können, wenn ihn nicht anders sein Gefühl leitet, oder seine Augen ihm wenigstens dunkle Vorstellungen von außen gewähren. Vermöge jener Erinnerungskraft macht er nun auch einen rechten Gebrauch von den Objecten, die ihn umgeben. Er weiß, ein Pferd zu reiten, und findet den rechten Weg, (vielleicht wurde in gegenwärtigem Fall zufällig selbst das Pferd der Führer des Nachtwandrers) weil er ihn schon mehrmals gemacht hat, und in seiner Seele eine deutliche Vorstellung von der Länge und Art des Weges vorhanden ist, — weil die Seele die Momente gezählt hat, die zur Voll-[96]bringung der kleinen Reise gehörten, und immer nur auf einen Punkt concentrirt bleibt, — und so erfolgen alle seine Handlungen durch eine im Schlummer erregte körperliche Disposition oder äußerer Einflüße veranlaßte Nachahmung der Geschäfte des Tages. Der Mann befand sich gleichsam im geringsten Grade des Schlummers, und seine Vorstellungen während des Traums waren zuerst so deutlich, als nöthig war, alle seine Schritte sicher zu leiten. — Daß er in seinem Paroxismo kein Gefühl von Stechen, Kneipfen, Raufen, Stoßen und Rufen hatte, daß er den stärksten Spiritus nicht roch, nicht den Pistolenschuß hörte, — rührt doch wohl wieder daher, daß seine ganze Seele auf einen einzigen Punkt gespannt ist, und für alle Sinne unterdessen gleichsam keine Aufmerksamkeit mehr hatte, welches bei mehrern Zuständen des menschlichen Körpers, bei Ohnmachten, Convulsionen, Entzückungen, heftigem Anstrengen des Kopfs, so wie schon bei außerordentlichen Aufwallungen der Leidenschaften sehr gewöhnlich der Fall ist. — Endlich hat die Seele den Faden ihrer Vegetitionen abgesponnen — sie ist gleichsam aus ihren Traumbildern hinausgeworfen, sie muß sich also von selbst wieder in die wirkliche Welt hineinfinden, denn sie hat keinen Stoff mehr, neue Ideenassociationen anzuspinnen; die alten sind erschöpft; sie fängt durch das [97] bemerkte Leere ihrer abgeschnittenen Thätigkeit an, sich wieder zu orientiren, und — wacht denn endlich wieder auf. Aber mit dem nun auf einmal hereinbrechenden hellen Tageslicht wirklicher, origineller Vorstellungen, die nun nichts mehr mit jenen Traumbildern gemein haben, wird die Erinnerung an dem gehabten Traume, wie ein Lampenlicht durchs Sonnenfeuer gleichsam vertilgt. Der Nachtwandrer kann sich seiner verrichteten Handlungen nicht mehr besinnen, weil sie nur auf der Oberfläche der Erinnerungskraft und des Gedächtnisses hinwegglitschten. Dahingegen die wirklichen herbeiströmenden Ideen des Wachenden tiefere, lebhaftere, homogenere und viel umfassendere Eindrücke mit dem Bewußtseyn, daß man sie im Wachen empfängt, veranlassen. Allenfalls bleibt in der Seele des Nachtwandrers ungefähr ein solches Nachgefühl jenes Zustandes zurück, wie wir noch einen lebhaften Traum des Morgens zu behalten pflegen. Alle diese psychologischen Bemerkungen beweisen nachfolgende Beispiele eben so deutlich.


In vorher angeführten Act. Vratisl. 1722 Febr. Class. IV. Artic. II. wird folgender besondrer Vorfall von einem unverheiratheten Frauen-[98]zimmer erzählt, der eben so sehr unsre Aufmerksamkeit, als vorhergehender, verdient.

Die hier erwähnte Patientin, ein Mädchen von siebzehn Jahren, war Anfangs Febr., nachdem sie Vormittags bei harter Kälte den Gottesdienst abgewartet, Mittags nach dem Essen in einen Schlaf gefallen, darin sie mit den Händen allerlei Grimassen gemacht, nach diesem gelächelt und endlich laut zu lachen angefangen. Worauf bald weinende Minen und thränende Augen wahrgenommen worden, bis sie endlich nach einer starken Viertelstunde wieder zu sich selbst gekommen und von allen diesen Dingen nichts gewußt. (Offenbar war dieser anfängliche Zufall krampfhaft.) Drei Tage nachher hat sich obiger Paroxismus auf gleiche Art wieder eingefunden. Etliche Tage darauf hat sie wegen zustoßender Mattigkeit bettlägrig werden müssen, da denn alle Tage, und zwar des Tages etlichemal, sich obige Zufälle eingefunden, wenn sie nehmlich anfangs in einen matten Schlaf gefallen zu seyn geschienen, nachgehends aber allerlei Minen, bald lachend, bald weinend, bald freundlich, bald trotzig, so wie man die Affecten durch Minen auszudrücken pflegt, gezeigt, und solche auch mit allerlei Bewegungen der Hände lebhafter gemacht. Endlich hat sie zu reden angefangen, und allerlei moralische und biblische Gespräche geführt. Wenn man ihr in die Rede gefallen und über dieß und jenes befragt hat, hat sie ganz ver-[99]nünftig auf alle Punkte geantwortet, und mit ihrer Schwester und andern Anwesenden sich zu Viertel- und halben Stunden in weitläuftige Discurse eingelassen, und jener oder andern ihrer Bekannten, die sie anwesend zu seyn geglaubt, allerlei Ermahnungen gegeben, wie ein Frauenzimmer christlich, züchtig und vor der Welt unanstößig leben müßte. Dabei ihnen die etwa bemerkten Fehler nachdrücklich verwiesen, und sie zu verbessern mit sonderbaren Ausdrücken erinnert, und vornehmlich von dem elenden und vergänglichen Zustande des Menschen und den seeligen Vergnügungen des Himmels viel geredet, mit stets untermischten biblischen Sprüchen und Redensarten, — wovon sie aber beim Erwachen niemals etwas gewußt. Wie sie denn auch christliche Lieder laut und vernehmlich damals im Schlafe gesungen, auch sich nicht stöhren lassen, wenn man mit einer Violine oder einem Clavier darein gespielt, sondern die Music und den Tact wohl beobachtet, auch wohl, wenn man ihr das Clavier aufs Bette gegeben, selbst gespielt und im Schlafe fortgefahren, außer daß in diesem Fall dann und wann ein falscher Grif mit untergelaufen. Sie sagte die in ihrer Kindheit gelernten Rollen aus Comödien mit den dazu erforderlichen Gesticulationen deutlich her, verrichtete andre feine weibliche Arbeiten;*) 4 that, [100]als wenn sie die in Form des Papiers auf ihrem Bette zusammengelegten Servietten beschrieb, forderte Licht, die geschriebenen Briefe zuzusiegeln, sagte auf Befragen, was und an wen sie geschrieben; las das Concept deutlich vor, welches meistens in einem artigen Concept und Eröffnung ihres Zustandes bestanden, machte eine französische Addresse darauf, versiegelte es (doch nur ihrer Einbildung nach) und befahl, daß es auf die Post getragen werden sollte. Wenn sie in ihrem Traume eine Visite erwartete, hing sie ihren Nachtmantel um, putzte sich vor dem Spiegel den Kopf, richtete sich im Bette auf, wenn sie bei Eröffnung der Thür glaubte, daß die vornehme Person hereinkommen werde, bewillkommte sie auf eine gefällige Art, dankte für die hohe Ehre und das Glück des Besuchs in den artigsten Ausdrücken, sprach von ihrem Zustande, und führte oft lange vernünftige Gespräche mit derselben, so wie sie die Fragen, die man an sie that, richtig beantwortete. Eben so feierlich und artig empfahl sie sich auch wieder beim Abschiedsnehmen des hohen Besuchs. Die Erzähler dieser Begebenheit setzen hinzu, daß das nachtwandelnde Mädchen nach einigen Wochen völlig wieder kurirt worden sey. Man brachte ihr gehemtes Blut wieder in eine ordentliche Bewegung, gab ihr Arzneien, die auf die Stärkung der Nerven, auf die Transpiration und auf die Heiterkeit des Gemüths wirkten, und die Paroxismi ließen [101] endlich ganz nach. Sie heirathete, gebar drei Kinder, und nachher hat sie nicht das geringste mehr von solchen Anfällen gespürt.

