ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: V, Stück: 3 (1787)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

C. P. Moritz und C. F. Pockels.

Fünften Bandes drittes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1787.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[<III>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

C. P. Moritz und C. F. Pockels.

Fünfter Band.

Berlin
bei August Mylius 1787.

[<V>]

Druckfehler im 1ten Stück des 5ten Bandes.

Seite 2. Zeile 1. der unter sich, lies der unter ihnen sich S. 4. Z. 25. Anal l. Qual Z. 28. heben l. haben S. 6. Z. 2 Gefühl, l. Gefühl S. 9. Z. 16. würde l. würden S. 13. Z. 26. holfen l. halfen S. 18. Z. 10. deren l. davon S. 19. Z. 23. Bongainville l. Bougainville S. 28. Z. 26. Messern l. Messer S. 29. Z. 18. wenn l. wenn man S. 60. Z. 9. natürliches l. würkliches S. 72. Z. 12. möchten l. müssen S. 74. Z. 4. Homer l. Home Z. 19. gewünschten l. gemischten S. 75. Z. 8. da l. das S. 85 Z. 8. Cordan l. Cardan S. 96. Z. 29. l. zu beleidigen S. 97. Z. 19. l. jeden meiner gegen sie begangenen Fehler S. 111 Seelenliedern l. Seelenleiden.


<Druckfehler> Im 2ten Stück des 5ten Bandes.

S. 19. Z. 4. ore vinoro l. ore vinoso S. 21. Z. 30. Leben l. leben S. 28. Z. 17. Kindes l. Feindes S. 32. Z. 8. des Witzes l. des Milzes S. 39. Z. 10 Würdigkeit l. Widerwärtigkeit S. 62. Z. 17. vasa l. rasa S. 63. Z. 8. oft l. als S. 66. Z. 24 Ist seeming l. It seeming S. 67. Z. 8. can bo l. can be Z. 14 χοιρας ερρθρας l. χοινας εννοιας Z. 23. von da l. von der S. 68. Z. 4. nie l. eine S. 71. Z. 5. leben l. haben S. 72 Z. 14. Cortesianer l. Cartesianer S. 78. Z. 25. Anfänger l. Anfänge Z. 29. verschwinden l. entstehen S. 87. Z. 4. bevorstehenden l. hervorstechenden S. 91. Z. 27. Bescheinugen l. Erscheinungen.

Noch ist S. 12. Z. 2. anstatt des Worts: betrogene zu lesen: heterogene.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Fünften Bandes drittes Stück.

<Revision.>

Fortsetzung der Revision der ersten drei Bände dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Nachdem in den fünf letztern Stücken dieses Magazins die in den ersten drey Bänden vorkommenden Beyträge zur Seelenkrankheitskunde, Seelenzeichen- und Heilkunde; ferner die Abhandlungen über Sprache in psychologischer Rücksicht, über Lebensüberdruß, Taub- und Stumgeborne, Erinnerungen aus frühen Jahren der Kindheit, und endlich über Ahndungen und Visionen revidirt worden sind; so will ich nun in diesem und in folgenden Stücken die noch übrigen vorzüglichen Aufsätze durchzugehen suchen, welche die Seelennaturkunde betreffen.

[2]

Im 1ten Bandes 1ten Stück Seite 344 wird aus einem Tagebuche (den 18ten Sept. 1780) Folgendes angeführt: »Ein unbedeutender, höchst uninteressanter Ausdruck aus einer Arie in einer Operette, den ich selbst nur vor ein Paar Tagen von einem guten Freunde hörte, welcher ihn sich zu wiederholtenmalen aus Langerweile vorsang, kam mir heute Nachmittag, während dem ernsthaftesten Nachdenken, alle Augenblicke, wider meinen Willen, in den Sinn, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn mir ebenfalls zu wiederholtenmalen vorzusingen, ohne den mindesten Gefallen daran zu finden« u.s.w.

Wer genau auf sich Acht giebt, wird ähnliche Erfahrungen an sich machen können. Es geschieht nämlich oft, daß uns ein gewisser Ausdruck, ein gewisser Ton der Stimme gleichsam so fest in der Seele sitzt, daß wir ihn mit aller Mühe nicht wieder wegbringen können, — ja, daß er durch das Bestreben, ihn zu entfernen, oft noch stärker in uns tönt. Die Ursach von dieser innern starken und bleibenden Impression liegt, wie im erzählten Fall, nicht immer an der Wichtigkeit und Größe des Gegenstandes, oder Gedankens, der ausgedruckt wird, sondern sehr oft wohl darin, daß bey der allerersten Impression die Seele ganz müßig und unthätig war, und jene, da sie von keinen Nebenideen verwischt, oder auch geschwächt wurde, desto tiefer in unser Gehirn eindringen [3] konnte. Sonst kann auch noch der Grund in der Art der Impression selbst liegen, in ihrer Neuheit, ihrem Contrast mit andern Impressionen, in der Lebhaftigkeit und Beschaffenheit des Organs, oder auch, wie hier wohl der Fall gewesen seyn mag, und sehr oft bey naiven Melodien der Fall ist, in einer sehr geläufigen und fließenden Tonfolge, die wir uns entweder wirklich deutlich vorstellen, oder davon wir nur ein angenehmes dunkles Gefühl haben. So habe ich mehrere auch unmusicalische Leute gekannt, welche oft, ohne daran zu denken, die Claviermelodien der Asmusischen und Schulzischen Volkslieder sangen, und bey dem ernsthaftesten Nachdenken in die Melodie derselben wie halb Begeisterte einfielen.

Eine eben so starke und oft noch stärkere Impression, die uns alle Augenblicke wieder einfällt, und sich zu den ernsthaftesten Gedanken gesellt, obgleich diese Gedanken gar nichts Homogenes mit ihr haben, kann durch einen auffallenden Wortausdruck hervorgebracht werden, davon mir sonderbare Erfahrungen bekannt sind. Ein neuer Fluch, den wir hören, ein witziger Einfall kann uns tagelang, wider unsern Willen, vor den Ohren schweben. Der Hypochondrist ist in solchen Fällen am unglücklichsten, indem die unbedeutendsten Ideen, durch dieses und jenes Wort veranlaßt, gleichsam in seiner Seele anrosten, und ihn gleich Furien verfolgen.

[4]

Eine Aehnlichkeit, wenigstens in Absicht des unwillkührlichen Entstehens, haben hiemit diejenigen Wörter, welche auf einmal — wodurch? können wir nicht immer wissen — vermittelst einer schreckhaften und furchtbaren Empfindung auf uns würken, wovon von Seite 85 an im 1ten Stück des 1ten Bandes ein bemerkenswerthes Beyspiel erzählt wird. »Ich hatte mir«, sagt Herr Jördens, »niemals eine deutliche Vorstellung davon zu machen gesucht, was das heiße: vom Schlage gerührt zu werden. Ein plözliches Ende des Lebens war alles, was ich mir dachte; der Schall des Worts schien das so mit sich zu bringen. Wie plözlich dies Ende sey, ob etwa mit Schmerz verknüpft, oder nicht, und solcherley mehr, darnach zu fragen, war mir nie eingefallen. In den folgenden (spätern) Jahren befand ich mich einstens in einer Gesellschaft, wo hinter einander von mehrern Personen erzählt ward, die vom Schlage getroffen worden. Ich hörte diesen Erzählungen jetzt zum erstenmal mit mehrerer Aufmerksamkeit zu, als bisher geschehen war, und das Bild des Todes brachte Schrecken in mein Herz! Ich ward plözlich unruhig; ich empfand eine gewisse Bangigkeit, die ich sehnlich von mir wünschte. Es ward ein neues Beyspiel erzählt, und ich fühlte eine zitternde Bewegung an meinem Körper. Jede Wiederholung des Wortes Schlag vermehrte meine Unruh und Angst« u.s.w. Diese schreckhaften Empfindun-[5]gen, die sich so auf einmal der Seele des H. J — bemächtigten, mogten wohl in der genauern Beschreibung der am Schlage gestorbenen Menschen, in der ängstlichen und weinerlichen Art, womit sie erzählt wurden, und in einer wenigstens abwechselnden Hypochondrie ihren Grund haben, ob er sich gleich S. 90. davon frey spricht. Nicht jeder hypochondrisch-kranke Mensch glaubt, daß er's wirklich ist, und aus der genauen Beschreibung, die der Herr Verfasser von seiner damals kranken Phantasie macht, sieht man deutlich, daß sie mit körperlichen Ursprungs war, und aufhörte, sobald mehr zerstreuende Ideen ihre schwarzen Bilder vertrieben, und sein Körper eine bessere Blutmasse bekam.


Eine ähnliche Erfahrung erzählt Herr M. S. 91. von sich selbst. Dergleichen Empfindungen sind nichts seltenes, und ihre Stärke läßt sich durchgehends durch eine zu stark erschütterte Einbildung erklären, welche jeder andern Idee die herrschende unterzuschieben sucht. Ich kenne einen Mann, welcher auf einmal niedergeschlagen wird, wenn man das Wort: Faulfieber nennt. Seine ganze Heiterkeit verliert sich bey diesem Wort, und er stellt sich keine Todesart schrecklicher, als das Faulfieber vor. Seit einem Jahre hat ihm dieses Wort Höllenqualen verursacht; — erst seit kurzer Zeit kann er davon so ruhig, wie von der gleichgültigsten Sache sprechen hören.


[6]

Seite 47. steht ein Aufsatz des Herrn Fischers, Stärke des Selbstbewußtseyns benennt, worin einige wichtige Bemerkungen für die Seelenlehre vorkommen, obgleich das erzählte Factum selbst nichts weiter, als das bekannte Alpdrücken ist. Daß die Seele bey einer gänzlichen Verwirrung der Vorstellungs- und Einbildungskraft dennoch ein ziemlich deutliches Bewußtseyn von sich selbst und ihrem Zustande haben könne, — ist freylich ein paradoxer Satz, der mir äußerst unwahrscheinlich vorkommt. Bey einer gänzlichen Verwirrung unsrer Ideen, — oder bey der gänzlichen Unfähigkeit der Seele ihre Begriffe zu ordnen, und mit Deutlichkeit anzuschauen, läßt sich kein deutliches Bewußtseyn derselben von sich und ihrem Zustande denken, wenigstens in dem Augenblick der gänzlichen Verwirrung nicht. Aber während dieser Verwirrung kann es gewisse Lichtpuncte geben, wo die Seele zu sich selbst kommt, — und in solchen Intervallen kann man sich dann leicht irren, daß man die Gefühle während denselben durch Selbsttäuschung in den Zustand einer gänzlichen (vielleicht nur gänzlich geglaubten) Verwirrung der Denkkraft hinüberträgt.

Dergleichen Zustände sind überhaupt in der menschlichen Seele nicht selten, wo sie aus einer plözlichen Confusion der Ideen in ein eben so schnelles starkes Bewußtseyn ihrer selbst, und umgekehrt zurückfällt. Im ersten Fall pflegt sie sich denn nicht [7]selten mit mehrerer Lebhaftigkeit als jemals zu beschauen und zu fühlen, und daher sind die Augenblicke, worin Wahnsinnige von ihrer Raserey erwachen, für sie gewiß die unglückseligsten, die man sich denken kann.


Der Brief des Herrn Spaldings an Sulzer im 2ten Stück des 1ten Bandes Seite 38. u.s.w. enthält einen sehr merkwürdigen Beytrag zur Seelenkunde*). 1 Wahrscheinlich war der ganze sonderbare Seelenzustand des Herrn Verfassers aus einer plözlichen Unordnung im Gehirn entstanden, und zwar, wie er richtig bemerkt, wohl nur in einem Theile des Gehirns, weil er während seiner verworrenen Ideen und der Unfähigkeit, sie auszudrücken, sich doch seiner ganz deutlich bewußt war, und eine Beunruhigung über seinen Seelenzustand empfand, auch die körperlichen Objecte von aussen völlig unterscheiden konnte. Wahrscheinlich bewegten sich auch die verworrenen Bilder seiner Einbildungskraft zu lebhaft und zu geschwind, als daß die Seele andere ruhigere Ideen fixiren konnte, und eben daher mogte auch das Verwechseln der gesuchten Wörter und der unwillkürlichen entstehen. Aus dergleichen Phänomenen läßt sich allerdings sehr [8]viel folgern, und so sehr sie auch eine gewisse uns bisher unbekannte Vereinigung der Organisation mit der Denkkraft sichtbar darthun, so sicher folgt auch davon, daß die Seele, die die sich durchkreuzenden Vorstellungen von sich selber unterscheiden, und über ihre Unrichtigkeit urtheilen konnte, eine eigene von der Organisation unabhängige Selbstthätigkeit besitze. Das Bewußtseyn ihrer selbst läßt sich durch keine Organisation, durch keinen Einfluß der Organisation völlig erklären. Hier erscheint der Mensch als ein geistiges Wesen auf einmal über alle Materie erhaben; so fein wir sie auch subtilisiren und organisiren mögen. — Es ist natürlich, daß sich die Vorstellungen der Seele, durch eine Zerrüttung der Organisation, vornämlich im Gehirn, verwirren können; allein die Vorstellung dieser verworrenen Vorstellungen zeigt von einer ganz eigenen innern Denkkraft der menschlichen Natur, und der Beweis, welchen die Materialisten für ihr System aus jenen Vorstellungen eines verworrenen Gehirns ziehen könnten, ist eigentlich mehr gegen, als für sie.