Eigentlich gehört diese Person nicht ganz zur Classe der Nachtwandrer, da sie immer im Bette blieb, und nur durch Stimme und andre körperliche Bewegungen einer Wachenden ähnlich wurde. Ihr Paroxismus fing unstreitig mit krampfhaften Zufällen und einer plötzlich entstandenen Schwächung der Nerven an, wodurch aber zugleich eine größere Reitzbarkeit derselben hervorgebracht wurde. Sonderbar, daß sich bei dieser Person die Seele erst durch allerlei Gebehrden und Pantomimen, die gewisse Leidenschaften ausdrückten, durchzuarbeiten schien, ehe sie in wörtliche Aeußerungen ihrer Ideen ausbrach, — und diese Ideen waren grade wieder die ihr geläufigsten — und mit dem Character nervenschwacher Menschen am homogensten. Sie gab Ermahnungen, mischte biblische Sprüche unter, tadelte Fehler und predigte vom Himmel. Sehr leicht drücken sich musicalische Accorde in dem Gehirne ab, die Seele kann sie nachstimmen, ohne sich anzustrengen, im Wachen selbst fließen oft gewisse Melodien von unsren Lippen, ohne daß wir daran denken, sondern dabei etwas ganz anderes treiben. Die Seele thut also gleichsam zwei Sachen auf einmal, aber sie hat zu den Tönen keine anstrengende Aufmerksamkeit nöthig; [102] die Töne folgen, wie bei einer aufgezogenen Flötenuhr, aufeinander, sobald der erste Ton die angeregte Schwingung der Gehirnfiebern veranlaßt hat, die mit den Muskelbewegungen der Sprachorgane in Verbindung stehen. Selbst das Clavierspielen während des Schlummers läßt sich leicht erklären, indem die mechanische Muskelbewegung der Finger, die mechanische Folge von Tönen, obgleich etwas falsch, ausdrückte, die die Patientin auswendig wußte.

Die einzige Art, wodurch man den Nachtwandler in die Classe der Träumenden setzen kann, ist wohl vorzüglich die, daß er seine Handlungen nach einer imaginären Supposition, indem er sich etwas als wirklich fingirt, was nicht vorhanden ist, wenigstens nicht auf die nehmliche Weise vorhanden ist, als ers sich denkt, einrichtet. Die Handlungen folgen dann aber im Traume ganz natürlich aufeinander, und werden theils durch äußere Eindrücke, theils durch die der supponirten Hauptidee angehängten Nebenvorstellungen, wie es scheint nach freien Entschlüssen, aber eigentlich unwillkührlich dirigirt. Wovon die nächstfolgenden Beispiele zeigen.


[103]

Ein Beispiel, welches mit vorhergehendem viel Aehnlichkeit hat, kommt im Arzt. St. 74, S. 295 ff. III. Th. vor. Neueste Ausgabe. d

Die Person, von welcher daselbst geredet wird, war nicht nur eine Nachtschwätzerin im höchsten Grade,sondern auch zuweilen eine Nachtwandlerin. Sobald sie des Abends nach verrichteter Arbeit zum Sitzen kam, fing sie auch schon an, einzuschlummern. In diesem Schlummer, der anfangs nur sehr leicht ist, beschäftigte sie sich sogleich mit ihren Freunden, und war niemals zu Hause, sondern allemal an ihrem Geburtsorte. (Weil dieß die nächste Hauptidee war, die sich ihrem Gehirn am tiefsten eingedrückt hatte, und womit sich die Erinnerungskraft ihrer Seele unstreitig am liebsten beschäftigte.) Sie fing also zu reden an. Man antwortete ihr, ließ sich mit ihr ein, und sobald dieß geschehen, hatte man ihre Vertraulichkeit vollkommen erworben. Fragen und Antworten geschahen wechselsweise. Sie drückte sich ordentlich aus, sie dachte und zwar ganz vernünftig. Sie hatte das beste Gefühl von Tugenden und Lastern*) 5, und [104] wußte alles, was man ihr vorsagt, sehr wohl zu unterscheiden, und auf das richtigste zu beantworten. Die Einbildungskraft mußte bei ihr ganz außerordentlich stark seyn; denn sobald sie nur wachend ein ihr vorhin ganz unbekanntes Clavierstück höchstens zweimal spielen und singen hören, wußte sie solches in diesem ihren Schlummer auf das genaueste, und ohne eine Sylbe oder einen Ton zu verfehlen, nachzusingen. Spricht ein Fremder, mit dem sie eben nicht vielen, obwohl einigen, Umgang gehabt, in diesem Zustande mit ihr, so erschrickt sie sich zwar anfänglich etwas, weiß aber auf Befragen, was ihr fehle, zu sagen, daß ihr ein Schall in die Ohren gekommen sey, als wenn sie denjenigen, der wirklich zu ihr geredet, sprechen gehört hätte.