Der vortrefliche Aufsatz des Herrn Hofrath Marcus Herz über seine eigene Krankheit, S. 44. u.s.w. enthält für den Arzt und Psychologen die interessantesten Winke zur Bereicherung ihrer Wissenschaft, und ich wünschte nichts mehr, als daß von philosophischen Aerzten mehr dergleichen Krank-[9]heitsgeschichten, wo der Körper durch die Seele zu genesen anfing, bekannt gemacht werden mögten. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab die einzige Idee: du bist nun an dem Orte, wo du zu seyn so lange vergeblich gestrebt hast! der Seele ihre Besonnenheit wieder; obgleich der damit verbundene Schlaf eine endliche Folge einer zu langen Ermattung seyn konnte. Jene einzige Idee war die Schöpferinn einer neuen Denkordnung, so wie die gegenseitige angstvolle, nicht an dem rechten Ort zu seyn, durch einen zu starken Druck auf Blut und Gehirn wenigstens die causa socia der Verwirrung seyn mußte. Nur ist mir noch nicht entschieden: ob jene neue Idee, an dem gewünschten Orte zu seyn, eigentlich an sich selbst, oder der damit verbundene Grad der Freude und Leidenschaft der Seele den veränderten Stoß nach einer bessern Richtung gegeben habe, welches letztere mir um so viel wahrscheinlicher vorkommt, weil gerade die qualvolle Einbildung, auf den Strassen und in fremden Oertern herumgeschlept zu werden, das Delirium am meisten unterhielt. Es sind mir mehrere Beyspiele bekannt, wo Menschen durch einen plözlichen Affect der Freude ihre verworrenen Vorstellungen auf einmal verloren, und wieder zu einem deutlichen Bewußtseyn ihrer selbst kamen, — obgleich die herrschende Vorstellung bey ihren Verwirrungen nicht immer grade der Wunsch war, der auch in Erfüllung ging, sondern ein an-[10]deres Hirngespinst ausmachte. Aus mehreren täglichen Phänomen könnte der denkende Arzt die wichtigsten Resultate für seine Kunst ziehen; eine Kunst, die nur immer etwas Halbes bleibt, wenn er nicht zugleich wirklicher Psycholog ist. Ich wünsche, daß meine Leser hiebey das nachlesen mögten, was der Hofrath M. Herz in der Einleitung seines Buchs, vom Schwindel, mit so vielem Scharfsinn gesagt hat. a


Die Geschichte einer sonderbaren Handlungsart ohne Bewußtseyn, (S. 74.) welche Herr G. L. Spalding aus dem Englischen des Lord Monboddo erzählt hat, zeigt deutlich, daß die menschliche Seele sehr vieler Ideen, und darauf gegründeter Handlungen fähig sey, obgleich das Bewußtseyn derselben mit einem Augenblicke verlischt. Eigentlich war das angeführte Mädchen eine Nachtwandlerinn am hellen Tage. »Ihr Paroxismus ergriff sie allemal bey Tagszeit, wenn sie schon einige Stunden aus dem Bette gewesen war. Er fing mit einer Schwere des Kopfs und Schläfrigkeit an, die sich in Schlaf endigte, wenigstens in eine Art davon; denn ihre Augen waren fest zugeschlossen. In diesem Zustande war sie vermögend, mit einer erstaunenswürdigen Behendigkeit auf Tisch und Stühle zu springen. Oft rennte sie auch aus ihrer väterlichen Wohnung; dies geschah aber allemal mit einer gewissen Richtung nach irgend einem bestimm-[11]ten Orte in der Nachbarschaft, und mit völlig verschlossenen Augen. Wenn sie erwachte, fühlte sie sich sehr schwach; aber bald kam sie wieder zu Kräften, und befand sich nun nichts schlimmer; im Gegentheil hatte man sie im Laufen gehindert, so war sie um ein Großes kränker. War sie nun zu sich selbst gekommen, so hatte sie nicht die geringste Erinnerung von dem, was sich während ihres Schlafs zugetragen hatte«.

Die Heilung von ihrem Uebel ist in der That sonderbar, und hat viel Aehnlichkeit mit den albernen prophetischen Curen der magnetisirten bremischen Frauenzimmer, ob sie gleich nicht manipulirt worden war. Einige Zeit vor dem Ende ihrer Krankheit träumte sie, wie sie erzählte, das Wasser eines benachbarten Brunnens, genannt Tropfbrunnen, werde sie heilen. Sie trinkt während des Paroxismus und außer demselben sehr viel davon, konnte es auch im Paroxismus genau von anderm Wasser unterscheiden. Vor ihrem letzten Paroxismus sagte sie: nun habe sie noch drey Sprünge zu thun, und dann wollte sie nie wieder springen oder laufen. Dies geschah auch wirklich, und jetzt ist sie vollkommen gesund.« Ein auffallender Beweis von der Heilkraft der menschlichen Einbildungen.


Erfahrungen und Phänomene von der Art, wie S. 103. angeführt worden, giebt es mehrere. Ich erinnere mich sehr deutlich aus meiner Jugend, [12]daß ich oft eine Neigung in mir wahrnahm, mich in das Mühlgerenne einer Wassermühle hinabzustürzen. Ich kenne Leute, die, wenn sie einen bloßen Degen in der Hand halten, einen Trieb in sich fühlen, den Anwesenden zu verwunden, sich ein vor sich liegendes Scheermesser an die Kehle zu setzen u.s.w. Viele dergleichen Fälle, wo man sich in eine Gefahr hineinzustürzen, einen Drang empfindet, ob man sich gleich davor fürchtet, lassen sich aus einer dunkeln Neugierde erklären, indem man, ob man sichs gleich nicht deutlich vorstellt, zu erfahren wünscht: wie einem in der Gefahr selbst zu Muthe seyn mögte. Oft kann auch der bloße Anblick der Gefahr auf eine mechanische Art unsre Empfindungen in Aufruhr bringen. Das schnell über das Mühlgerenne herabstürzende Wasser nöthigt uns gleichsam das mechanische Gefühl ab, daß wir mit fortschwimmen müßten, und wir handeln dann eben so instinctartig, als ein Thier, welches zu laufen anfängt, wenn das vorhergehende läuft. Billig sollte man dergleichen Fälle, wo wir ganz mechanisch handeln, bey den Beurtheilungen des Selbstmordes mehr von einer physischen als moralischen Seite betrachten, und überhaupt da, wo die Menschen ganz außerordentlich albern, oder böse zu handeln scheinen, sie mit weiser Schonung richten, weil man in hundert Fällen voraussehen kann, daß ein unwillkürlicher Stoß ihrer Leidenschaften sie verführt hat.


[13]

Im 2ten Bande 1ten Stück S. 71. ff. erzählt der sel. Kirchenrath Stroth Folgendes: »In meinem dreyzehnten Jahre fiel ich durch einen Zufall in's Wasser, in dessen grundlosen Boden ich so lange steckte, daß ich dem Ertrinken nahe war, bis ich endlich durch Hülfe andrer Leute wieder herausgebracht ward. Von dieser Zeit an glaubte ich, so oft ich zu Selbstbetrachtungen kam, ich sey damals wirklich ertrunken; alles, was ich sähe, hörte oder empfände, seyen keine wirkliche Empfindungen in der Körperwelt, sondern Erinnerungen aus dem vorigen Leben. Ich glaubte keinen Körper mehr zu haben, sondern mich nur dem Geiste nach entweder auf der Erde aufzuhalten, oder doch solche Vorstellungen zu haben, als ob ich mich auf der Erde aufhielte. Und alle diese Einbildungen hatte ich in Jahren, wo ich nichts von Sceptikern und Idealisten gehört hatte u.s.w.«.

Ich kann mir diesen Zustand nicht anders als durch eine dunkle Zurückerinnerung an die Empfindungen erklären, die der gute Stroth unter dem Wasser liegend gehabt haben mogte. Nun wirst du ertrinken, wird dein Geist von dir scheiden! — Diese und ähnliche Ideen konnten damals schnell durch seine Seele gehen; aber auch einen so starken Eindruck im Gehirn zurücklassen, daß diese Idee von Nichtmehrseyn, wenn er zu Selbstbetrachtungen kam, eine solche Lebhaftigkeit annahm, [14]daß sie die übrigen verdunkelte, und seine Seele ganz in den Empfindungszustand seiner Gefahr zurücksetzte, wo er schon aufgehört zu haben glaubte. Eine Empfindung, die ich aus eigener Erfahrung kenne, und einem lebhaften Traume aus einem andern Leben gleicht, übrigens aber mit der Empfindung nichts gemein hat, welche aus einem wirklichen Vernunftzweifel ihren Ursprung nimmt.

C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung künftig.)

Fußnoten:

1: *) Man lese hierüber nach, was Mendelssohn S. 46. ff. im 3ten St. 1ter B. dieses Magazins mit wahrem philosophischen Scharfsinn gesagt hat.

Erläuterungen:

a: Herz 1786.

[15]

Zur Seelenkrankheitskunde.

1.

Beyspiel einer sonderbaren Ohnmacht.

Pockels, Carl Friedrich

Ein junges Frauenzimmer, Kammerfrau bey der Fürstinn von **, hatte an einer heftigen Nervenschwäche lange krank gelegen, und war endlich allem menschlichen Ansehen nach gestorben. Ihre Lippen waren bleich, ihr Gesicht hatte eine völlige Todtenfarbe, und ihr Körper war kalt. Man brachte sie aus dem Zimmer, worin sie gestorben war, legte sie in einen Sarg, und bestimmte den Tag, wenn sie begraben werden sollte. Der Tag erschien, es wurden, nach der Gewohnheit des Landes, Sterbelieder vor der Thür gesungen, und man wollte eben den Sarg zunageln und wegtragen, als man auf der Leiche einen Schweiß entdeckte, der lau war, und immer heftiger hervordrang, — endlich beobachteten die Umstehenden sogar einige schnelle Muskelbewegungen an Händen und Füßen des verstorbenen Frauenzimmers. Nach einigen Minuten, währender Zeit sie noch andere Zeichen des Lebens von sich gegeben hatte, schlug sie mit einem erbärmlichen kreischenden Geschrey die Augen auf, [16]und bekam die heftigsten Convulsionen. Es wurden geschwind Aerzte herbeygerufen, und nach einigen Tagen war sie schon ziemlich wieder hergestellt, und lebt wahrscheinlich noch.

Sehr sonderbar ist die Beschreibung, welche sie von ihrer Ohnmacht selbst machte, und einen bemerkenswürdigen Beitrag zur Psychologie abgiebt. »Sie gestand nämlich, es sey ihr wie im Traume vorgekommen, als ob sie wirklich gestorben wäre; aber sie habe doch gleichwohl alles deutlich vernommen, was außer ihr während des schrecklichen Todtenschlafs vorgegangen. Sie habe ihre Freundinnen am Sarge reden und über ihren Verlust klagen gehört, habe es gefühlt, als man ihr das Todtenhemd und die Handschuh angezogen, und sie in den Sarg gelegt hätte. Dieses Gefühl sey aber mit einer unbeschreiblichen Seelenangst verbunden gewesen. Sie habe rufen wollen, aber ihre Seele habe durchaus keine Kraft gehabt, auf den Körper zu würken; es sey ihr vorgekommen, als ob sie in demselben, aber auch nicht in demselben mehr wohne. Eben so wäre es ihr nicht möglich gewesen, sich zu bewegen, die Arme auszustrecken, oder die Augen zu öffnen, wenn sie es gleich beständig gewollt habe. Ihre innere Seelenangst hätte aber den höchsten Grad von Marter erreicht, als das Chor Sterbelieder zu singen und man den Sarg zuzunageln angefangen hätte. Der Gedanke: daß sie lebendig begraben werden solle, habe ihrer Seele [17]den ersten Stoß von Würksamkeit auf den Körper gegeben, und diese habe sich mit den Muskelbewegungen ihrer Hände und Füße und mit dem kreischenden Geschrei wieder zu äußern angefangen, nachdem sie vor innerer Seelenangst den schrecklichsten Schweiß geschwitzt.«

Ich habe die Erzählung dieses Factums aus dem Munde der glaubwürdigsten Personen, welche mit jenem Frauenzimmer Umgang gehabt, und es von ihr selbst als einer ernsthaften und wahrheitsliebenden Person gehört haben. An sich ist die Sache auch nichts weniger als unwahrscheinlich, da wir mehrere Beispiele von Ohnmachten haben, wobey die Seele noch einiges Bewußtseyn behält, ob sie gleich nicht, wie sonst, auf den Körper würken kann. Wer mit ängstlichen Träumen geplagt ist, wird oft die Erfahrung gemacht haben, daß man oft schreien, um Hülfe rufen will; daß man es aber bey aller Anstrengung und innern Angst durchaus nicht dahin bringen kann.

Zugleich ist aber auch obiges Beispiel eine Warnung, wie vorsichtig man bey dem Begraben der Leichen verfahren muß, daß sie nicht zu früh begraben werden, und wie leicht es bey starken Ohnmachten geschehen kann, daß Leute lebendig begraben werden.

P.

[18]

2.

Ein schwer zu erklärender Traum*). 1

Anonym

Zwey Ehegatten, die sehr vergnügt mit einander lebten, erfuhren seit einigen Jahren, daß ein ehliches Band das größte und sanfteste Vergnügen verschaffen kann, als der Mann sich von seinem geliebten Weibe auf einige Zeit, um eine Reise zu machen, trennen mußte. Die Lesung der Briefe von ihrem Gatten war der Dame ihre angenehmste Beschäftigung, und sie laß dieselben jeden Abend wieder durch, ehe sie sich dem Schlaf überließ. Mit dieser Beschäftigung hatte sie einmal einen Theil der Nacht zugebracht, und war mit einem Briefe in der Hand, den sie des Abends vorher bekommen hatte, eingeschlafen. Ihr Gatte versicherte sie in demselben, daß er sich vollkommen wohl befände, [19]und es nicht das Ansehen hätte, als würde er Gefahr laufen*). 2 Auf einmal erwachte sie mit einem kreischenden Geschrei. Ihre Kammerfrauen laufen zusammen, und finden sie in einem kalten Schweiße und in einem Strom von Thränen. »Mein Mann ist dahin«, sagte sie zu ihnen, »ich habe ihn eben sterben gesehen«. Er war an einer Wasserquelle, um welche einige Bäume herumstanden. Sein Gesicht war todtenbleich. Ein Officier in einem blauen Kleide bemühte sich, das Blut zu stillen, das aus einer großen Wunde an seiner Seite floß. Er gab ihm darauf aus seinem Hute zu trinken, und schien vom Schmerze durchdrungen, als er ihn die letzten Seufzer thun sah. So erschrocken auch die Kammerfrauen über den Zustand ihrer Frau waren; so bemüheten sie sich doch, ihr Gemüth zu beruhigen, indem sie ihr vorstellten, daß dieser Traum keinen andern Grund hätte, als ihre ungemeine Zärtlichkeit gegen ihren Gemahl. Die Mutter dieser Dame, welche bey ihr im Hause war, und die man unterdessen aufgeweckt hatte, stellte ihr vor, daß sie ruhig seyn müßte, da sie erst vor wenig [20]Stunden einen Brief von ihrem Gatten bekommen hätte. Allein alles Zureden half bey ihr nichts, sie blieb einmal dabey, daß ihr Unglück ausgemacht und ihr Gemahl nicht mehr sey. Ihre Mutter blieb an ihrem Bette sitzen, und sahe mit Vergnügen, daß sie durch einen heftigen Strom von Thränen entkräftet wieder einschlief; aber es dauerte nicht lange. Sie hatte kaum eine Viertelstunde geschlafen, als sie durch den nehmlichen Traum wieder erweckt ward, und nun gar nicht mehr zweifelte, daß ihr Traum übernatürlich sey. Sie wurde alsbald von einem heftigen Fieber mit einer Verrückung des Gehirns überfallen, und schwebte vierzehn Tage lang zwischen Tod und Leben. Unter der Zeit bekam man wirklich die traurige Nachricht, daß ihr Gemahl unterwegs getödtet sey. Die Mutter, welche für das Leben ihrer Tochter besorgt war, gebrauchte alle Vorsicht, den tödtlichen Streich, den man ihr versetzen mußte, aufzuschieben. Man ließ die Hand ihres Mannes nachmachen, und brachte es dahin, daß sie sich anfangs beruhigte. Als man hierauf ihre Gesundheit wiederhergestellt sahe, so trug man ihrem Beichtvater auf, ihr den erlittenen Verlust zu hinterbringen, und ohnerachtet der Bewegungsgründe, die er ihr vorstellte, sich dem göttlichen Willen zu ergeben, zitterte man lange Zeit für ihr Leben.

Es waren schon vier Monate verflossen, seitdem sie Witwe war, als sie gegen den Anfang des [21]Winters nahe bey ihrem Hause eine Messe hörte. Die Messe war fast vorbey, als ihre Augen auf einen Cavalier, der neben ihr einen Stuhl nahm, fielen, worauf sie sogleich ein lautes Geschrei erhub und in Ohnmacht sank. Man gab sich alle Mühe, ihr zu Hülfe zu kommen. Sie öffnete endlich die Augen, und der erste Gebrauch, den sie von ihrer Sprache machte, war, daß sie ihren Leuten befahl, den Herrn aufzusuchen, der die Ursach ihrer Ohnmacht gewesen war, und ihn zu beschwören, daß er zu ihr käme. Er war noch nicht aus der Kirche weg, und da er hörte, daß diese Dame ihn zu sprechen verlange, folgte er ihr nach. Ach meine Mutter, rief die unglückliche Witwe, als sie nach Hause kam, ich habe eben denjenigen erkannt, der die letzten Seufzer meines armen Mannes angehört hat! und sogleich beschwor sie den Officier, ihr von den Umständen einer so traurigen Begebenheit Nachricht zu geben. Der Officier konnte nicht begreifen, wie ein Frauenzimmer, die er niemals gesehen hatte, ihn kennen konnte. Er bat sie um ihren Namen, und stutzte, als er ihn gehört hatte. Inzwischen erzählte er ihr, wie ihn ein ungefährer Zufall an den Ort geführt hätte, wo ihr Gatte verwundet worden war, und wo er ihm Hülfe zu leisten gesucht hatte. »Ich sahe ihn sterben, setzte der Fremde hinzu, und ob er mir gleich unbekannt war, so konnte ich mich doch nicht enthalten, gerührt zu werden, da ich sahe, daß keine Hofnung übrig war,[22]ihn zu retten. Ich verließ ihn, sobald er gestorben war, ohne zu wissen, wer er seyn mögte; aber Ihr Name, den er bis auf den letzten Seufzer aussprach, prägte sich meinem Gedächtnisse tief ein, und ich habe mich dessen sogleich wieder erinnert, sobald Sie mir ihn sagten«. Eine solche Erzählung konnte nicht geschehen, ohne daß sie vielmal durch Thränen des unglücklichen Weibes unterbrochen wurde, und der Fremde gerieth ins größte Erstaunen, da sie ihm die geträumten Umstände von dem Ende ihres Mannes mit vollkommener Deutlichkeit beschrieb. Er erkannte den Bach, die Bäume, seine Stellung und die Lage des Sterbenden, sogar seine Züge selbst waren so ähnlich, daß er sie nicht verkennen konnte*). 3

Fußnoten:

1: *) Ich würde diesen Traum für einen in der That schwer zu erklärenden Traum halten, wenn man nur wüßte, was man so selten bey dergleichen Erzählungen weis, ob die ganze Sache buchstäblich wahr sey. Die Unsicherheit und Ungewißheit des lieben historischen Glaubens steht der Wahrheit der eingetroffenen Träume und Ahndungen eben sowohl entgegen, als das Raisonnement des Psychologen, der aus Gründen der Vernunft jene nicht zugeben kann. <P.>

2: *) Aus diesem Umstände erhellet, daß doch eine Gefahr, z.B. herumstreifende Diebe oder Mörder, vorhanden war. Wie natürlich war es daher nicht, daß sich das zärtliche Weib aus ängstlicher Besorgniß so etwas vorstellen konnte, wovon sie hernach träumte.
P.

3: *) S. Allgem. Magaz. der Natur, Kunst und Wissenschaften 8ter Theil. a <P.>

Erläuterungen:

a: Vorlage: Anonym 1756. Dieser Aufsatz bezieht sich im Titel auf eine französische Vorlage in Le Nouveau Magasin français ou Bibliothèque instructive et amusante, August 1751 (nicht ermittelt).

[23]

Zur Seelennaturkunde.

1.

Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten.

Jenisch, Daniel

Wir hören seit ein Paar Dezennien so viel von wunderthätigen Männern, weissagenden Weibern, geistersehenden Philosophen, aus den Gräbern heraufbeschworner Verstorbenen, daß wir beynahe glauben sollten, es sey irgend ein mesmerischer Dämon aus den höhern Regionen auf unsern Erdball herabgestiegen, und habe eine Menge grosser und kleiner Köpfe unsrer Zeitgenossen durch einen geheimen geistigen Magnetismus desorganisirt. Eine Erscheinung, die uns auf der Stufe der Aufklärung, zu welcher wir uns durch so viele Kämpfe hinaufgearbeitet haben, eben so befremdend seyn muß, als die Aerzte darüber erschrecken, daß alle ihre sorgfältigen Beobachtungen, und mit unendlicher Mühe der Natur abgelernte Gesetze und Wege, durch einen magnetisirenden Mesmer, wie durch einen aus der Maschine hervorspringenden Gott, verwirrt und über den Haufen geworfen werden.

[24]

Man sage nicht, »es habe zu allen Zeiten und in allen Jahrhunderten Schwärmer, Geisterseher, Wahrsager und Wunderthäter gegeben. Unser Jahrhundert unterscheide sich von den übrigen nicht sowohl dadurch, daß es anders handle, als vielmehr, daß es mehr und anders sehe, als jedes der andern; daß es sich selbst mehr kenne. So viele von allen Seiten her aufgesteckte und selbst bis in die verborgensten Winkel getragene Lichter machten nur, daß die hie und dort herrschende Finsterniß um so viel auffallender erscheine«.

Ich glaube das anerkannt große Heer der Gläubigen und Anhänger, die ein Lavater, ein Cagliostro, ein Gaßner, ein Mesmer unter ihrer Fahne schon so lange führten und noch führen, und von denen man ohne alle Hyperbol sagen kann, daß sie in aller Welt zerstreut sind; der entschiedene Scharfsinn und philosophische Geist so vieler, die diesen Herren in so großer Menge sich angeschlossen und noch täglich anschliessen; der geglaubte vortrefliche Charakter, die große und feine Weltklugheit, und großen Talente eines Lavaters, — der demohnerachtet der größte Schwärmer seines Jahrhunderts ist; — alles dieses könnte, glaube ich, Antwort genug auf jenen Einwurf seyn, und die Aufmerksamkeit rechtfertigen, die der denkende Kopf diesem Phänomen widmet. Es läßt sich zum wenigsten so viel daraus schließen, daß entweder neue und gefährlichere Quellen der Schwärmerey sich ge-[25]öffnet; oder auch, daß die gewöhnlichsten Ursachen derselben mit verstärkter Kraft auf unsere Zeitgenossen würken.

Der Geist des Menschen ist kein sich selbst bestimmendes, oder ursprünglich und aus sich selbst handelndes Wesen. Er sieht, denkt, will und handelt immer so, wie er von außen her, durch Umstand und Zufall bestimmt wird. Er ist sehr wenig an sich selbst, er wird allemal, was er ist. Er gleicht einer Pflanze, die in ihrem Keim Geschmack, Geruch und Farbe desjenigen Erdreichs aufnimmt, auf welchem sie wächst. Er ist an sich selbst ein Leeres, und ist nur damit versehen, womit Zeit, Raum und Zufälligkeit seiner Existenz ihn versorgen, — und hat daher auch allemal, daß ich so sage, Geruch und Duft seines Zeitalters, seines Jahrhunderts. »Damals dachten, damals handelten die Menschen so oder so«, sagt vielmehr: damals mußten sie so denken, so handeln.

So wie demnach der Naturlehrer ein nie bemerktes, oder häufiger als gewöhnlich sich zeigendes Phänomen der Atmosphäre aus dem damaligen Grade der Wärme und Kälte, der Dichtigkeit oder Dünheit der Luft, der Menge und der Gattungen der Dünste und ihrer Mischung zu erklären unternimmt; eben so laßt uns auch die Ursachen jener geistigen Influenza, und des ansteckenden schwärmerischen Humors unseres Jahrhunderts aus die-[26]sem Jahrhundert selbst, der Geschichte und Entstehungsart seiner Bildung, und allen übrigen Zufälligkeiten desselben zu entwickeln suchen. —

Erst aber wollen wir den Begriff von Schwärmerey festsetzen. Worte werden wie Münzen unter anderm Gehalt ausgegeben, als sie wirklich haben, und in unserm Zeitalter der flüchtigen Modejournale, der leichtsinnigen Schöngeisterey und der halbverdauten Toilettenlectüre jeder Art ist vielleicht der willkührliche oder unwillkührliche Mißbrauch eines so oft genannten Worts mehr als jemals zu besorgen, zumal wenn der ihm untergelegte Begriff ein Begriff des Verhältnisses, d.h. einer von denen ist, die nur durch das mehr oder minder bestimmt werden. Hume hat in seinem Versuch von den Wortstreitigkeiten gezeigt, daß bey den meisten philosophischen Streitigkeiten Begriffe dieser Art zu Grunde liegen, a und von dieser Gattung ist, wie wir gleich sehen werden, der Begriff von der Schwärmerey.

»Der Mensch schwärmt«, sagen wir von einem andern, dessen Ideen durch einen Rausch, oder andere Art von Betäubung der Seele über einander geworfen und in Taumel gesetzt werden, und den wir nun eine unzusammenhängende Ideenreihe hervorbringen hören. Die Seele eines solchen Menschen befindet sich in dem Zustande des Halbwachens. Die Ideen, die sie zusammensetzt, [27]sind aus der wirklichen, die Zusammenstellung selbst ist aus der idealischen Welt hergenommen, wie dies der Fall mit jedem Traum ist; aber mit dem Unterschiede, daß hier nach allen Aeußerungen des körperlichen Mechanismus die Seele der wirklichen Welt mehr als der idealischen nahe zu seyn scheint. Der Grundsatz, auf welchem in dergleichen Fällen sich unser Urtheil stüzt, beruht auf folgender Ideenreihe: Wir bedienen uns zum Behuf des gemeinen Lebens bey dem Uebergange der Begriffe zu Urtheilen desjenigen Grades von Anstrengung, der die Seele in einem Zustande der Gemächlichkeit läßt. Ideenverknüpfungen also, die diesen Zustand der Gemächlichkeit unterbrechen, sind uns im Umgange des gesellschaftlichen Lebens unangenehm, und erregen entweder Ahndung höherer Geistesfähigkeiten, oder auch widrigenfalls, wenn sie zu auffallend, rasch und sonderbar sind, Verdacht einer schwärmerischen Ueberspanntheit. Daher sind auch die Reden und Einfälle eines launigten Menschen, mit dessen Charakter wir entweder noch gar nicht bekannt sind, oder der sich vielleicht heute zum erstenmal uns von dieser Seite zeigt, allemal gewissermaßen verdächtig, und erst nach einer mit sich selbst verbundenen Reihe von Gedanken und Einfällen entscheiden wir uns, ihm den Namen eines Schwärmers, oder eines witzigen Kopfs zu geben. Ein Beweis von dem, was ich vorher sagte, daß der Begriff von Schwärmerey ein Verhältnißbegriff sey, und daß [28]außer so vielen andern Zufälligkeiten auch selbst die jedesmalige Ideenlage des Urtheilenden über die Bedeutung desselben entscheide.

Ja selbst die ersten Anwandelungen von Wahnsinn (den man vielleicht nicht ohne Grund eine continuirliche Schwärmerey nennen kann) benennen wir, solange das Verwirren und Ineinanderwerfen der Ideen noch nicht herrschend geworden ist, mit dem Namen der Schwärmerey, und die Verwandschaft des Genies mit dem Wahnsinn, auf die Shakespears Hamlet winkt, ergiebt sich aus dieser letztern Bedeutung mit der oben angeführten zusammengenommen von selbst.

In einer gelindern Bedeutung brauchen wir das Wort Schwärmer von Plan- und Projectmachern und andern Leuten der Art, die irgend eine Idee mit dem Grade der Lebhaftigkeit denken, der mit dem gewöhnlichen Ideengange unverhältnißmässig ist; wenn sie z.B. bey einem auszuführenden Plane oder Entwurf eine Reihe nothwendig an einandergeketteter Folgen, große Aussichten, unausbleibliche Vortheile da sehen, wo wir, nach der gewöhnlichen Art zu urtheilen und zu schliessen, dergleichen gar nicht sehen; wenn ihnen Wahrscheinlichkeit, höchste Gewißheit; bloße Möglichkeit, Realität; Gedanke Thatsache ist, und alle ihre Schlüsse und Urtheile sich auf diese täuschende Verwechselung gründen.

[29]

Betreffen diese zu lebhaft gedachten und mit übertriebener Wärme bearbeiteten Ideen Dinge von Wichtigkeit, z.B. menschenfreundliche Vorschläge, praktische Aussichten, oder Plane zum Wohl der Menschheit; so erheben wir den liebenswürdigen Schwärmer zu einem liebenswürdigen Enthusiasten. Sind es aber Kleinigkeiten, oder überhaupt nur sehr eingeschränkt interessirende Dinge, wofür sich der Kopf eines Menschen erhitzt; so zeichnen wir ihn mit dem Namen eines Fantasten.

Geht der Schwärmer (vorzüglich in Sachen des theologischen Lehrsystems) so weit, daß er Gott und Religion in sein Interesse hineinflicht, und mit Hintansetzung alles dessen, was gerecht, gut und edel unter den Menschen heißt, den irdischen Hindernissen trotzet; dann erhält er den Namen Fanatiker.

Diese Aeußerungen der Schwärmerey, die so mannigfaltig und dem ersten Ansehn nach von einander verschieden sind; aber wie wir nachher bemerken werden, nur zu leicht sich einander erzeugen — wie entstehen sie, wie können sie selbst bey großen weltklugen Leuten herrschendes Ideensystem werden? —

Die menschliche Seele ist durch ihre Organisation fähig, aus der fortgehenden Reihe ihrer Ideen irgend eine abzusondern und auszuheben, und zu dem anfangenden Gliede einer neuen Kette zu ma-[30]chen. Wenn es uns daher versagt ist, Ideen nach Willkühr zu schaffen, oder auch nur zu gewünschter Zeit beliebige Bilder vor dem innern Auge, wie in einer Laterne magica, vorüberzuführen; so können wir doch die jedesmalige Ideenmasse, die Augenblicke der Betäubung oder Ueberraschung ausgenommen, nach Willkühr richten und stellen, und dem innern neugebildeten Creiße der sich associirenden Ideen seinen Mittelpunkt geben, ja sogar davon einige herbey rufen, die ohne dies diesen Creiß für jetzt nicht berührt haben würden. Alles dies geschieht durch einen verstärkten Grad der innern Selbstthätigkeit. (Dieses primum mobile des gesamten geistigen Systems in der lebendigen Welt.) Das Gedächtniß belebt sich zu neuen Erinnerungen, die Imagination stellt alle ihre Anschauungen in hellerm und stärkerm Lichte dar, der Witz verknüpft mit größerer Schnellkraft die homogenen Intuitionen. Die Seele sitzt unter ihren Ideen wie eine Spinne in der Mitte ihres Gewebes. Was sie von allen Seiten her in allen Weiten um sich herum sieht, oder empfindet, wird ihr Stoff zu dem geistigen Gewebe; jeder neue und lebhafte Begriff, jedes frischere Bild dient ihm, Farbe und Einschlag zu geben. So wie also nach der alltäglichen Erfahrung der Mensch immer mehr Thier als Geist ist, und durch seine sinnliche Organisation seyn muß, sowie er sich immer mehr von den untern Seelenkräften mechanisch hinziehen, als von den obern vernünftig leiten läßt, mehr durch [31] viele dunkle Ideen, als eine klare, mehr durch ihre Zahl, als ihr Gewicht, mehr durch Anschauungen der Imagination, als durch Gründe der Urtheilskraft determinirt wird; so kann also jene gespanntere Thätigkeit der untern Seelenkräfte wie eine Art von Verschwörung wider die obern, wider Vernunft und Urtheilskraft angesehen werden. Zufällige Homogenitäten des Witzes gelten in diesen Momenten der Seele für Urtheile, und starke lebhafte Anschauungen für Gründe. Was Wunder, wenn sie bey der Eingeschränktheit ihres Fassungsvermögens in ihre selbgeschaffene idealische Welt vertieft, das Auge von der wirklichen weggewendet hat, oder wenn sie allen gewöhnlichen Maaßstab des Urtheilens verachtet, da ihre eigenen Ideen denselben schon bey sich selbst führen, und durch ihre Lebhaftigkeit und starke Bilder über Realität, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit entscheiden.