Indessen wird dieser ihr Schlummer stets stärker und zuletzt der allerhärteste Schlaf von der Welt (nehmlich nach des Erzählers Meinung). In solchem nun unterscheidet sie, wie gesagt, sowohl die Stimme, als auch das Gefühl und den Geruch. Man kann aber während solches Schlafes nicht nur auf das stärkste reden, schreien und lachen, ohne daß sie davon erwachen sollte, weil sie sodann gar mitschreiet, mitlacht, sondern auch eine Trommel, ja eine Pistole selbst würde sie nicht aus dem Schlafe erwecken können. Sie geht sogar, wenn man will, mit spatzieren, ob sich sodann gleich [105] einige Schwäche und einiges Taumeln bei ihr zeigt: Sie schlägt sich mit einem herum, sie weint, sie schilt, betet, ja alle mögliche Affecten erregen sich bei ihr, und sie ist aller ihrer Sinnen, außer des Sehens und Schmeckens mächtig, und was das Sonderbarste ist, so kann sie in solchem Zustande gar knüppeln und allerhand Handarbeiten verrichten, ja sie weiß einer jeden Sache ihre eigenthümliche Stelle zu geben. Daß sie des Nachts im Schlafe geistliche und weltliche Lieder singt, ist bei ihr gar nichts neues, — und dennoch weiß sie von allem, was sie entweder im Schlafe gethan, oder man mit ihr vorgenommen, wenn sie nachher erwacht, nicht das mindeste. Sie hat eine Schwester, welche fast gleichen Zufällen unterworfen ist. Beide hörte man im Schlafe die ordentlichsten Discurse mit einander führen, davon sie doch beim Erwachen nichts wußten.

Es ist ungemein schwer, die vorbeschriebene Person endlich wieder zu erwecken. Je länger man mit ihr gesprochen, je mehr man mit ihr vorgenommen, und je stärker ihre Einbildungskraft erregt worden ist, desto schwerer ists, sie aus dem Schlafe zu bringen. Das Rufen bei Nahmen hilft nichts. Ihre Herrschaft nur allein ist nach vielen Rufen im Stande, sie endlich wieder zu ermuntern. Doch alles, was sie bei solchem Erwachen thut, geschieht annoch [106] im Traume. Kurz, sie braucht fast eine halbe Viertelstunde, um sich vollkommen zu ermuntern. Daß dieß alles keine Verstellung war, erhellet daraus, weil sie so ehrgeitzig ist, daß wenn sie erfahren, ein Fremder habe sie im Schlafe reden gehört, sie wohl eher einen ganzen Tag geweint, und sich davor so sehr geschämt hat, daß sie demjenigen, der sie in solchem Zustande gesehen, fast nicht vor Augen kommen mögen.

Bei vorher erzählten Beispielen hat mir besonders folgendes merkwürdig geschienen: a) Daß die Nachtschwätzerin erschrack, wenn sie ein Fremder anredete, und es ihr nur so vorkam, als ob sie jemand fremdes sprechen gehört. Bei diesem Schlummer hatte sich die Seele der Nachtwandlerin, wie mich dünkt, so orientirt, daß sie nur von den Bekannten, die sie umgaben, und deren Stimme ihr geläufig war, klare Eindrücke empfing, von einer fremden Stimme aber etwas in Verwirrung gebracht wurde, weil sie nicht genau wissen konnte, von wem die Stimme eigentlich herrühre. b) Daß es desto schwerer war, die Nachtwandlerin aus dem Traume zu bringen, je mehr man mit ihr vorgenommen und je stärker ihre Einbildungskraft erregt worden war. Hier verirrte sich die Seele gleichsam in einer Menge Traumideen, und brauchte einen größern Weg, um sich wieder in die wirkliche Welt zurückzufinden. Jede Idee braucht einige [107] Momente, ehe eine andre an ihre Stelle treten kann, je mehr vorzüglich lebhafte Ideen nur der Seele vorgeschwebt haben, je tiefer sie sich in dieselben eingelassen hat, je mehr Zeit und Kraft wird erfordert, um entweder die alten vielfachen Ideen auf die Seite zu schieben, um andern Raum zu geben; oder auch in einem bloß passiven Zustande andre aufzunehmen, die von außen herbeieilen. Da die Nachtwandrer überdem wohl sogleich die Eindrücke, die man bei ihnen, um sie aufzureiben, gebraucht, in ihren Traum selbst verweben, indem sie was außer ihnen vorgeht zu träumen glauben, so pflegt das Rufen bei Nahmen und andre Mittel nicht leicht auf sie zu wirken, bis eine körperliche Ursache eine neue Spannung der Nerven, oder auch eine entstandene Leere von Vorstellungen die Seele wieder zu sich selbst kommen läßt. Daß sie in jenem Zustande Ausdrücke von außen mit in die Reihe ihrer Traumideen aufnimmt, und dadurch nicht aufgeweckt wird, siehet man daraus, daß unsre Nachtwanderin, wenn man zu schreien und zu lachen anfing, mitschrie und mitlachte. Es scheint, daß oft eine stärkere Erschütterung des Körpers beim Nachtwandler nöthig sey, als die bloße Stimme eines andern, um ihn aus seinem Traume zu erwecken, wie auch aus nachfolgendem Beispiel erhellet, welches ich wegen seiner Sonderbarkeit und Unläugbarkeit nicht übergehen kann, zumal da es mir Gelegenheit giebt, [108] etwas über die gefahrvollen Handlungen der Nachtwandrer zu sagen, die sie im Schlaf mit größter Sicherheit und auf eine Art unternehmen, die ihnen im Wachen unmöglich seyn würden.


D. Knoll erzählt nehmlich in einer 1747 herausgekommenen Schrift: Historische, theoretische und practische Betrachtung eines kürzlich vorgefallenen Nachtwandelns, e daß er einen jungen Menschen von zweiundzwanzig Jahren, von einem melancholisch-cholerischen Temperamente, von robuster Natur und arbeitsamer Lebensart, als einen Nachtwandler gekannt habe und ein Augenzeuge seiner Handlungen gewesen sey. Dieser junge Mann ging als Gärtner in die Dienste einer adlichen Herrschaft. Nach einiger Zeit bemerkten die andern Hausgenossen, daß er des Nachts vom Bette aufstand, den Fensterladen abnahm, aus dem Fenster stieg, nach drei oder vier Stunden erst wieder kam, und sich dann wieder ins Bette legte. Weil sie aber gemeint, es geschehe im Wachen und mit Willen, so hat man anfänglich nicht viel daraus gemacht. Als er aber des Winters nebst andern Bedienten sich in der Stube befand, und Abends auf keine Art beim Wachen erhalten werden konnte, sondern täglich nach acht Uhr einschlief, so fing er im Schlafe an, geistliche Sprüche und Gebete, mit Verwunderung der Umstehenden, [109] herzubeten, worauf er aufstand, zur Thür hinaus ging, einmal im Garten über eine ziemlich hohe Blanke kletterte und hinten die hohe Mauer ohne Verletzung hinunterstieg, ging schlafend etliche Gassen und zwar ohne Hut fort, bis ihm ungefähr ein Diener, der ihn kannte, begegnete, und weil er keinen Hut aufhatte, denselben anredete und so lange schüttelte, bis er munter wurde, da er denn zurückging, an der Thür klingelte und wiederum eingelassen war, von allem aber, was er gemacht, nichts wußte.