Nach dieser Erklärung ist also kein Zweifel, daß nicht die Schwärmerey in dem Hirn eines jeden Erdensohns, sey's an dieser oder jener Faser, irgendwo ihr Spinnengewebe hängen habe. Der Mensch ist keiner starken Leidenschaft, keiner tiefen Empfindung fähig, ohne eine Anwandelung von Schwärmerey. Jeder stolze unüberwindliche Vorsatz erzeugt und behauptet sich durch sie. Sie ist die Gespielinn der Leidenschaft jeder Art, und die innere mitfolgende Begleiterinn jeder höhern Würksamkeit der Seele. Ein Cato darf ihr ohne Erröthen einen [32]Theil seines erhabnen Patriotismus verdanken, und die Socraten wären ohne sie vielleicht nur halb so groß.

Wenn der entzückte Dichter die Muse vom Himmel zu sich herunterfleht, wenn er von dem Deus in vatibus redet, oder von der feyerlichen Wonnestunde der Begeisterung spricht, dann meint er nichts anders, als jenen Zustand der gespanntern Selbstthätigkeit, den wir so eben schilderten. Dieser verdankt er seine frischen mit lebendigem Colorit gezeichneten Bilder, seine seelentreffenden Züge, den weit aussehenden, unter den arbeitenden Händen sich erweiternden Plan, den immer neu zufließenden Reichthum in der Ausbildung seines Gedichts, die ganze Ansicht und Darstellung der Natur in ihrem festlichen Gewände. Eben daher schreibt sich jenes innige Interesse und die unwiderstehliche Bezauberung für das Product seines Geistes, das Feuer, womit er daran arbeitet, und die süsse Vergessenheit seiner selbst, und alles Wirklichen um ihn herum. Seine ganze Existenz scheint sich in diesen Augenblicken auf diese einzige Idee zu concentriren, und nur mit Anstrengung und Mühe denkt er sich in die verlassene wirkliche Welt zurück.

Eben dies ist auch die Geisteslage der Entdecker, Erfinder und Reformatoren jeder Art. Eine einzige Idee mit hoher Lebhaftigkeit gedacht, mit allen verwandten Ideen geschwängert, nach allen Seiten [33]gewandt, aus jedem Gesichtspunct beschaut, macht die Columbe, die Copernicus, die Luther, die Leibnitze und Cante. Die unerschütterliche Ueberzeugung, daß sie trotz aller Einwürfe und Widersprüche recht sehen und urtheilen, die unwiderlegbare Gewißheit, daß es ihnen gelingen müsse und gelingen werde. Der Muth, die Standhaftigkeit und Ausdaurung in Kämpfen und Mühseligkeiten sind Folgen des edlen hohen Selbstbewußtseyns, welches durch das Gefühl der mit ungewöhnlicher Thätigkeit arbeitenden Seelenkräfte erzeugt, unddurch eine Art von Illusion, die der auf sich selbst gehefteten Seele nur allzu gewöhnlich ist, auf die Größe,Wichtigkeit, Richtigkeit und endliche Durchsetzung der zu erfindenden, oder zu unternehmenden Sache übertragen wird.

Wer sieht nicht hieraus, daß ganze Völkerschaften, daß die Menschheit manchen erschütternden Geniusschwung, der sie aus hundert- und tausendjährigem Schlummer erweckte, und wie durch einen gewaltsamen Stoß auf einmal zu einer Höhe empor hob, zu welcher dieselbe ohne dies noch Jahrhunderte hindurch vergebens aufgeschauet haben würde, jenem Keim zur Schwärmerey in der menschlichen Seele zu verdanken habe; — ein offenbarer Beweis, wie die Meisterhand der Natur oft die wichtigsten Phänomene, in der Geisterwelt sowohl als in der physischen, an die feinsten Fäden anknüpfe, [34]indem, wie wir sehen, jene Riesenschritte der Erfindungen und jene Kühnheiten der stolzesten Menschenseele, großen Theils auf der so leichten, so leise entschlüpfenden Täuschung beruhen, daß wir unser denkendes Subject mit dem gedachten Gegenstande, die Idee mit der Sache vermengen.

Noch muß ich anmerken, daß die oben bemerkten Grade der Schwärmerey, Enthusiasmus, Fantasterey und Fanatismus durch einen sehr feinen Organismus zusammenhängen, und wie electrische Funken, wenn leichtere Ideen nicht ins Mittel treten, sich eins an dem andern entzünden. Lasset den enthusiastischen Schwärmer für seine weit aussehende Entwürfe erwünschten Fortgang finden, und widersetzet euch ihm in Kleinigkeiten, und ihr werdet sehen, wie er selbst auf Kosten der Vernunft darauf bestehen, und aus einem in himmelweiten sehenden Enthusiasten ein engherziger Fantast werden wird. Mischet in seinen Character, wie dies immer so verträglich mit dergleichen Character ist, Ehrgeitz und Herrschsucht, und der schwarze Fanatismus lauert mit seinem ganzen Gefolge im Hinterhalte.

Wir sind jetzt, glaub ich, ziemlich vorbereitet zu einem vollständigen Begriff von der im eigentlichsten Sinn also genannter Schwärmerey, dem Ideal unseres Jahrhunderts, welches, wie jedes andere, gemeiniglich unzählige Verehrer und Anbeter von der einen, und heimliche Belacher von der andern Seite hat.

[35]

Der neueste Philosoph der Deutschen, der die Vernunft und ihre Vermögen mit einem beynahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es bewiesen, daß dieselbe ein unerläßliches Bedürfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht Vernunft seyn könne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnlichen Organisation uns möglichen Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen. Diese Quelle hat der seit mehr als ein Jahrtausend hindurch herrschende, oft bestrittene und eben so oft wieder erneuerte und verfeinerte Dogmatismus der Philosophen aller Nationen und aller Jahrhunderte, — eine Art von Schwärmerey, die um so viel gefährlicher war, weil sie durch ihre Natur die scheinbarsten und überredensten Gründe für die Realität ihrer Träumereyen vorzubringen wußte, und überdem noch obenein das Richtmaaß zur Entscheidung zwischen Traum und Wahrheit, Idealität und Würklichkeit, nehmlich Verstand und Vernunft in ihren Quellen verfälschte.

Unterdessen ist es in der Geschichte der Menschheit durchgängig bestätigt, daß das, was die Philosophen durch lange Reihen weit hergeholter De-[36]monstrationen thaten, lange vor ihnen schon der uncultivirteste Naturmensch durch eine natürliche Täuschung seiner Einbildungskraft gethan hatte; und eben so gewiß ist es, daß dem Philosophen zur Seite der gemeine Mann, ohne von dem ersten gemißleitet zu seyn, durch einen gleich natürlichen Gang des Menschensinnes über die nehmlichen Begriffe, wenn gleich nicht schwärmte, oder vernünftelte, so doch wenigstens wahrscheinlich ahndete, oder schwankend sceptisirte. —

Nachdem der oben genannte Weltweise die Schwärmerey der Philosophen so richtig erklärt und dargestellt hat; so wollen wir dies in Rücksicht der letztern um so viel mehr thun, da selbst jene sich auf diese, so wie allemal Vernunft auf Sinnlichkeit gründet, und der menschliche Geist in seinem Fortschritte von der letztern zu der erstern aufstieg.

Die menschliche Seele äußert darin einen characteristischen Unterschied und auffallenden Vorzug vor den thierischen Instincten, daß, sobald sich nur die frühesten Keime ihrer Entwickelung zeigen, sie nicht bey dem durch die äußern Sinne erhaltenen Eindruck stille stehen bleibt, sondern durch einen eigenthümlichen Mechanismus von dem Gegenwärtigen zum Zukünftigen, von dem Würklichen zum Möglichen, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Würkung zur Ursach übergeht. Diese Willkührlichkeit, womit die Seele des Menschen ihre [37]gesamten Eindrücke und Begriffe behandelt, (ich mögte sie beynahe die Freyheit des Verstandes nennen,) gründet sich auf eine sehr erklärbare Weise auf das dem Menschen eigenthümliche Abstractionsvermögen, nach welchem kein sinnlicher Eindruck, bloß Eindruck, d.h. Reaction des angeschauten oder empfundenen Gegenstandes ist, sondern schon immer etwas Idealisches, das heißt unsinnliches an sich hat. Aber eine weitere Erörterung hierüber dürfte vielleicht hier am unrechten Orte stehen.

Die Imagination, diese immer rege Energie und gleichsam ewig gebärende Zeugungskraft der Seele, läßt dieselbe wegen jenes idealischen Ueberganges von der Würklichkeit zur Möglichkeit, von der Ursach zur Würkung nicht lange in Unruhe, und weis das Leere des sich eröffnenden neuen Feldes der Erkenntniß mit ihren Schöpfungen nur zu leicht auszufüllen. Das Abstractionsvermögen selbst, diese geistigste aller Energien in der Seele, welchen wir alle jene hohen Ausbildungen der Vernunft zu danken haben, wird von der Imagination als einer sinnlichen und eben deswegen herrschenden Seelenkraft dazu angewandt, und ich mögte sagen, gemißbraucht, um durch ihre Absonderungen, Läuterungen und Verfeinerungen der unmittelbaren Eindrücke der Sinne jener ihre Zusammensetzungen zu befördern. Die Imagination nehmlich bildet durch [38]diese Art den angeschauten Urbildern gewisse Copien nach, denen sie jetzt durch Vergrößerungen und Zusatz an der Quantität, jetzt durch Verwechselungen und Umänderungen der Qualität den scheinbaren Anstrich von Urbildern, und zwar größern und vollkommnern Urbildern giebt, als diejenigen selbst sind, welche ihnen als Anschauungen und würkliche Empfindungen zum Grunde liegen. Da also bey jedem vorkommenden Urtheil über die letztern, die erstern als Erkenntniß- und Erklärungsgründe derselben der Seele nothwendig mit vorschweben; so ist dies ausser den bey unserer Erklärung der Schwärmerey angeführten Gründen, die hier nicht weniger eintreffen, ein Grund mehr, um hier Bilder für Empfindungen, Idealitäten für Würklichkeiten zu halten.

Es ist hieraus klar, wie der menschliche Geist auf diesem Wege, den ihn keine Sophisterey, sondern die Natur mit eigener Hand geführt, die grossen Ideen von Gott, Religion, Geist, Uebersinnlichkeit und intelligibeln Welt, gefunden. Alle Philosophen, bis auf Mendelsohn herab, haben in ihren feinsten Speculationen nichts mehr gethan, als daß sie jene rohen Begriffe des wilden Naturmenschen geläutert und erhöhet haben, — und ein Malebranche sieht, hört und fühlt auf der höchsten Stufe der Speculation gerade so den Urheber aller Dinge, als ein Adam nach seiner ersten Entwickelung aus dem thierischen Stande, denselben in jeder [39]blühenden Blume sieht, in Frühlingslüftchen säuseln, im schreckenden Donner wandeln hörte. (Eine Bemerkung, welche einige der neuesten unsrer Weltweisen, vor allen andern aber der scharfsinnige Verfasser der Resultate der Jacobischen und Medelssohnschen Philosophie beherzigen sollten, wenn sie in der Geschichte der Menschheit jene großen Begriffe schon sehr früh, und oft so erhaben ausgebildet finden, und darüber als ein aus natürlichen Ursachen unerklärbares Phänomen staunen, so daß sie als die erklärtesten Sceptiker, der Vernunft zum Trotz, eine Art von despotischen Zwangsphilosophie einführen, und uns die Offenbarungen der Bibel als eine unbezweifelbare göttliche Dogmatik aufdringen wollen.)

Auf diese Art führt also die Natur den Menschen selbst zur Schwärmerey; aber es giebt noch andere künstliche Quellen derselben. —

Wir dürfen nicht alles Wißbare, ja nicht einmal alles Wissenswürdige von der Natur kennen, wir dürfen nur die vordersten Aussenseiten ihres unermeßlichen Tempels von ferne sehen, um uns zu überzeugen, wie höchst eingeschränkt unsere Erkenntniß der Natur, und wie unzulänglich für die Befriedigung der wichtigsten und letzten Erkenntniß-Bedürfnisse sie ist. Von der ersten Ursache der Natur, ihrem Wesen, Eigenschaften, Einflusse auf die Welt und Zusammenhange mit uns, — [40]welcher Neuton, oder Haller, oder Leibnitz kann auch nur dem gemeinen Mann, der ihn darum befrägt, befriedigende Antwort geben? Und eben so unsern großen Wunsch für Fortdauer und Unsterblichkeit, welcher Socrates, welcher Mendelssohn kann ihn hinlänglich begründen oder stärken? —

So wie also über diese unzurücktreiblichen Probleme die Vernunft von der Natur selbst zu einem ewigen Scepticismus verurtheilt zu seyn scheint; so greift sie um ihrer endlichen Selbstbefriedigung willen gleichsam zu gewaltsamen Mitteln, und will der Natur ihre großen, unenthüllbaren Geheimnisse selbst abzwingen; tritt ihre eigene Fackel mit Füßen, um in einer undurchdringlichen Nacht desto heller zu sehen, wähnt jede gewöhnliche Erkenntniß nach Naturgesetzen für blind, oder wenigstens kurzsichtig; findet mehr Beruhigung in Unbegreiflichkeiten, als im Begreiflichen; läßt statt der Urtheils- die Einbildungskraft würken; ahndet und muthmaßt, statt zu sehen, glaubt, statt zu prüfen. Undso entsteht dann eine Welt von Unbegreiflichkeiten, Wunderkräften, die man durch den Schleier, den die Natur wenigstens vor unser gegenwärtiges Auge darüber geworfen zu haben scheint, in jeder natürlichen,ja als ganz alltäglichen Erscheinung sichtbar hervortreten sieht: — glaubt Gott zu verehren, und kniet vor Affen; traut auf Wunder, und läßt sich [41]durch Unwissenheit und mißbrauchende List hintergehen; sieht Geister aus der andern Welt, und merkt nicht auf die Taschenspielerkünste des Geisterbeschwörers.

Eine solche Stimmung der Gemüther befördert nichts so sehr als ein Buch, welches — einzig in seiner Art — seit undenklichen Jahren auf die Achtung der Welt Anspruch macht, und, wenn man es nicht genauer studirt, in eben diesem Geiste, und mit der Absicht geschrieben zu seyn scheint, um jene Denkungsart zu befördern. Seine Begriffe von Gott, Geistern, Engeln, Wunderkräften werden der einmal aufgeregten fruchtbaren Einbildungskraft bey unaufgeklärten Menschen nur um so viel mehr Stoff zu neuen schwärmerischen Ideenverbindungen geben, und die Schwärmerey wird an ihm grade das finden, was sie sonst am wenigsten zu haben pflegt — Gesetzbuch.

Braunschweig.

Daniel Jenisch.


Erläuterungen:

a: Hume 1764. 'Of Some Verbal Disputes' erschien als neuer Anhang zum ersten Mal in dieser neuen von Hume überarbeiteten Ausgabe seiner Enquiry Concerning the Principles of Morals.

<Nachtrag zu: Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten.>

Pockels, Carl Friedrich

Man erlaube mir, daß ich zu dieser Abhandlung, welche sehr viel Wahres, Richtiges und Treffendes in sich enthält, noch folgendes hinzu setzen darf:

Der Grund, der in unsern Zeiten so sehr einreissenden Religionsschwärmerey liegt offenbar in [42]mehrern Umständen, die jetzt — nothwendig und zufällig zusammengekommen sind, und bey ihrer sehr wahrscheinlichen Fortdauer unsern Nachkommen eine unglückliche, — ich will nicht sagen, allgemeine Barbarey der Vernunft drohen. 1) Das ernste Studium der Alten, und der Philosophie hat in unsern Tagen sehr aufgehört. Unsere jungen Leute treiben nicht viel Reelles mehr, und verschwenden jetzt einen großen Theil der Zeit, welcher zu richtiger Ausbildung ihres Verstandes angewandt werden sollte, mit Lesung matter, empfindsam geschriebener Romane, die den Geist erschlaffen, und ihren Empfindungen eine schiefe, idealische Richtung geben. Ein Umstand, der bey der einreissenden Religionsschwärmerey mehr als geschieht, erwogen werden müßte. Wenn die edeln und reinen Gefühle durch jene Lectüre verstimmt, verzärtelt und zu sehr versinnlicht worden sind, wenn der Ton einer gewissen Empfindeley der herrschende in der Menschenseele geworden ist, wenn dadurch die Einbildungskraft angezündet, und das Nervensystem geschwächt worden ist; so ist nichts natürlicher, als daß die Religionsschwärmerey, welche man auch Religionsempfindeley nennen könnte, sehr leicht und geschwind Wurzel fassen muß, sobald sich die Seele auf geistige Gegenstände hinrichtet. Man weis überhaupt schon, wie nahe schwärmerische Empfindungen der Liebe mit schwärmerischen Gefühlen der Religion verwandt sind, und wie leicht sie in einander über-[43]gehen können. Jene erstern werden offenbar zu sehr in unsern neuern Romanen angefacht, und dadurch wird fast immer mit der Grund zu diesen gelegt. — 2) Die Parthey der Religiösen, Pietisten, Schwärmer und Geisterseher hat zwar von jeher bald aus gutgemeinten Absichten, bald aber auch aus schwarzem Sectengeist und dummer Proselytensucht ihren Anhang zu vermehren gesucht; — aber in den jetzt so sehr verschrienen Zeiten des Unglaubens meinen jene gläubigen Herren vornehmlich hervortreten zu müssen, damit das Gebäude der Religion nicht ganz über den Haufen falle. Sie haben daher nicht nur von neuem jene Träumereyen von Wunderkräften, Wunderglauben, mystischen Unionen mit höhern Geistern, Einwürkungen der Gottheit auf unsre Gefühle u.s.w. aufgewärmt, und mit großem Geschrey davon zu predigen angefangen; sondern haben noch weit schlauere Mittel zur Erreichung ihrer Absichten angewandt, und sind dabey nicht unglücklich gewesen. Sie haben die Großen und ihre Minister zu gewinnen gesucht, haben Männer von ausgebreitetem Ruhme und wilder Thätigkeit zu ihrer Parthey herüber gelockt, und was ihrem Ansehen erstaunlich viel und mehr, als man glauben sollte, genutzt hat, — haben die Herzen der Weiber durch Mittel, wodurch weibliche Herzen so leicht gefangen werden, gewonnen, davon ich sonderbare Beyspiele erzählen könnte, wenn hier der Ort dazu wäre. Mit [44]allen diesen Kunstgriffen haben sie die Ausstreuung mystischer Bücher verbunden, und sonderlich gewissen Arten von Menschen Aufschlüsse darin versprochen, die ihnen kein weltliches Buch, keine Philosophie verschaffen könne. — 3) Die jetzige, allgemein werdende, ausschweifende, nervenschwächende, empfindelnde Lebensart, der ungeheure Luxus, die damit verbundene fehlerhafte frühe Erziehung und Verzärtelung unsrer Generation haben einen sichtbaren Einfluß in den Hang zur Schwärmerey und Mystik. Der zu sehr sinnlich gewordene Mensch, der keine Kraft zum Denken mehr übrig hat, der gern seine Phantasie in sanften Gefühlen wiegt, und der jede Selbstuntersuchung fliehet, weil sie ihm lästig und unbequem wird, ergreift am liebsten ein Religionssystem, welches ihn gleichsam mit einer neuen Art Wollust nährt, und sein Gewissen durch eine erträumte mystische Gnade beruhigt. Man hat immer bemerkt, daß die Ausschweifendsten und sinnlichsten Menschen am leichtesten zur Schwärmerey übergehen, und sonderlich beym herannahenden Alter in die Arme eines Systems fliehen, worin sie sich am bequemsten über ihr vergangenes Leben betäuben können. Wie viele Menschen von dieser Art habe ich kennen gelernt! und wie bekannt ist es, daß die neuen Prediger der Schwärmerey durch diese sich sehr wichtigen und zum Theil bedenklichen Einfluß verschaft haben.

[45]

Diese und mehrere physische und psychologische — zum Theil auch politische Gründe haben vornehmlich der Schwärmerey in unsern Tagen Thür und Thor eröffnet, und man hat sehr Ursach, auf den geheimen, im Dunkeln schleichenden Fortgang dieser Pestilenz aufmerksam zu seyn. Der ruhige Denker wird freylich bey der zunehmenden Ausbreitung derselben, die durch so viele besondere, aber sehr thätige Secten befördert wird, immer Muth behalten; er wird sich damit trösten, daß die gesunde Vernunft und die ächte Tugend sich eigentlich nie ganz verlohren, sondern immer ihre Verehrer und Beförderer gefunden habe —; aber beunruhigen muß es ihn doch allerdings, wenn er bedenkt, wie schnell sich jene Krankheit auszubreiten anfängt, wie mächtige Anhänger, wie feine listige Prediger sie hat, und wie sehr sie sich zum Geiste unseres Jahrhunderts, unsrer Sitten und selbst zur Polemik unsrer Tage paßt, unter deren Streitigkeiten sie sich immer mehr und mehr ausdehnen wird. —

Die Schwärmer sind im gewissen Betracht, zumal wenn sie Beredsamkeit mit List verbinden, wie dergleichen mehrere bekannt sind, und wenn sie mit lebhaft empfindenden Leuten zu thun haben, unwiderstehliche Verführer. Die Sprache der Ruhe, Zufriedenheit und Gleichmüthigkeit, die aus ihren Worten und Mienen hervorleuchtet, und von der man so leicht auf eine innere glückliche Stille des [46]Herzens schließt; die herablassende, gefällige, herzliche Manier zu belehren, zu unterrichten, zu recht zu weisen; der hinreißende Ausdruck des Mitleidens, den sie gegen Verirrte, gegen sinnlich Lasterhafte selbst an den Tag legen; die Wahl ihrer Bilder, die leichte Versinnlichung der Religionswahrheiten, das beständige Hinweisen auf freudige Gefühle des Glaubens, die schlaue Accommodirung ihres ganzen Betragens, Denkens und Handelns nach der Phantasie ihrer Zuhörer, — alles dies schließt den Schwärmern leicht die Herzen der Menschen auf, und diese Herzen sind oft eher gefangen, als sie es noch glauben. Solchen guten gesalbten Menschen entdeckt man gern seine Gemüthsunruhen, um von ihnen als heiligen Propheten Gottes Ruhe und Tröstung zu erhalten. Man schenkt ihnen sein Zutrauen, weil sie es vor allen andern zu verdienen scheinen, und mit diesem bekommen sie gleichsam unser ganzes Herz in ihre Hände. Es kann nicht fehlen, daß ein empfindsamer Mensch nach einigem Umgang mit solchen Schwärmern, oder auch nur mit ihren Schriften oder Briefen eine gewisse Behaglichkeit in sich wahrnehmen muß, die ihm die Gültigkeit ihrer Ideen ausser Zweifel setzt. Der Angesteckte nimmt Bewegungen des Herzens, Empfindungen in sich wahr, die er vorher nie kannte. Er fängt an in sich selbst hinein zu schauen — und das, was freylich nur eine Aufwallung des Bluts, oder eine Täuschung der Phantasie war, für Würkungen einer [47]höhern Kraft zu halten, und was unmittelbar daraus folgt — die Welt ausser sich (die vielleicht vorher ihn nicht genug belohnte, seine Pläne zerstörte, seinen Stolz nicht nährte) zu verachten.

Er beginnt nun auch eine ganz andere Sprache zu reden, als andere vernünftige Menschen zu gebrauchen pflegen; — eine Sprache, die sorgfältig gewählt ist, seine feurigen Ideen ja nicht auszulöschen, sondern noch mehr anzufachen. Die Vernunft wird verachtet — weil sie — Vernunft ist, weil sie es gegen seine Phantasien zu disputiren wagt; die Philosophie wird eine eitle Wissenschaft genannt, und die Bibel zum einzigen lautern Erkenntnißgrunde aller Wahrheit gemacht. Hierin trägt der Schwärmer alle seine religiösen Tollheiten hinein, und beweist aus ihr das, was nimmermehr daraus bewiesen werden kann. Wer daran zweifelt, ist in seinen Augen ein verworfener Religionsverächter, und alle philosophische Tugend ein geschminktes Laster.

Daraus ist nun aber auch zugleich sichtbar genug, daß ein Mensch von allem andern leichter geheilt werden kann, als von religiöser Schwärmerey. Sie unterhält nicht nur seinen geistigen Stolz durch jede hohe Idee, die sie in ihm erzeugt; sondern mahlt ihm auch ein so erhabnes Bild von Glückseligkeit vor, daß er fast gar keinen freyen Willen — anders zu handeln übrig behält. Da er seinen Schatz, seine Gottheit gleichsam in dem Busen [48]trägt, und da er sich über die Welt so sehr erhaben glaubt; so bleibt ihm eigentlich kein unerfüllter Wunsch mehr übrig. Er hält sich für den glücklichsten Menschen — wenn ihm selbst äußere Glücksgüter fehlen; ja er rechnet ihren Mangel zu seinem Glück, und sieht auf die mit einer Art Verachtung herab, die sie besitzen.

P.

2.

Ein Traum.

Anonym

Weder in der Natur der menschlichen Seele, noch in den moralischen Eigenschaften der Gottheit scheint ein mehr als bloß wahrscheinlicher Beweis für die Unsterblichkeit unsrer Seele zu liegen. Darüber hatte ich mich einst mit meinem seligen Freunde bis um Mitternacht hin gestritten. Meine ganze Seele war voll von Gedanken über diesen Gegenstand, und ich ging mit einiger Unruhe über die Unbeweisbarkeit der Unsterblichkeit zu Bette.

Ich hatte noch nicht lange geschlafen, als ich zu träumen anfing, und mein Traum, an den ich noch mit Schrecken denke, war folgender:

[49]

»Ich fühlte, daß ich nicht lange mehr leben würde, meine Krankheit wurde bedenklich, und ich sahe mich endlich wirklich sterben. Welche Angst ich dabey ausgestanden, kann ich keinem Menschen beschreiben. Ich vergoß bittere Thränen über meinen eigenen Tod, und mein Blick hing mit einer schwermüthigen Stille an meinem Leichnam; — aber auf einmal war's, als ob ein heller Strahl der Ruhe und Hoffnung durch meine Seele dränge. »Ists doch nur dein hinfälliger irdischer Leib, dacht' ich, der da liegt, laß ihn verwesen, da ein weit edlerer Theil deines Wesens dir übrig geblieben ist«. Ich betrachtete nun meine Leiche nicht mehr mit dem vorigen Schaudern; aber es dauerte nicht lange, als es in meiner Seele auf einmal schrecklich trübe ward, ich verlohr meine ganze Fassung, und eine unbeschreibliche Angst überfiel mich von neuem. Wer weiß denn — so rief es mir im Innern meiner Seele zu, — ob deine Seele nicht mit dem Körper verweset, ob sie nicht aus ihm heraus fliegt und zerflattert. Bey dem letzten Gedanken empfand ich die schrecklichste Seelenqual, wovon ich vorher und nachher nie eine ähnliche Empfindung gehabt habe. In dem Augenblick erhub sich ein lichtes Wölkchen von dem Scheitel meiner Leiche langsam in die Luft empor. Mit innigster Sehnsucht sahe ich meiner Seele nach; aber immer mit der bangen schrecklichen Empfindung: ob sie wohl zerflattern würde — — und was geschah? ich sahe sie zerflattern; [50]aber in dem Augenblick war meine Seelenangst so stark geworden, daß sie mich wieder wach machte. Ich fand meinen Leib mit Schweiß über und über, und meine Wangen mit Thränen bedeckt, die ich während des Traums geweint hatte.

Sonderbar war hiebey die Empfindung, daß ich mich sowohl in als ausser meiner Leiche zu befinden glaubte, denn ich sahe mich erblaßt vor mir liegen, fühlte aber doch auch, daß es nicht meine Leiche war, die über sich selbst nachdachte; sondern ein anderes ausser ihr sich befindliches Wesen.«


Erlauben Sie mir, daß ich zu diesem Traume meines Freundes noch Folgendes hinzusetzen darf. Ich glaube nicht, daß wir je eine vollkommne Theorie der Träume werden entwerfen können, da die Geburten der Phantasie so unzählig vieler Gestalten fähig sind. Wir richten uns zwar im Traume nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens und Empfindens; aber doch nur in so fern, als ohne sie die Einbildungskraft gar nicht würken könnte; denn eigentlich hat sie über die Vernunft fast in jedem Traum die Oberhand. Wir denken eigentlich im Traume nicht, weil wir so denken wollen; sondern weil wir so denken müssen, indem die Einbildungskraft unsern Gedanken ihre Pfade vorzeichnet, die sie mechanisch nehmen müssen. Daher ist eigentlich [51]jeder Traum eine Art Raserey, welche aufhört, sobald die Vernunft nur zusammenhängende Ideenreihen herbeyführt, und unsere Einbildungskraft in engere Grenzen zurückweist, welches durch die Oeffnung der Sinne allemal geschieht.

Der vorher erzählte Traum war unmittelbar durch das Gespräch über Unsterblichkeit entstanden. Daß man sich sterben sieht, wohl gar im Traume gehenkt und geköpft wird ist nichts ungewöhnliches, ob es gleich jedesmal mit einer unangenehmen Empfindung verbunden ist. Daß dem Träumenden aber die Seele als ein Wölkchen erscheint, läßt sich wohl aus einer Jugendidee erklären, indem sich Kinder, auch wohl erwachsene Leute die Seele als ein Wölkchen oder Flämmchen vorzustellen pflegen, — weil man doch immer gern ein wenigstens luftiges Bild von einer Seele haben will. Der Gedanke: du vergehst ganz, mußte natürlicher Weise sehr bange Gefühle erzeugen, die keinem überhaupt fremd seyn können, welcher einmal über die Möglichkeit eines gänzlichen Vergehens nachgedacht hat.