Ein andermal ging er im Schlafe aus der Stube, stieg im Hofe aufs Dach und ritte auf der Dachrinne, als auf einem Pferde mit Erstaunen der Umstehenden, und als er eine Weile auf dem Dache herumgeklettert, kam er unbeschädigt wieder herunter, und man hat besonders angemerkt, daß er im Steigen mit Fühlen forschte, ob auch die Ziegel loß oder feste waren. Waren sie loß, so unterließ er, darüber zu steigen.

Da nun die Frau des Hauses von allem diesen benachrichtigt wurde, so war sie besorgt, es möchte dieser Bediente einmal verunglücken, daher befahl sie, ihn in eine andre Kammer zu betten, und dieselbe wohl zu verwahren, damit er des Nachts nicht herauskönnte, und ließ ihn dabei wohl beobachten. Als er nun im Schlafe zu gewöhnlicher Stunde seine Nachtwanderschaft antre-[110]ten wollte, und merkte, daß er nicht aus der Kammer kommen konnte, so fing er mit dem darin befindlichen Hausrath und seinen Kleidern verschiedene Arbeit an. Als es ungefähr um neun Uhr war, stand er einstmals mit offenen Augen schlafend aus dem Bette auf, und kroch unter dasselbe; er nahm ein unter demselben liegendes Bret, stützte es unter die Nase, und rieb dieselbe damit, bis das Blut herausfloß. Er ging hierauf nach dem Ofen, zog die Beinkleider an, nahm aus der Tasche derselben ein Messer, legte solches auf den Ofen, die Gartenschlüssel, so er gleichfalls aus derselben nahm, warf er hinter den Ofen in Winkel. Er kroch wieder unter das Bette, und rieb sich mit dem Brete die Nase. Er eilte darauf zum Ofen, und suchte das Messer, weil aber solches von den Umstehenden schon weggenommen war, schmeißt er die daselbst gefundenen Steine mit widrigen Minen stark zur Erde, die Gartenschlüssel aber nimmt er wieder zu sich. Er zog die Beinkleider aus, nahm andre Kleidung, und zog sie bald an, bald wieder aus. Er schmiß einen großen eichenen Tisch mit großer Gewalt bald hier, bald dorthin, und als solcher von einer andern Person, in der Absicht, damit nicht einer von den Umstehenden möchte getroffen werden, gehalten wurde, und auf ihn fallen wollte, wich er zurück. Man rief mit starker Stimme seinen Vor- und Zunahmen; aber er erwachte nicht. Sie schüttelten ihn, und er bekam einen convulsi-[111]vischen Husten. Die Personen, die alle seine Handlungen beobachtet, meldeten, daß er durch Rufung seines Nahmens niemals erwache, sondern durchs Schütteln, und daß der starke convulsivische Husten allezeit entstünde, wenn er erwache.

Er legt sich auf die Erde und schläft sogleich wieder ein, liegt aber kaum einen Augenblick stille, so steht er gleich wieder auf und fängt von neuem zu handthieren an. Er sucht alle Kleidung, so in der Schlafkammer befindlich, zusammen, mengt sie unter einander, schmeißt sie herum, holet sie wieder zusammen; die alten Strümpfe und Schuhe suchet er paarweise nach der Farbe aus, als wenn er sie sähe und kennte, die Kleidung hängt er indeß hintern Ofen wieder an ihren ordentlichen Ort, wo sie vorher gehangen hatte. Nachdem die Umstehenden die Kleider und den Tisch weggenommen, fängt er mit dem Bette zu Lärmen an. Er zieht solches mitten in die Stube, und bricht davon eine Lehne ab. Kurze Zeit darnach will er es wieder an gehörigen Ort bringen, merkt aber, daß ein Bret auf der Seite abgestoßen. Dieses schlägt er mit einem Steine ordentlich wieder zusammen, weil es aber noch wackelte, so kratzte er sich hinter den Ohren, schüttelt den Kopf und macht widrige Minen, ingleichen befestigt er wieder die Pfoste unten am Bette, die gleichfalls losgestoßen war. Er steigt ins Fenster, wo kein Wachender stehen kann, [112] macht das Fenster auf, gucket durchs Loch des Ladens und lächelt ein wenig. Vom Fenster steigt er nach dem Ofen, so gleichfalls kein Wachender verrichten kann, weil der Ofen viel höher, als das Fenster, und ziemlich weit entfernt ist. Er setzt sich auf den Ofen, und reitet darauf, wie auf einem Pferde, klappet auch dabei in die Hände. Vom Ofen kehrt er wieder zum Fenster zurück, er will aus dem Fenster, als er aber nicht kann, lachet er und schüttelt mit dem Kopfe. Indem er im Fenster steht, untersucht er mit den Händen die Wände, ob es gefährlich sey. Eine Nehnadel, so er vor einigen Tagen in die Wand gestochen, holet er von der Wand, zieht den Faden durchs Loch und nähet seine Beinkleider. Die andre Nacht ist er durch die Thür gebrochen und hat in dem Garten mit den Blumentöpfen sein Gewerbe getrieben, als wenn er wachte. Man hat bemerkt, daß in dem letzten Viertel des Mondes sein Paroxismus am heftigsten war. Wie er selbst versicherte, hat ihn seine Mutter schon in seiner zarten Jugend öfters des Nachts vom Hofe geholt, er wisse aber bis jetzt nicht, daß er dergleichen Handlungen unternehme, wenn es ihm nicht andre erzählten.

Dieser sonderbare Nachtwandrer unterscheidet sich von den andern vorzüglich dadurch, daß seine Handlungen, die er während des Paroxismus vornahm, nicht eigentliche Repetitionen seiner kurz [113] vorher im Wachen getriebenen Geschäfte, sondern gleichsam ganz neue Unternehmungen waren, die durch die Einbildungskraft, verbunden mit dunkeln Einwirkungen äußerer Objecte, hervorgebracht wurden. Daß seine Handlungen aber wirklich durch jene Objecte größtentheils determinirt wurden, ergiebt sich aus der Erzählung von selbst, indem er sogar die Dachziegel untersuchte, ob sie ihn auch würden halten können. Daß übrigens dergleichen Leute bei ihren wirklich gefahrvollen Handlungen keinen Schaden leiden, hat man, wie mich dünkt, ganz richtig daraus zu erklären gesucht, weil sie die Gefahr nicht kennen, worin sie sich befinden. Ein Wachender würde so gut, wie ein Nachtwandrer, auf dem Dache herumklettern können, wenn die Furcht zu fallen ihn nicht betäubte, und seine Schritte unsicher machte. Der Schwindel, welchem die meisten Menschen unterworfen sind, wenn sie sich auf Anhöhen befinden, macht, daß sie während des Wachens keiner solchen Handlungen, als der Nachtwandler wirklich verrichtet, fähig sind. Von jenem Schwindel weiß aber der Nachtwandrer nichts, weil er sich auf keiner Anhöhe zu befinden glaubt, und den Abgrund unter sich gar nicht bemerkt; daher man solche Leute bei ihrem gefahrvollen Steigen nicht zum Wachen bringen darf, weil sie sonst unfehlbar herunterstürzen würden, indem sie nun die Gefahr vor sich liegen sehen, worin sie sich begeben hatten. Ferner ist das Richten [114] der Seele auf einen Gegenstand, oder auf die mechanische Befolgung einer Handlung, der zweite Grund, daß dergleichen Leute bei ihren gefahrvollen Schritten so sicher gehen. Da ihre Sinne gewissermaßen geschlossen sind, so werden sie nicht zerstreut und ihre Ideen nicht confundirt, was bei dem Schwindel der Fall ist. Diese Richtung der Seele würde vielleicht selbst dann ihre Schritte sicher machen, wenn sie wüßten, daß sie sich grade auf einer Anhöhe befänden.