Daß die Seele während des Traums einer größern Würksamkeit und Vergleichungskraft als im Wachen fähig sey, und mithin im Traum Ahndungen von zukünftigen Dingen bekommen könne, wie einige behauptet haben, ist ein höchst unpsychologischer Satz. Wir denken im Traum nach allgemeinen und unläugbaren Erfahrungen gewöhnlich viel [52]unordentlicher, als im Wachen, und sind daher in jenem Zustande weniger als sonst zum Erfinden und Erfahren neuer Begriffe aufgelegt. Auch wär es sonderbar genug, daß sich so wenig Menschen aus ihren Träumen jener größern Würksamkeit der Seele erinnern könnten, und daß die Natur grade diese größere Würksamkeit der Seele vor uns selbst verborgen haben sollte. <P.>

3.

Materialien zu einem analytischen Versuche über die Leidenschaften.

Pockels, Carl Friedrich

Bonnet schrieb einen analytischen Versuch über die Seelenkräfte. a Er zergliederte darin die Anfänge des menschlichen Denkens, wie man die einzelnen Theile eines Körpers anatomirt, er suchte die ersten Principien der Empfindungen Stückweise auf, und bildete daraus endlich ein Ganzes, welches der Seelenlehre eine ganz neue und sehr interessante Gestalt gegeben hat. Ich wünschte, daß einer unsrer großen Köpfe einen ähnlichen Versuch über die Leidenschaften schreiben möchte. In einem solchen [53]Versuche müßten die Leidenschaften gleichsam anatomirt, und in die einfachsten Bestandtheile der Empfindung und des Wollens zerlegt werden. Er müßte die genauesten auf bestimmte Erfahrungen gebauten Gründe enthalten, warum eine Leidenschaft jetzt so und nicht anders entstand; warum und wie sie sich mit andern vermischte, umtauschte, und neue Grade des Wollens hervorbrachte; welcher Grad und warum dieser Grad von Ideenlebhaftigkeit oder auch körperlichen Einflusses erfodert wurde, der Leidenschaft ihre eigenthümliche Spannung und Reizbarkeit zu geben. Vornehmlich aber müßte ein solcher Versuch zeigen, wie eine jede Leidenschaft endlich mit einem allgemeinen Princip des Wollens, so vermischter Natur sie auch seyn mag, zusammenhängt, und nach demselben ihre verschiedenen Gestalten, Schattirungen und Nüancen erhält. — Daß es ein solches allgemeines, und zwar einziges Princip des Wollens giebt, ist nicht zu läugnen, so sehr auch die alten und neuen Philosophen in den Hauptzweigen seiner Aeußerungen voneinander abgehen.

Um aber zu einer solchen analytischen Kenntniß der Leidenschaften zu gelangen, müßten wir vornehmlich die Aeußerungen derselben in sehr vielen, und auch zum Theil unerwarteten Fällen zu beobachten suchen. Dem aufmerksamsten Psychologen entwischen oft selbst die wahren Gründe eines Phänomens, [54]wenn er es bloß isolirt betrachtet, und nicht mit sehr vielen andern Phänomenen, äußern und innern Umständen des Denkens, Lagen und Veränderungen mehrerer individueller Zustände des Wollens vergleicht. Vorzüglich, muß er seine Aufmerksamkeit bey gemischten Leidenschaften verdoppeln, und die Differenz richtig zu finden suchen, die für die Natur der Leidenschaft herauskommt, wenn er das Passive von dem Activen abzieht.

Wir haben sehr viel Theorien*) 1 über die Leidenschaften, aber wenige berühren den eigentlichen Calculus der Empfindungen, welcher sich auf die kleinsten und ersten Elemente und Schattirungen der Leidenschaften erstreckt. Sie sind gemeiniglich zu allgemein, zu compendiorisch, als daß sie analytische Theorien genannt zu werden verdienten; vornehmlich aber haben sie den Fehler, daß ihre Verfasser nicht Anatomen genug waren, um das ganze Gebiet der Empfindungen, soweit der menschliche Scharfsinn reicht, physiologisch zu beleuchten. Es giebt keine einzige Leidenschaft, die nicht einen genauen Bezug auf unsern Körper und seine Bauart hätte. Alles Wollen wird durch den Einfluß des Bluts, der Lebensgeister, des Nervensafts und der körperlichen Ideenassociation bewürkt, und wir wer-[55]den daher ohne eine genaue Kenntniß des menschlichen Körpers nie eine analytische Theorie der Leidenschaften erwarten können. Von dieser Seite her ist überhaupt die Psychologie noch wenig bearbeitet, ob auch gleich hievon Versuche genug vorhanden sind. Wenn wir erst mit den feinsten Graden der Blutbewegung, die zum Anstoß einer Leidenschaft erfoderlich ist, mit den innern Eigenschaften der Nerveneindrücke und dem Zusammenhange materieller Ideen mit gewissen Gemüthsbewegungen, und überhaupt mit dem physiologischen Theile der Leidenschaften bekannter seyn werden, dann werden wir das Spiel derselben und die ganze Theorie ihres Würkens wie eine Aufgabe der Experimentalphysik berechnen können, wenn uns auch dabey immer noch der Uebergang von Materie zum Bewußtseyn, oder von Bewegung zu Idee ein Geheimniß bleiben sollte.

Ich habe mir vorgenommen, in dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde nach und nach Materialien zu einem analytischen Versuche über die Leidenschaften zu sammeln. Ich kann bey dieser Sammlung selbst noch keine Rücksicht auf eine systematische Ordnung nehmen, die jetzt ohnedem auch noch bey den ersten Anfängen dieser Materialien unnütz seyn würde. Ich liefere sie so, wie sie sich mir darboten, und überlasse einem künftigen Systematiker, sie nach seinen Absichten zu ordnen. Wenn ich bisweilen [56]hiebey meine Ideen über die Moralität einer Leidenschaft geäußert habe; — so scheint dies nun eigentlich nicht grade zu Materialien zu gehören, allein es scheint nur so; indem wir keine Leidenschaft ohne einen gewissen moralischen Bezug auf unser Seyn denken können, sobald wir sie als eine Willensäußerung eines vernünftigen Wesens denken.

Eigentlich hätte ich wohl von der Selbstliebe anfangen sollen, da sie nach einer genauen Zergliederung unsrer Empfindungen, als der erste physische und moralische Wollenstrieb unserer gesamten Thätigkeit angesehen werden muß; aber ich sage noch einmal, daß bey Sammlung bloßer Materialien noch nicht die Frage ist, ob sie in einer gewissen Ordnung liegen müssen. Auch könnte ich noch hinzusetzen, daß erst nach einer genauen Anatomie der Leidenschaften die Selbstliebe in der Theorie der Empfindungen als das erste Prinzip des Wollens erscheine, und als ein solches erkannt werden müsse, was auch die Vertheidiger der selbstständigen wohlwollenden Gefühle dagegen sagen mögen.

P.


Neid — Mißgunst —

Zu den an sich unangenehmen Gemüthsbewegungen, die in Rücksicht eines vernünftigen Wesens [57]außer uns undgegen dasselbe entstehen, rechnen wir den Neid. Wir beneiden einen andern, wenn wir ihm die Vorzüge seiner Ehre, seines Standes, seiner Kenntnisse, seiner Lebensart und seines Glücks überhaupt nicht wünschen; sondern sie gern selbst besitzen möchten; welches Letztere sonderlich der Charakter des Mißgünstigen ist. An sich ist der Wunsch des Selbstbesitzens nicht allemal mit dem Neide verbunden. Es giebt sehr viele Fälle, wo wir einem andern seine Vorzüge nicht gönnen, sie uns aber auch nicht selbst wünschen, weil wir das Lästige, Unbequeme und Gefährliche davon fürchten, oder auch unser Ungeschick dazu — was doch seltener der Fall ist — einsehen; oder wir können auch mit unserm Zustande so zufrieden seyn, daß wir das Glück eines andern zu wünschen, keine Ursach haben. Sehr oft geschieht es auch, daß wir einen andern gleichsam in der Seele eines dritten beneiden. Z.B. eines guten Freundes, welcher nach unsrer Meinung das Glück des erstern viel mehr verdient hätte.

Uebrigens mögen wir aber den Neid betrachten, von welcher Seite wir wollen; so liegt allemal Selbstliebe, Selbstinteresse bey ihm zum Grunde, so versteckt es auch auf unsere Leidenschaft würken mag. Wenn wir einem andern seine Vorzüge nicht gönnen, sie uns auch selbst nicht wünschen; so werden wir doch dabey von einer dunkeln, uns [58]täuschenden Vorstellung von den Vorzügen jenes Glücks geleitet, wodurch der andre mehr Gewicht und Ansehn, wenigstens zu bekommen scheint, als wir ihm wünschen, und wir wünschen ihm dieses vermöge jener dunkeln Vorstellung nicht, weil wir eine Verdunkelung unsrer Vorzüge, eine Herabsetzung unseres Ichs, wenigstens in unsrer Einbildung, befürchten.

In den allermeisten Fällen wünschen wir uns aber wirklich in den Besitz der Vorzüge, die ein anderer vor uns voraus, oder auch gemein hat — denn wir denken uns die seinen immer größer, als sie sind, — der Neid erhöht eben so leicht das Glück des andern in der Einbildung, als er sich quält, das Bild jenes Glücks zu verkleinern. Wir denken uns lebhaft in die glückliche Lage des andern hinein, ob gleich der andere das Angenehme und Reitzende derselben hundertmal weniger empfinden mag, als wir von ihm glauben. Wir setzen uns in die Stelle desselben; — denken uns, wie wohl ihm zu Muthe seyn müsse, wenn er Ehrenbezeugungen und Lobsprüche einärndet, Gelder einstreicht, die Freuden und Bequemlichkeiten des Lebens ruhig und nach Gefallen genießen kann, mit angesehenen Leuten umgeht, mächtige Gönner und Freunde hat, Freude an seinen Kindern erlebt. — Wir denken uns gleichsam in die Seele des Mannes, den keine Sorgen drücken, der von keinen trüben Aussichten in die [59]Zukunft beunruhigt wird, dessen Pläne alle glücklich von statten gehen, anstatt daß vielleicht kein einziger von den unsrigen zu Stande kommt. Dieses Sichhineindenken in die glückliche Lage eines andern, und der dunkle oder deutliche Vergleich derselben mit der unsrigen ist allemal der erste Anfang jedes neidischen und mißgünstigen Gefühls, so wie die Fortsetzung desselben Gefühls davon abhängt. Je eitler, eigennütziger, ehr- und geldgeiziger wir sind, desto stärker werden wir von dem Glücke eines andern zum Neide und zur Mißgunst gereizt werden, und dieser Neid wird oft in wirklichen Haß übergehen, wenn uns gleich der andere nie beleidigt, sondern sogar Wohlthaten erwiesen hat.

Unser Neid wird uns gerecht dünken 1) wenn der andre seine Vorzüge nicht zu verdienen scheint, 2) wenn wir ihm seine erhabnen Eigenschaften des Geistes, seine Talente beneiden.

Im ersten Fall wird der Dummkopf, der sich vor uns emporgeschwungen, und durch ein günstiges Geschick viel mehr äußere Vortheile und Vorzüge erlangt hat, als wir durch unsere Verdienste je erreichen werden; der Reiche, welcher ohne eigenen Fleiß und Anstrengung, vielleicht durch einen ungefähren Zufall, vielleicht auch durch einen ehrlosen niederträchtigen Streich sein Glück gemacht hat; der geehrte und gerühmte Mann, welcher durch allerley Kunstgriffe und listige Mittel den erschlichenen [60]Beyfall der Großen und der Menge genießt; der Fremdling, welcher in seinem Vaterlande nichts galt und gelten konnte, uns Aemter und Würden nimmt, die wir eher zu verdienen glaubten, — unsern ganzen gerechten Neid zu verdienen scheinen, und das um so viel mehr, je eine größere Idee wir von unsern Talenten und Verdiensten hatten, und je mehr unsere Absichten und Schicksale mit den seinigen in Collision kamen.

Im zweyten Fall kommt uns der Neid gerecht und billig vor, weil wir den andern um eines Seelenguts willen beneiden, was sich ein jeder Mensch vorzüglich wünschen muß. Die Wichtigkeit des gewünschten Gutes scheint die Leidenschaft des Neides wirklich zu rechtfertigen, und dieser Neid scheint uns wieder Ehre zu machen, weil das ein vortrefflicher Mensch seyn muß, der die erhabnen Eigenschaften des Geistes eines andern zu besitzen wünscht, und weil wir voraussetzen können, daß jener Neid ihn antreiben werde, sich eben so auszubilden. Auch können noch andere hinzukommende Empfindungen in uns den Neid rechtfertigen; — ein edles Gefühl der Reue, daß wir es noch nicht so weit gebracht haben; — eine menschenfreundliche Begierde, daß wir eben so viel Nutzen wie jener durch seinen Kopf stiften möchten u.s.w.

Man rechnet zur Natur dieser Leidenschaft nicht ohne Grund das Bestreben, dem, den wir benei-[61]den, in seinem Glücke hinderlich zu seyn, ihm den Genuß desselben zu verbittern, seine Eigenschaften zu verkleinern, seine Freunde gegen ihn einzunehmen u.s.w. ob dies gleich eigentlich mehr die Natur der Mißgunst ist. Der eigentliche Neid bey edlen Menschen geht gewiß so weit nicht; aber demohnerachtet läßt sichs selbst bey einem edlen Charakter wohl denken, daß er eine gewisse überraschende Freude empfindet, wenn der Beneidete Hindernisse seines Glücks antrift. Diese Freude ist eine psychologische Folge der Leidenschaft, über die kein Mensch in dem Augenblick der Ueberraschung Herr seyn kann. Sie scheint uns gleichsam eine Genugthuung für das Mißvergnügen zu seyn, welches wir über die Vorzüge eines andern empfanden, und wir können uns ihr in gewissen Augenblicken, wenn wir nicht über unsere Zunge und Ausdrücke wachen, so sehr von ihr hinreissen lassen, daß wir in Gefahr gerathen, von andern für sehr schlecht gehalten zu werden, so rein auch unser Charakter seyn mag. Sonst treffen wir hierbey einen frappanten Unterschied in dem Benehmen eines verständigen, gebildeten und moralischen Mannes, und eines rohen, ungebildeten und unmoralischen an. Jener wird seinen Neid zu verbergen suchen, wird ihn nicht durch Verläumdungen und Verkleinerungen des andern an den Tag legen, und selbst Mitleiden mit dem Beneideten haben, wenn er unglücklich werden sollte; dieser wird mit einer triumphirenden Miene [62]von dem Unglücke des Beneideten sprechen, seine Mißgunst durch Beschimpfungen und ein mürrisches Wesen offenbaren, und seine hämischen, satyrischen und ungerechten Bemerkungen über ihn nicht unterdrücken können.