Nicht weniger merkwürdig, als vorhergehende Erzählungen, sind folgende, die ich ohne weitere Anmerkungen anführen will, da sie sich nach vorhergehenden psychologischen Grundsätzen und Erläuterungen deutlich erklären lassen; allerdings aber in eine Sammlung jener denkwürdigen Begebenheiten der menschlichenSeele gehören.

Hildan. erzählt Cent. II. Obs. 84, 85, f daß 1607 den 20sten April sein Blutsfreund, ein junger Mensch, in eben dem Hause zu Wittenberg, darin Hildan gewohnt, des Abends berauscht zu Bette gegangen, und bis um Mitternacht wohl geschlafen habe. Da er denn aus dem Bette aufgestanden, erst hin und her gewandert, nachher im Schlaf schnell aus dem Fenster gestiegen und zu demselben sich hinausbegeben. Ich schlief, fährt [115] Hildan fort, damals in derselbigen Kammer, und als ich von dem ungewöhnlichen Geräusch und Getöse erwachte, dachte ich gleichsam im Traume bei mir, daß dieser Jüngling in seiner Kindheit oft im Schlafe gegangen. Da nun mein Diener auf Befragen geantwortet, daß der junge Mann sich nicht mehr im Bette befinde, so stand ich augenblicklich auf, und ging auf das Fenster zu, damit ich vielleicht ihn daselbst noch aufhalten und zurückziehen könnte. Aber in demselbigen Augenblick ist er aus dem dritten Stockwerk, vierzehn Ellen hoch, auf das Pflaster hinabgefallen. Doch ohne sonderlichen Schaden.

Der edle Herr Horrizäus hatte dem Hildan erzählt, daß er eine Bäuerin im Basler Gebiete gekannt, welche im Schlafe gewandelt. Dieselbe sey bei Nacht aufgestanden, und habe im Schlafe ihre Hausgeschäfte verrichtet; ja sie sey einmal auf das Feld zu den Schäfern hinausgegangen. Horrizäus betheuert, daß er solches mit eigenen Augen gesehen habe.

Zu Lustrien ohnweit Lausanne war ein Bürger von achtundzwanzig Jahren, der von Jugend auf im Schlafe gewandelt. Als er noch ein Knabe war, stieg er bei Nacht aus dem Bette, wanderte durchs Haus und die Gassen, schrie und redete im Schlafe ganz verständlich. Welches von vielen gesehen und wahrgenommen worden. Er würde [116] sein Nachtwandeln fortgesetzt haben, wenn ihn nicht nachher seine Gattin des Nachts zu Hause gehalten hätte. Doch ist derselbe niemals recht bei Verstande gewesen.


Plater erzählt in seinen Observat. Lib. I. pag. 12 g von dem zu seiner Zeit sehr berühmten Buchdrucker, Johann Oporinus, folgendes. Als dieser sich einstmals mit meinem (Platers) Vater, welcher auch ein Buchdrucker war, auf der Reise befand, und wegen einbrechender Nacht unterwegs in einem schlechten Wirthshause einkehren mußten, fing an, damit sie die Nacht ohne Schlaf hinbringen möchten, ein griechisches Buch zu corrigiren. Oporinus schlief, indem er den Text vorlas, darüber ein, dennoch aber hörte er nicht auf fortzulesen. Als ihn endlich Platers Vater aufweckte, wußte er von allem, was er gelesen, nichts, ob er gleich im Schlafe eine ganze Seite gelesen hatte. Eben dasselbe habe ich auch an andern oft beobachtet, fährt Plater fort, und es ist mir selbst zuweilen begegnet, daß, wenn ich Abends zu Bette gegangen und in einem Buche gelesen, darüber aber eingeschlafen bin, ich dennoch nicht aufgehört habe zu lesen. Und wenn man mich nach einiger Zeit ermuntert, habe ich von alle dem, was ich gelesen, mir nicht das Geringste entsinnen können. Ja oft bin ich nach dem Abendessen bei [117] der Laute eingeschlafen, und habe im Schlafe immer fortgespielt.


Vorzüglich merkwürdig scheint mir auch das Beispiel, welches H. ab Heers in seinen Observation. oppido raris h angeführt hat. Ich kenne, sagt er, einen nunmehro bejahrten Mann von Kindesbeinen an, welcher im Schlafe wandelt, und außer andern solchen Leuten ganz gewöhnlichen Sachen ganz wunderbare Verrichtungen unternimmt und glücklich bewerkstelligt. Als er noch ziemlich jung war, und die Dichtkunst auf einer berühmten Universität lehrte und am Tage oft hin und her dachte, wie er die gemachten Verse noch ändern und ausbessern könnte, wollte ihm oft nichts einfallen. Hingegen zur Nachtzeit, wenn er schlief, stand er gemeiniglich auf, schloß seinen Schreibtisch auf, fing an zu schreiben, und las dasjenige, was er geschrieben hatte, mit lauter Stimme her. Endlich, wenn er aufhörte zu lesen, fing er an zu lachen, und freuete sich über seine glücklichen Einfälle; ja er ermahnte seinen Stubengesellen, daß er sich doch eben so vergnügt über seine verfertigten Gedichte bezeigen möchte. Wenn alles dieses vollbracht war, legte er seine Papiere in Ordnung, schloß den Schreibtisch zu, zog seinen Schlafrock und Pantoffeln aus, legte sich wiederum zu Bette und schlief so lange, bis er aufgeweckt [118] wurde. Da er denn von allem, was er in der Nacht gethan, nichts wußte.

Wenn er am Morgen aufgestanden und sein Gebet gethan, ging er mit einiger Bekümmerniß an seine Arbeit, und sorgte, wie er die den vorigen Tag gemachten Poesien noch verbessern und die Lücken derselben ausfüllen möchte. Sobald er aber vom Schreibtische kam und alles dieses, ja was noch mehr, mit seiner eigenen Hand schon bewerkstelligt sah, erstarrte er, gleich einem, der vom Blitz gerührt worden, und bekümmerte sich im rechten Ernst darüber, ob solches ein guter oder böser Geist gethan. Wenn seine Freunde über sein Bezeigen lachten, so bat er sie mit Thränen, ihn, wo es möglich wäre, von diesem Irrthum zu befreien. Weil er aber, indem sie dasjenige, was sich mit ihm in der Nacht zugetragen, und was sie wachend mit angesehen hatten, erzählten, ihnen keinen Glauben zustellen wollte, so brachten sie ihn die folgende Nacht, da er es wiederum eben so gemacht, in ein ander Bette, und legten ihn mit seinem Nachtkleide, welches er von ungefähr anbehalten hatte, verkehrt in dasselbe, so daß er mit dem Kopfe da lag, wo man sonst die Füße hinzulegen pflegte, ließen ihn auch so lange liegen, bis er am hellen Tage von selbst erwachte. Ob er nun gleich abermals läugnen wollte, daß er dieselbe Nacht aufgestanden sey, gelesen, geschrieben, auch dieß und jenes ver-[119]richtet habe, so wurde er doch gar leicht durch den Augenschein überzeugt, daß er sich im Schlafrock, den er doch den Abend vorher ausgezogen, und in einem andern Bette befand. Es ist in der That zu verwundern, setzt der Erzähler hinzu, daß ein Mann von so unvergleichlichem Gedächtniß, sich dieses nächtlichen Schreibens und Lesens, welches doch oft drei bis vier Stunden gedauert, gar nicht zu erinnern gewußt. Aber noch mehr, daß sein Gang, die Art zu schreiben und seine Sprache ihm bei Nacht eben so natürlich gewesen, als er alles dieses am Tage verrichtet, da sonst die meisten Nachtwandrer ihre Sachen sehr unvollkommen und gleich Trunkenen vornehmen. Was aber bei dieser Sache am sonderbarsten ist, ist dieß, daß, nachdem er lange nachher sein Amt aufgegeben, und eine schöne und tugendhafte Frau geheirathet, er derselben aber seine Heimlichkeiten verschwiegen, diese des Nachts, wenn er das Kind im Schlafe aus der Wiege auf seine Arme genommen, und damit im ganzen Hause herumgegangen, ihm überall auf dem Fuße nachgefolgt, und durch Fragen alles Verborgene seines Herzens von ihm erfahren, so, daß er sich nachher gewundert, wer seiner Gattin die Geheimnisse seiner Seele, die sonst niemand, als ihm allein, bekannt gewesen, verrathen haben müßte.

Im fünfundvierzigsten Jahre seines Alters hörte er auf im Schlafe zu wandern, dagegen fing [120] er zu der Zeit an, desto mehr zu träumen, wovon er, so lange er zur Nacht aufstand und arbeitete, frei gewesen. Die ihn bei Nacht wandern und lesen gesehen, haben versichert, daß er die Augen weit offen gehabt. Er selbst aber hat hoch betheuert, daß er gar nichts gesehen habe. (Wahrscheinlich hatte er auch dieß beim Aufwachen vergessen, daß er wirklich während seinen nächtlichen Arbeiten Gebrauch von seinen Augen gemacht.) Die Träume, die er nachher bekam, heißt es weiter, waren gemeiniglich prophetisch. Er sahe in denselben seines Schwiegervaters, seiner Frauen, seines ältesten Sohnes und verschiedener Anverwandten Leichen so deutlich vorher, wie sie nachmals in der That bestellt und angeordnet wurden. So sagte er auch viele Dinge, die ihm jeden Tag über begegnen würden, zum voraus, fröhliche und traurige Begebenheiten, Streitigkeiten, Verlust, Gewinn und andre dergleichen; ja er wußte gemeiniglich die Stunde gewiß anzuzeigen, wenn solches geschehen würde.


Wepfer erzählt in seinen Observat. medico-practic. Observ. 94 i folgendes. D. Buoch schrieb im Monat April 1688 von Meßkirchen folgendes an mich. In einem benachbarten Kloster sind zwei Nonnen, welche im Schlafe wandeln, und fast alle Nächte mit offenen Augen das Kloster [121] durchstreichen. Sie laufen die Treppen auf und nieder und zünden Lichter an. Es begleiteten sie gemeiniglich zwei bis drei andre gesunde Nonnen, welche sie nicht gewahr werden, bis man sie recht scharf mit Ruthen streicht.


Del Rio erzählt (siehe Fritschii Histor. mirabil. Part. II. Hist. 5 ) Gundisalvus, ein Schulmeister, welcher die Kinder im Catechismus unterrichtete, und in einem Kloster zu übernachten pflegte, hatte im Gebrauch, daß er zur Nachtzeit sang, lehrte, schalt und vermahnte, grade, als wenn er sein kleines Auditorium wirklich vor sich hätte. Ein Klosterbruder, in dessen Zelle er lag, drohete ihm, er sollte die Nacht stille seyn, und ihn ruhig schlafen lassen, oder er wollte aufstehen, seine Ruthe nehmen, und ihm, wie er seinen Schülern, das Lermen vertreiben. Der Schulmeister merkt sich dieß, und schläft darüber ein.

Des Nachts steht er auf, nimmt eine lange Scheere und geht zu des Bruders Bette, welcher zu allem Glücke gewachet, und bei hellscheinendem Monde diesen Nachtgänger gesehen, und sich hinter das Bette verkrochen. Gundisalvus aber näherte sich dem Bette und stieß die Scheere etlichemal in das Hauptküssen, und legte sich darauf wieder nieder. Des folgenden Tages wußte er nichts [122] davon, sondern sagte, daß ihm geträumet, der Bruder sey mit der Ruthe zu ihm kommen, und er habe sich mit der Scheere vertheidiget.

Ein Schüler, wie Clauderus erzählet, ist im Schlafe aufgestanden, hat sein Exercitium verfertiget, und sich nachher wieder zur Ruhe begeben.