Man wird es selten finden, daß sich Menschen einander ihrer Tugenden wegen beneiden, und wenn sie es thun, geschieht es mehr in Rücksicht der glücklichen Folgen gewisser Vortheile des Lebens, die daraus entspringen, als ihrer moralischen Güte an sich selbst. Der Grund hievon ist nicht schwer zu entdecken. Derjenige, welcher selbst kein tugendhafter Mann ist, kann das Glück eines andern, der es ist, — ein Glück, das seinen innern nicht grade in die Augen fallenden Gehalt hat, gar nicht beurtheilen, weil er vorher selbst tugendhaft seyn müßte. Der gute Mensch, als guter Mensch betrachtet, kann daher jenem kein Gegenstand des Neides seyn, und dies um so viel weniger, da das äußere Glück guter Menschen selten beneidenswürdig ist, oder doch beneidenswürdig scheint. Daß ein Tugendhafter einen andern Tugendhaften beneidet, (diese Begriffe enthalten nichts widersprechendes in sich, weil es wirklich einen dergleichen edlen Neid geben könnte,) läßt sich auch nicht wohl annehmen, weil doch ein jeder Mensch von seinem moralischen Ich bey aller Bescheidenheit, die wir ihm geben, einen deutlichern Begriff, als von dem eines andern haben[63] muß, und sich nicht gern unter den andern in Absicht seiner tugendhaften Handlungen setzen wird. Hiezu kommt noch der Gedanke: daß der andere Tugendhafte nicht durch bloßen Zufall, durch ein unverdientes äußeres Geschick, sondern durch eigene Anstrengung, eigenen Fleiß das ist, was er ist, und also das zu seyn verdiene, was er ist, was bey einem äußern Glück uns so selten der Fall zu seyn scheint. — — Noch mehr aber der Gedanke, daß wir ihm, wenn seine Tugend auch sehr beneidenswerth seyn sollte, hierin ähnlich werden können, wenn wir nur wollen. Ueberhaupt nimmt der Neid gemeiniglich in dem Grade ab, als wir das Glück des beneideten leicht erreichen zu können glauben — als überhaupt mehr jenes Glück von unserm freyen Willen abhängt.

Wir können den Charakter eines andern beneiden, allein deswegen beneiden wir die Tugenden des andern noch nicht, — weil diese immer schon eigentlich mehr von unserm freyen Willen abhängen, jener hingegen nie ganz von dem bloßen Willen des Menschen abhängen kann. Wir wünschen uns oft den ruhigern, festern und unerschütterlichen Charakter, die zufriedenere Art zu handeln, die wir an einem andern bemerken, besonders wenn wir von der Lebhaftigkeit unsrer Leidenschaften hin und her geworfen werden, und wenn diese Lebhaftigkeit uns leicht zum Vorwurf oder Schaden gereichen kann.

[64]

Nach diesen allgemeinen vorausgeschickten Sätzen, will ich auf einzelne psychologische Phänomene kommen, welche man bey den Neidischen und seiner Leidenschaft bald mehr bald weniger zu bemerken Gelegenheit hat.

a) Der eigentliche Neid setzt eine gewisse Gleichheit oder Aehnlichkeit des Standes, der Geburt, der Lebensart und des Geschlechts in den meisten Fällen voraus, wenn er gegen einen andern entstehen soll, weil nehmlich in diesen Fällen nicht nur die menschlichen Wünsche und Pläne am leichtesten collidiren, sondern weil wir auch das Verdienst des andern genauer abwägen zu können glauben. Wir beneiden eigentlich einen Monarchen, der viele Heere und Länder hat, nicht, weil jene Gleichheit oder Aehnlichkeit fehlt, weil wir sein Glück unmöglich erreichen können, und weil unsere Ehre, Wünsche und Geschäfte selten mit den seinigen in Collision kommen, oder auch weil ein gewisses helles, oder auch dumpfes Gefühl von Ehrerbietung den Neid zurückhält; hingegen beneidet der Gelehrte den Gelehrten, der Künstler den Künstler, der Handwerker den Handwerker, weil tausend Fälle zusammentreffen können, wo sich ein beiderseitiges Interesse durchkreuzt, und einer dem andern im Wege steht. Ich rechne zu diesem Handwerksneide; — ein Wort, welches ich eben so gut von dem Gelehrten Neide gebrauchen kann etc. — vornehmlich eine [65]nähere Bekanntschaft mit der Person des Beneideten, und die Furcht, daß er mir wohl Abbruch thun könne. Versetzt den Glücklichen in einen Ort, wo ich ihn nicht zu kennen Gelegenheit habe, so viel mir auch von seinen Vorzügen vor erzählt werden mag; oder entfernt ihn einige hundert Meilen von mir, daß mir seine Gegenwart nicht mehr im Wege steht, und mein ganzer Neid wird aufhören, wenn auch jener Glückliche an dem andern Orte noch viel glücklicher werden sollte.

b) Wir beneiden dem andern Geschlecht seine Vorzüge nicht; aber desto stärker beneiden sich Frauenzimmer unter einander.

Die Vorzüge des andern Geschlechts kommen wieder mit den unsrigen nicht so oft in Collision, als die der Männer; — wir wünschen sie auch nicht besonders sehr, und sie würden sich nicht einmal immer für unser Geschlecht passen. Hiezu kommt ein uns gewissermaßen angebornes Gefühl von Superiorität, welches durch unsere Geschäftsart, durch körperliche Kräfte, durch Kunst- und Wissenschaftsfleiß noch mehr unterhalten wird, — ferner auch jenes zärtliche Interesse, welches wir an den Schicksalen und Wünschen des andern Geschlechts vermöge der Einrichtung unsrer Natur nehmen, wodurch den Empfindungen des Neides entgegengearbeitet wird. Auffallend ist die Heftigkeit dieser Leidenschaft bey Frauenzimmern wegen der Lebhaftigkeit ihrer [66]Empfindungen überhaupt, und ihres Interesses an tausend eiteln Wünschen insbesondere. Schon ein besserer Putz, ein tieferes Compliment, das eine andere bekommt, kann den Neid mit allen seinen Qualen in ihnen erzeugen, Schönheit, Gabe der Coquetterie, Anbeter, Schmeicheleyen, Liebe und Eheglück sind eben so viel Veranlassungen zu jener Leidenschaft, die sie öfterer, als bey Männern geschieht, zu dem giftigsten Hasse verleiten kann. Ich glaube mich nicht zu irren, daß die meisten Feindschaften zwischen Frauenzimmern einen wenigstens entfernten Grund in dem Neide haben, und daß die Veränderlichkeit ihrer Freundschaft unter einander sowohl, als die Medisance in ihren mannigfaltigen Gestalten sich von ihm vornehmlich herschreibt.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) Worunter die Preisschrift des Hrn. Cocsius ohnstreitig die vorzüglichste ist. b

Erläuterungen:

a: Bonnet 1770/1771. Originaltitel: Essai analytique sur les facultés de l'âme (1760).

b: Cochius 1769.

4.

Der philosophische Landchartenhändler.

Dillenius, Friedrich Wilhelm

Am 10ten Merz dieses Jahres kam ein Landchartenhändler zu mir, und bot mir Landcharten an. Da er diejenigen nicht mehr hatte, welche ich wollte, [67]bot er mir Malers Anleitung zur Algebra an. a Ich antwortete ihm, daß ich sie nicht nöthig, indem ich schon ein solches Buch habe. »Welches«? fragte er. Ich. Clemms b — und — Er. Clemms ist nicht so vollständig und deutlich, als Malers. Ich. Ich habe auch ein vollständigers. Er. Etwa Wolffs? c Ich. Nein, Eulers. d Er. So — das kenne ich auch. Ich. Versteht Er denn die Algebra, mein Freund? Er. Den Maler da verstehe ich, auch den Wolff und Clemm. Ich. Wer hat Ihn denn die Algebra gelehrt? Er. Ich habe, halt! keinen Lehrer darin gehabt, sondern sie selbst gelernt. Ich. Wer hat Ihm denn die Bücher dazu gegeben? Er. Ich bin nach und nach dazu gekommen. Ich. War Ihm denn die Algebra nicht zu schwer? oder hat Er vorher einen andern Theil der Mathematik gelernt? Er. Zuerst hab ich Hübners Geographie e bey einem Kiefer, der auch ein Freund von Büchern war, gesehen, um die ich ihn gebeten und sie gelesen habe. Ich. Hat Er denn auch Landcharten dabey gehabt? Er. Anfangs keine. Aber da ich im Buche fand, daß man Landcharten dazu haben müsse, so ruhete ich nicht, bis ich einige auftrieb. Dann las ich den ganzen Hübner, und suchte die Länder, Städte und Dörfer etc. auf. Aber die Striche und Linien machten mir am meisten zu schaffen. Und doch hätte ich diese gern vor den Ländern kennen gelernt. Ich. Wie lernte Er denn endlich dieselben kennen? Er. [68]Ich fand bey dem Buchbinder, der mir alte Landcharten gab, Reccards Lehrbuch, f und Pfennig's Geographie, g und daraus lernte ich sie kennen. Endlich sahe ich ebendaselbst auch Büsching's Geographie, h und fragte ihn, wo man sie haben könne? Er wieß mich an einen Antiquarius, wo ich mehrere Theile davon wohlfeil bekam, und nun, so viel mir möglich war, darin studirte. Ich. Hatte Er denn schon Landcharten genug? Er. Nein, aber ich ruhete nicht, bis ich so viel hatte, als ich brauchte. Ich. Wo nahm Er denn das Geld dazu her? Er. Ich entlehnte es — und als die Zeit kam, daß ich es wieder heim geben sollte, ging ich in der Gegend herum, und suchte meine Landcharten und Bücher wieder zu verkaufen. Ich verkaufte sie auch wirklich so gut, daß ich alles entlehnte Geld wieder heimgeben konnte, und noch etwas übrig behielt. Davor kaufte ich mir neue Landcharten, und da ich sie gebraucht hatte, verkaufte ich sie wieder. Und so gerieth ich auf diesen Handel. —

Jetzt schlug meine Schulstunde. Ich brach daher die Unterredung mit dem Verspruch ab, daß ich ihm das nächstemal mehr abkaufen wolle, worauf er seines Wegs, und ich in meine Schule ging. Gegen Abend aber wurmte mir der Gedanke: »Du möchtest doch diesen besondern Mann noch weiter ausforschen«. Ich ließ also sehen, ob er noch hier wäre, und ihn ersuchen: er möchte nochmals [69]mit einigen Landcharten zu mir kommen. Endlich kam er, und entschuldigte sich, daß er nicht eher gekommen seye, weil er in seiner Schlafkammer gelesen, und der Wirth gemeynt habe, er seye schon fort. Ich. Was hat Er denn gelesen. Er. Hier Wolfs Logik. i (Er zog sie aus der Tasche.) Ich. Wie gefällt sie Ihm? Er. Recht wohl. Ich. Warum? Er. Weil sie so deutlich ist. (Wir discurirten lang von dieser Logik, und er erzählte mir, daß er alle deutsche Schriften von Wolff habe.) Ich. Hat Er auch andre Logiken gelesen? Er. Ja — Reimarus j Feders k — aber in der letztern haben mir die angebohrnen Begriffe, die er behauptet, Zweifel gemacht. Ich. Feder behauptet keine angebohrnen Begriffe, wie Er hier, (ich zeigte ihm die Stelle) selbst lesen kann. Er. Es ist wahr. Ich habe mich confundirt, und gemeynt, Feder behaupte selbst das, was er hier in der Note von andern anführt. Sonst gefallen mir Feders Bücher, besonders seine Untersuchungen über den menschlichen Willen, l recht wohl. Nur ist mir seine Logik, Metaphysik etc. zu kurz: auch bin ich nicht überall gleicher Meynung mit ihm, besonders bey der Seelenvereinigung mit dem Körper. Ich. Welche Meynung nimmt Er denn an? Er. Leibnizens vorherbestimmte Harmonie. Ich. Hält Er Leibnizen für den Erfinder derselben? Er. Ja. Ich. Geulinx hat sie dreyßig Jahre vor Leibnizen in einem Buch, das den Titel hat: [70]γνώϑι ςεαυτόν schon vorgetragen, auch das Exempel von zwey Uhren gebraucht. Er. (aufmerksam) So — — Leibniz ist also nicht der Erfinder der vorherbestimmten Harmonie? Aber — sie gefällt mir eben doch besser, als des Cartesius Meinung, die man — — (ich half ihm ein) die Hypothese der gelegenheitlichen Ursachen nennt. Ich. Warum? Er. Weil daraus folgte, daß Gott der Urheber aller Sünden wäre, und das will mir nicht ein. Ich. Was hat Er denn wider die Hypothese des physischen Einflusses einzuwenden? Er. Daß ich nicht begreifen kann, wie ein Geist in dem Körper würket. Ich. Nimmt Er denn nichts an, was Er nicht begreifen kann? Er. Als Philosoph nicht. Denn — ein Hauptsatz in der Metaphysik heißt: nichts ohne zureichenden Grund. Und ein anderer: es ist nicht möglich, daß ein Ding zugleich sey, und nicht sey. (Weil ich ihn bloß ausforschen wollte, fuhr ich weiter fort:) Welchen Beweis hält Er denn für den bündigsten für das Daseyn Gottes? Er. Den ontologischen und cosmologischen. Ich. Wie formirt Er den erstem? Er. Von Ewigkeit her war etwas, von dem dieses Universum hervorgebracht wurde. Denn, wenn ich nicht annehme, so folgt, daß es aus nichts, oder deutlicher, von selbst entstanden sey, welches absurd ist —. Denn aus nichts wird nichts. Und durch einen Zufall kann es nicht entstanden seyn— denn — nichts ist ohne zureichende Ursache. Es [71] bleibt also etwas Ewiges — oder Gott. Dieser alte Beweis nebst dem cosmologischen überzeugt mich besser, als der neue Mendelssohnische.