Im Jahre 1593 den 24sten März ist nicht weit von Helmstädt ein Nachtwanderer gewesen, wie Horst berichtet, welcher aus dem Bette aufgestanden, die Treppe hinuntergestiegen, und einen weiten Weg durch den Hof gegangen, darnach in die Küche gekommen, und in den Brunnen gestiegen, hat die Hände und Füße hart und fest eingesetzt, ist auch ganz nackend gewesen, bis aufs Hemde; ist doch nicht ins Wasser kommen, ausgenommen, daß er den Saum am Hemde ein wenig benetzet, und als derselbe erwachet, vielleicht wegen des kalten Wassers, hat er geschrien: O mein Bein, hilft mir. Die andern im Hause, als sie die Stimme hören, suchen und finden ihn, daß er sich in den Brunnen mit Händen und Füßen anhält, und setzten ihm die Leiter mit einem Licht hinein. Dieweil er aber auf diese Weise nicht herauskommen können, lassen sie ihm den Eimer hinunter; da steiget er mit dem rechten Fuße hinein, und mit der rechten Hand hält er die Ketten, und haben ihn also herausgebracht; welches glücklich zugegangen, aber er ist sehr erfroren gewesen und ganz erstarret. j

[123]

Helmont erzählet, er habe einen Schlafgesellen gehabt, welcher gemeiniglich des Nachts im Schlafe aufgestanden, mit dem Schlüssel das Schloß aufgemacht, und wenn er eine Weile herumgewandert, bei seiner Zurückkunft wieder zugeschlossen habe. Daher Helmont einstmals aufgestanden sey, den Schlüssel hinweggenommen und unter das Kopfküssen versteckt habe. Allein sein Schlafgeselle habe sich hernach aus den Federn gemacht, und den Schlüssel unter dem Kopfküssen hervorgezogen, gleich, als wenn er es gesehen hätte, daß er dahin verstecket worden, und sey hinweggegangen. Da er ihn nun nachgeschlichen, habe er gesehen, daß er auf eine alte mit Moos und Gras bewachsene Wand gestiegen. Den folgenden Morgen habe er aber von allem nichts gewußt.

Es schliefen drei junge Edelleute und Gebrüder, schreibt eben derselbe, in einem Bette beisammen, von diesem stand der eine einstmals ganz nackend auf, nahm sein Hemde in die Hand, und eilte stillschweigend nach einem Fenster, ergriff das vor dem Fenster von der Rolle herabhangende Seil, und durch Hülfe dieses Seils rutschet er bis zum Giebel des Hauses, nimmt daselbst junge Aelstern aus, wickelt selbige ins Hemde, macht sich wieder herunter, begiebt sich zu Bette und versteckt darin die ins Hemde gewickelte junge Aelstern. Da er des Morgens erwachte, und seine Brüder wegen [124] seines Aufstehens mit ihm sprechen, will er von nichts wissen, außer daß ihm geträumet, er sey verwichene Nacht aufgestanden, habe ein Aelsternest zerstöret, und die Jungen aus denselben mit sich genommen. Worüber seine Brüder ihn auslachen. Als er nun aufstehen will, sucht er sein Hemde im Bette, welches er auch unten zu den Füssen mit sammt den lebendigen jungen Aelstern findet, und also nicht nur im Traume, sondern in der That geschehen war, was er seinen Brüdern erzählet hatte.

Es fällt mir ein, schreibt der Verfasser der curieusen Betrachtungen bei schlaflosen Nächten, wie ich einen gewissen Goldschmidt gekannt habe, welcher mir selbst erzählete, daß er in seiner Jugend mit dergleichen Uebel sehr beladen gewesen sey. Unter andern meldete er zweierlei, so sich von diesen in seinen Lehrjahren zu Hamburg mit ihm zugetragen hatte. Nehmlich es hätte sein Lehrherr immer viel zu thun gehabt, daß die Gesellen und Jungen selten hätten vor zwölf bis ein Uhr des Nachts dürfen zu Bette gehen. Als dieser Junge sich nun einstmals nebst seinen Cameraden und Gesellen auch so spät schlafen geleget, und sanft eingeschlafen wäre, waren die andere Gesellen und Jungen zwar des Morgens darauf zu rechter Zeit wieder aufgestanden, hätten aber diesen ihren Schlafgesellen nicht mehr bei sich gehabt, ohnerachtet seine Kleider noch [125] zugegen gewesen. Da man nun nach vielen vergeblichen Suchen ihn nicht finden können, wäre er am Mittage gegen Tischzeit von sich selbst wieder zum Vorschein gekommen, und zwar in einem pfütznassen Hemde und Haaren. Dieses aber aus folgenden Ursachen: Es wäre das Dach von seines Herrn Hause an des Nachbarn Haus auf solche Art gestoßen, daß die Dachtraufen von beiden Häusern zusammen in eine große Rinne gegangen wären. Nun hätte ihm gedünket, als daß ihm selbige Nacht geträumet hätte, es wäre seinem Herrn ein Canarienvogel entflogen, und er wäre dem Canarienvogel nachgestiegen, ihn wieder zu fangen, hätte aber hernach empfunden, was ihm vor ein seltsames Abentheuer im Schlaf begegnet sey. Nehmlich er wäre im Schlafe aufgestanden, sey zum Dachfenster hinaus auf die Rinne gestiegen, hätte sich in solche Rinne gelegt und wohl ausgeschlafen, bis gegen Mittag. Unterdessen aber wäre ein starkes Gewitter mit einem Platzregen entstanden; also, daß das von beiden Dächern zusammenschießende Wasser weit über ihm müsse hingegangen seyn. Dem aber ungeachtet hätte er solches nicht gefühlet, sondern wäre ohne Schaden bis in Mittag in solcher Rinne liegen geblieben, bis er von sich selbst erwachet und als eine gebadete Maus aufgestanden wäre, und nicht gewußt hätte, wie er dahin gekommen, oder weswegen er so naß wäre. Bis ihm seine Leute bedeutet hätten, daß gegen den [126] Morgen ein heftig Gewitter gewesen; welche sich daneben auch sehr über ihn verwundert hätten, daß er nicht gar ersoffen wäre, weil das Regenwasser doch eine geraume Zeit müßte über ihn hingegangen seyn, und er solches nicht gefühlet, noch das starke Donnern gehöret hätte. Noch wunderbarer kam es heraus, als mir eben dieser Goldschmidt erzählte, es sey ein gewisser unbewohnter Thurm zu Hamburg, in welchen oft in Jahr und Tag kein Mensch käme, und also stets die Thüre des Thurms verschlossen bliebe. Er hätte aber einstmals in Acht genommen, daß im Sommer die Mauerschwalben oben in dieses Thurms Mauer heckten. Welches Schwalbennest nicht gar weit von einem Loche, das oben im Thurme, wie eine offene Thür herausgehe, sey. Da hätte er manchmal gedacht, wenn er nur zu diesen Schwalbennest kommen und solches ausnehmen könnte. Hierauf hätte es sich begeben, daß an einem nicht weit von diesem Thurm stehenden Gebäude wäre gearbeitet worden, an welchem des Tages sowohl, als des Nachts, große Leitern zum Bau gelegen wären. Einstmals wäre er auf vorhererzählte Weise aus seinem Bette vermißt worden, da doch seine Kleider zugegen gewesen, und Niemand hätte ihn zu suchen gewußt. Es hätte aber eine von jetztgedachten großen Leitern desselben Morgens früh an mehr erwähnten Thurm gelegen, als ob jemand hätte darauf in den Thurm steigen, und hätte es, weil sie bis auf die sechs [127] Ellen bis an das große Loch nicht zugelanget hätte, unterlassen müssen. Weil es aber gleichwohl bei jedermann einen Verdacht erwecket hätte, aus was Ursachen die große Leiter an den wüsten Thurm müsse seyn geleget worden, so wäre die Thurmthüre geöffnet. Wie man aber hinaufgegangen und sich oben umgesehen, hätte man ihn (den damaligen Goldschmiedsjungen) eben bei dem großen Loche auf einem Schutthaufen in dem tiefsten Schlafe liegend gefunden, also, daß sie ihn kaum erwecken können. Als er nun endlich erwachet, hätte er nicht gewußt, wo er wäre, oder wie er dahin gekommen. Am allermeisten aber hätte jedweder sich verwundern müssen, wie er, als ein schwacher Knabe, eine so große Leiter an den Thurm bringen können, welches doch der stärkste Bauer allein nicht würde vermocht haben. Imgleichen, wie er hätte können von der Leiter bis in das Loch steigen; da doch die Leiter etliche Ellen zu kurz gewesen wäre.

Der Beschluß im folgenden Stück.

Fußnoten:

1: *) Oder mühsam zu untersuchen, ob der Harmonist, Influxionist, oder der Schüler des Cartesius das Nachtwandeln am besten mit seinem System vereinigen könne.

2: *) Eben dieß wird auch nicht durch eine andre Erklärung auseinander gesetzt, daß nehmlich alle Ideen des Gedächtnisses und der Einbildungskraft, und überhaupt alle geistige Ideen vermittelst eben des Spiels der Gehirnfiebern und Nerven, oder der materiellen Ideen, die bei den ursprünglichen Sensationen in Bewegung sind und würken, nur auf einem entgegengesetzten Wege, vom Gehirn nehmlich und der Seele, bis zum Nerven der Sinneswerkzeuge herab, hervorgebracht werden, und also wesentlich von jenen ursprünglichen äußern oder innern Sensationen nicht verschieden sind.
Anmerk. d. H.

3: *) In welchem Fall sich die oben in der Anmerkung angeführte Meinung einiger Psychologen noch am meisten vertheidigen ließe.

4: *) Z.B. entwarf sich Muster zum Sticken, stickte, nähete und schrieb.

5: *) Auch hierdurch unterscheiden sich die Nachtwandrer sehr merklich von wirklich Träumenden, indem bei diesen gemeiniglich und oft auf die sonderbarste Art während des Schlafs alle moralischen Gefühle zu verlöschen scheinen, und mit größter Bereitwilligkeit allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufgeben.
P.

Erläuterungen:

a: Hoffmann 1695, Abschnitt XXI, S. 20.

b: Knoll 1753.

c: Bontekoe 1688. Erschien posthum.

d: Unzer 1769, Bd. 3, 74. Stück, Haller, 'Vom Zustande der Seele bey den Nachtwanderern'. J. A. Unzers Zeitschrift Der Arzt erschien ab 1759 (Unzer 1759-1764). 1760 gab es eine 2. Auflage, 1767/1768 eine 'Neue Ausgabe', 1769 erschienen Bd. 1-6 in der 'Neuesten Ausgabe' und 1769-1796 erschienen die 12 Bde. dieser Ausgabe in einem 2. Druck.

e: Knoll 1747.

f: Observationum et Curationum Chirurgicarum Centuriae war eine Fallgeschichtensammlung, jeweils 100 wurden veröffentlicht. Eine Gesamtausgabe erschien posthum (Hildan 1641).

g: Sammlung von Krankengeschichten: Platter 1614.

h: Heer 1630.

i: Wepfer 1727.

j: Horst 1593.

[128]

Inhalt.

Seite
Fortsetzung der Revision des 4ten 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins. 1.
Zur Seelenkrankheitskunde.
Johann Herrmann Simmen. 28.
Zur Seelennaturkunde.
Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler. Fortsetzung. 74.
[<129>]

<Verlagsankündigungen.>

Nachricht

Die J. G. Fleischerische Buchhandlung in Frankfurt am Main besorgt eine Ausgabe von Pallas Flora Rossica wovon kürzlich in Petersburg der erste Theil erschienen. Herr Hofrath und Professor Succow in Heidelberg — dessen Verdienste um die Botanik bekannt sind — wird diesem Werk durch gehörige Abkürzung noch mehr Gemeinnützigkeit zu geben suchen. Der erste Theil soll auf Subscription Jubilate Messe 1789 erscheinen, wovon die Bedingungen nächstens bekannt gemacht werden sollen. Wenn sich eine gehörige Anzahl zu illuminirten Exemplaren findet, so soll das Publikum auch damit befriediget werden. Im Jul. 1788.


Ankündigung.

Das Ableben Carl Wilh. Scheele’s, eines Naturforschers erster Größe, war für die Naturkunde, und vorzüglich den chemischen Theil derselben, ein eben so schwer ersetzlicher Verlust, als die von ihm hinterlassenen physisch-chemischen Arbeiten ein immerwährendes Denkmal seines Forschungsgeistes, und Meisterstücke einer philosophischen Scheidekunst bleiben werden. Mehrere unsrer benachbarten Gelehrten, Britten und Franzosen haben angefangen, die hinterlassenen Meisterstücke dieses Genies, welches bisher nur zerstreut vorhanden waren, zu sammlen, und in ihrer Muttersprache herauszugeben. Auch in Deutschland erschien der erste Band von Schee-[<130>]lens Werken im vorigen Jahr zu Leipzig in lateinischer Sprache, von Hrn. Prof. Hebenstreit besorgt. Die franzözischen und englischen Ausgaben von Scheelens Werken, ob sie schon von Gelehrten erster Größe veranstaltet, und mit wichtigen Anmerkungen bereichert sind, haben den Fehler der Unvollständigkeit: die lateinische Ausgabe ist gar nicht chronologisch geordnet, und man vermißt bei ihr jene Anmerkungen gänzlich. — Um die Unvollständigkeit der ersten Ausgaben, und das Mangelnde der letztern zu ergänzen, bin ich entschlossen, eine deutsche Ausgabe von Scheelens hinterl. phys. chem. Werken zu veranstalten, die sich durch chronologische Ordnung und Bereicherung mit den wichtigsten Thatsachen anderer Chemiker, in sofern sie auf Scheelens Arbeiten Beziehung haben, wie ich mir schmeichle, zu ihrem Vortheil von den vorhergehenden Ausgaben, auszeichnen soll. Das Ganze gedenke ich in zwei bis drei mäßigen Oktavbänden zu liefern, wovon nächstkommende Michaelis-Messe der erste Band im Verlag der August Myliusischen Buchhandlung allhier erscheinen wird, und die zwei letztern bald nachfolgen sollen. Ich werde alles anwenden, um dieses Werk so interessant, als gemeinnützig zu machen, und die Verlagshandlung wird es gleichfalls an nichts mangeln lassen, durch die ihr eigne Genauigkeit in saubern Druck und Güte des Papiers dieser Ausgabe die möglichste typographische Schönheit zu geben. Berlin im Januar 1789.

D. S. F. Hermbstädt.

Verschiedner Akademien Mitglied.