Unter diesen Gesprächen wurde es Nachtessenszeit. Ich ersuchte ihn, mit mir vorlieb zu nehmen, welches er auch nach einiger Weigerung that. Während dem Essen fragte ich ihn: wann er denn studire? (Dies Wort brauchte er selbst.) Er antwortete mir: unter dem Marschiren von Ort zu Ort, wenn es schön Wetter ist, da nehme ich einen Paragraphen, (denn ich lerne vorher einen recht verstehen, ehe ich weiter gehe,) lese ihn etlichemal durch — stecke dann mein Buch wieder in die Tasche, und denke über das Gelesene so nach, daß ich meine schwere Küste nicht mehr auf dem Buckel spüre. Wenn ich denn einen mathematischen oder philosophischen Satz recht im Kopf habe, dann lese ich weiter. Bey Nacht im Bett repetire ich's, und stelle mir dann ganze Seiten von Zahlen, Figuren u.s.w. so lebhaft vor Augen, wie sie im Buch stehen. Da freut mich's, wenn ich alles so deutlich beweisen kann. Ich. Dies ist wahrhaftig eine vortrefliche Art zu studiren, die zwar von vielen erkannt, aber von wenigen, besonders Jünglingen, beobachtet wird. Sonst würden wir gewiß mehr junge gründliche Gelehrte haben. Manche kommen erst durch viele Umwege und Fehltritte dahin, wo Er gleich war. Er. (lächelnd) Ja, anders thue ichs nicht, bis ich eine Sache recht [72] deutlich verstehe. Aber dies hat mich schon viel Kopfzerbrechens gekostet, besonders in der Mathematik, die ich vorzüglich liebe. Z.E. in der Trigonometrie konnte ich mich lang nicht in die Sinus und Tangenten finden — aber ich ließ nicht nach, bis ich alles verstand — und — nun gehts, wie geschmiert. Ich habe auch schon selbst ein Büchlein über die Planimetrie und Stereometrie geschrieben, worin ich vieles deutlicher ausgeführt habe, als ich es in manchen Büchern fand. Ich. Hat Er das Büchlein nicht bey sich? Er. Nein — ich hab's zu Bruchsal an einen Geistlichen, der mir's abschwäzte, vor drey Groschen verkauft. Ich. Das ist nicht viel — wenn es gut war. Wie stark war es denn? Er. Es war etwa zwölf Bogen stark. Ich werde es aber, sobald ich Zeit habe, wieder schreiben, denn ich habe es ganz im Kopf, und getraue mirs von Wort zu Wort wieder herauszuschreiben. Ich. Wann hat Er's denn geschrieben? Etwa auch auf der Reise? Er. Nein! Das habe ich zu Hause geschrieben, wenn ich zur Frühlingszeit zu Haus war, und meine Weinberge geschafft hatte. (Er ist ein Weingärtner, wie sein Vater und seine Brüder.) Auch habe ich manches am Sonntage gezeichnet und geschrieben, wenn andre meines Gleichen im Wirthshaus waren. Ich. Warum legt Er sich denn so sehr auf diese Sachen, die Er nicht nöthig hat? Er. Weil dies mein einziges Vergnügen ist, wenn [73]ich allemal wieder einen mathematischen Satz herausgebracht habe, und recht deutlich beweisen kann, o! das freut mich!! Ich. Hat sein Vater nichts dagegen, wenn Er zu Haus so viele Bücher liest? Er. (Lachend:) Nein — er liest selber gern, aber nur geistliche Bücher, die ich ihm allemal mit heim bringe. Von den Meinigen aber mit den vielen Strichen und Buchstaben will er — nichts. Auch lachen mich andre Weingärtner aus, wenn sie mich über solchen Büchern antreffen. Aber, ich lasse sie lachen, und denke, sie verstehens nicht besser. Mein Bruder liest gern in Hübners Zeitungs- ich aber lieber im Naturlexicon. m Aber da wird oft auf Walchs philosophisches Lexicon n gewiesen — und das möchte ich doch auch sehen!! Ich. Er soll es sehen, ich will's gleich bringen. Doch kamen wir wieder in Discurs von seinen Weinbergen, der Qualität seines Weins u.s.w. daß ich vergaß, es gleich zu holen. Ihm aber mochte es wohl nicht aus dem Sinne gekommen seyn, denn bald erinnerte er mich wieder an mein Versprechen. Da ich's brachte, verschlang er's fast, und sagte nach einiger Zeit: dies Buch müsse er auch haben — nächstens wolle er sichs anschaffen. Ich. Kann Er sich in seinem Geburtsort mit niemand über seine Lieblingswissenschaft unterhalten? Kommt Er nicht zum Pfarrer? Er. Nicht viel. Ich glaube auch nicht, daß er ein Liebhaber von der Mathematik und Philosophie ist — denn — er läßt [74]sich in kein Gespräch mit mir darüber ein — — —. Ich. Trägt ihm sein Landchartenhandel auch was ein? Er. Ich bin schon damit zufrieden. Denn in den acht Jahren, in welchen ich ihn treibe, habe ich mir doch vom Profit etliche Weinberglen kaufen können, die ich selbst baue, und, wenn dies geschehen ist, wieder meinem Handel nachgehe. Ich. Wollte Er mir nicht seinen bisherigen Lebenslauf und eine weitere Beantwortung meiner Fragen schriftlich aufsetzen? Er. O ja — ich will auch einen mathematischen Aufsatz dazufügen — und dann mitbringen, wenn ich wiederkomme. (Erhalte ich etwas, so werde ichs bekannt machen.) Indessen wurde es spät, und er nahm mit den Worten von mir Abschied, daß er sein Versprechen gewiß halten wolle.—

Sein Aeusseres verspricht gar nicht viel. Im Gegentheil hält man ihn für einen einfältigen Mann, wenn man bloß aus seinem Gesicht und seiner rauhen Sprache urtheilen will. Es bestätigt sich also auch hier, was Herr Prof. Meiners in seinen Briefen über die Schweiz schreibt, daß scharfe und feurige Augen nicht allemal ein Genie, und matte und schwache nicht allemal einen Dummkopf anzeigen. o

In den Osterferien, 1787.

Fried. Wilh. Jon. Dillenius,
Oberpräceptor zu Urach im Wirtemb.

Erläuterungen:

a: Maler 1761. Erschien in vielen neuen Auflagen.

b: Clemm 1764. Erschien in vielen neuen Auflagen.

c: Wolff 1710. Erschien in vielen neuen Auflagen.

d: Wahrscheinlich ist Euler 1770 gemeint.

e: Johann Hübners Lehrbuch (Hübner 1693) erfuhr zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod zahlreiche Neuauflagen. Sein gleichnamiger Sohn bearbeitete eine Neuauflage unter neuem Titel (Hübner 1730/1731), die ebenfalls vielfach neu aufgelegt wurde.

f: Reccard 1765.

g: Pfennigs Werke erfuhren jeweils zahlreiche neue Auflagen (Pfennig 1765, Pfennig 1769.)

h: Büschings bahnbrechendes Werk (Büsching 1754-1792) erschien in vielen Ausgaben und Raubdrucken. Das Werk wurde nach seinem Tod von anderen weitergeführt.

i: Wolff 1713, auch Deutsche Logik genannt. Erschien in vielen Auflagen.

j: Reimarus 1756.

k: Feder 1769.

l: Feder 1779-1793.

m: Reales Staats- und Zeitungs-Lexicon [...] Nebst einem zweyfachen Register und Vorrede Herrn Johann Hübners erschien ab 1704 in Leipzig, bearbeitet von Sinold genannt von Schütz, ab der dritten Auflage 1708 mit dem Titel Reales Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexicon. Das Werk wurde aber allgemein Johann Hübner zugeschrieben, dessen Namen als Einziger auf dem Titelblatt stand. Ab 1712 erschien als Ergänzung Curieuse Natur-Kunst-Gewerck- und Handlungs-Lexicon, bearbeitet von Paul Jacob Marperger, das ebenfalls eine Vorrede von Hübner auf dem Titelblatt aufwies und ebenfalls als 'Hübners Lexicon' bekannt wurde.

n: Walch 1726.

o: Meiners 1784-1790, Bd. 1, S. 307.

[75]

5.

Eine Traumahndung.

Feddersen, Jakob Friedrich

Der Herzog von **, ein Mann von hellem Geist und vielen Kenntnissen, ein pünktlich strenger Freund der Wahrheit — ein ächter christlicher Bidermann unter den Fürsten — schon frühe durch Leiden, und im männlichen Alter durch körperliche Beschaffenheit, bisweilen zur Aengstlichkeit gestimmt — hatte im Jahr 1769, in der Nacht vom 8ten zum 9ten October, die sehr lebhafte Empfindung und Ahndung im Traum: es würde ihm am folgenden Tage ein fürchterliches Unglück begegnen. Sobald er am Morgen seine Familie zur gewöhnlichen gemeinschaftlichen Unterhaltungs- und Lesestunde bey sich versammlet sahe, erzählt er derselben seinen Traum, und die dadurch in seiner Seele erregte Unruhe. Er bittet alle, an dem Tage nicht auszufahren oder auszugehn, weil ihm bange sey, es möchte einem von ihnen ein Unglück begegnen.

Alle scherzen über den Traum, suchen ihm die Aengstlichkeit auszureden, und bitten ihn, nur eine Stunde in dem Lustwäldchen, das nahe am Schlosse liegt, spazieren zu dürfen. Der gute Fürstenvater erlaubt es; alle kommen glücklich nach Hause — [76]und lächeln am Abend und in der Folgezeit oft über die durch den Traum ihm verursachte unnöthige Sorge. — —

Ein ganzes Jahr vergeht ihm und seiner ganzen frommen Fürstenfamilie in aller Glückseligkeit und Heiterkeit des Lebens. Im Anfange des Octobers 1770 wird seine Gemahlinn*) 1 von einer Prinzessinn wohl entbunden. Nach der Niederkunft befindet sie sich in erwünschten Umständen, ihre Kräfte nehmen täglich zu, und am 9ten October fühlt sie sich so munter und gestärkt, daß sie zum erstenmal aus dem Wochenbett aufsteht, um eine Stunde im Sopha zu sitzen. Ihrem guten Gemahl eine Freude zu machen, läßt sie ihm sagen: er möge in ihr Zimmer kommen, er würde sie wieder gesund und munter ausser dem Bette finden.

Freudig eilt er die Treppe herunter — aber — indem er in ihr Zimmer tritt — sieht er sie sterben — noch einmal lächelt sie ihm zu — und nun sinkt sie todt in seine Arme. —

[77]

In der Minute, da sie ihm die frohe Nachricht geben ließ, hatte der Schlag sie getroffen. —

Genau ein Jahr nachher wurde also erst der Traum erfüllet.

Fußnoten:

1: *) Größe und Güte der Seele waren durch ihren ganzen Charakter verwebt. Von ihren edlen Gesinnungen und christlichen Handlungen, davon ich selbst Jahre lang ein täglicher Zeuge gewesen bin, sind schon manche Beyspiele in den Archiven der guten Menschheit aufbewahrt worden.
Anmerk. d. Eins.

6.

Solamen miseris socios habere malorum. a

Pockels, Carl Friedrich

Wir glauben eine Beruhigung, einen Trost darin zu fühlen, daß andere mit uns zugleich unglücklich sind.

Da ein vernünftiges, mit Wohlwollen geschaffenes Wesen, dergleichen der Mensch ist, eigentlich kein Vergnügen an den Leiden andrer vernünftiger Wesen finden kann*); 1 so fragt sich, worin denn nun eigentlich obige Erfahrung ihren psychologischen Grund hat, und wie die Seele zu diesem Gefühl [78]kommt, welches doch ursprünglich der Rechtmässigkeit unsrer Empfindungen entgegen zu stehen scheint?

Ich glaube, das ganze Phänomen läßt sich in den meisten Fällen, die ich freylich nicht einzeln angeben kann, aus der Natur des Mitleidens erklären, obgleich auch noch andere physische und moralische Nebenursachen, die ich unten angeben will, dabey Einfluß haben können.

Wenn wir selbst leiden, die Leiden mögen nun entweder von uns, oder von andern herrühren; so werden gemeiniglich unsere wohlwollenden Empfindungen weicher, lebhafter und sanfter gemacht. Wir scheinen jetzt den Menschen näher anzugehören, mit ihren Bedürfnissen, Denkungsarten, Schicksalen in einem genauern Verhältniß zu stehen, und fühlen uns geneigt, ihre Leiden, wenn sie auch vorzüglich selbst daran Schuld seyn sollten, mit mehrerer Schonung und Billigkeit zu beurtheilen, als wir sonst zu thun gewohnt waren. Diese Weichheit unsrer Gefühle, sie mag nun entweder in unserm Körper, oder in der Association unsrer Empfindungen, oder im Körper und in der Seele zugleich liegen, macht, daß wir bey den Leiden anderer um so viel mehr gerührt werden, wenn wir selbst unglücklich sind. Wir scheinen einige Augenblicke unsern eigenen Schmerz zu vergessen, indem wir uns den ihrigen vorstellen — und desto deutlicher vorstellen, je mehr alsdenn unsere Gefühle lebhaft sind. Unsere [79]Vorstellungen werden von uns auf ein anderes leidendes Object hingewandt, und in dieser durchs Mitleiden bewürkten Zerstreuung unsrer Ideen und dem Umtausch unsrer Gefühle liegt vornehmlich jenes: solamen miseris socios habere malorum des alten lateinischen Dichters.

Man wende mir nicht ein, daß das Mitleiden selbst eine unangenehme Empfindung sey, und weil es sich auf die Idee eines uns dargestellten leidenden Objects gründe, dadurch unmöglich eine verminderte Vorstellung meines eigenen unglücklichen Zustandes hervorgebracht werden könne. Die Natur des Mitleidens besteht in einer gemischten Empfindung, so wie die meisten Affecten, die sich auf Gegenstände ausser uns beziehen; nehmlich in einem wirklich unangenehmen Mitgefühl mit dem Unglücklichen, indem wir uns in seine Stelle hineinsetzen, und uns für ihn interessiren; und in einem wehmüthigen Bewußtseyn dieser Empfindung und ihres moralischen Werths, wodurch wir gleichsam in jedem Moment der Empfindung uns für belohnt halten.

Das wirklich unangenehme Mitgefühl ist wieder nicht ganz eine reine Empfindung, indem es allemal erst durch eine schnelle Vergleichung unseres Zustandes mit dem eines andern, also in einem, obgleich oft versteckten Bezug auf uns selbst entsteht.

[80]

Wenn wir auf uns genau Acht geben, kann es uns nicht schwer werden, zu bemerken, daß in dem Mitleiden, sonderlich bey feinen, gebildeten Seelen, eine Art Wollust liegt, die uns oft so gern und so lange bey den Gedanken an einen Unglücklichen verweilen läßt, besonders wenn wir selbst etwas zur Traurigkeit geneigt sind, und der Unglückliche uns interessirt. Wir hören einem Klagenden oft lieber zu, als einem Frölichen. Wir fühlen es deutlich, wie sich bey jenen unsre Empfindungen immer mehr heben, sich immer mehr zu ihm hindrängen. Endlich ergießt sich die Thräne des Mitleids aus unserm Auge, und es ist uns sehr wohl bey diesem Opfer, welches die Natur der leidenden Menschheit bringt.

Diese wohlthätige Empfindung der Seele, die den Menschen so weit über das Thier hinaushebt, mag nun entstehen woher sie will, aus dem stillen Bewußtseyn: daß wir jetzt eine sehr wichtige, sehr heilige, den Bedürfnissen der Menschheit so angemessene Pflicht ausüben; oder daher, daß wir uns, obwohl auf eine dunkle Art, vorstellen, wie wohl es uns war, wenn andere Mitleiden mit uns hatten, oder aus einer geheimen sympathetischen Bewegung unsrer Nerven, oder aus andern Ergüssen des Herzens und Geistes, genug, es bleibt allemal ein süsser Schmerz, und dieser ist es, welcher uns unsere eigenen Leiden selbst versüßen hilft, wenn wir uns [81] neben uns andre Unglückliche denken, zumal wenn wir in unsern Schicksalen mit den ihrigen etwas homogenes haben.

Jene aus der Vorstellung eines andern Unglücklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem süßen Gefühl des Mitleidens, würde ich daher immer für die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns zugleich leiden.

Doch ich bin weit entfernt, dies als die einzige Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen verändert, daß der Psychologe eigentlich selten mit völliger Evidenz sagen kann: dies — und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung!

Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Fällen ein Unglück nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift; daß diese und jene schiefe Beurtheilung, eine uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns fällt; daß mehrere Unglückliche auch für uns zugleich eine größere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich für uns interessiren werden; daß ich bey den Un-[82]glücklichen ein größeres Mitleiden mit meiner Noth wahrnehme; daß größere, reichere, angesehenere Männer dem Schicksal so gut wie ich unterworfen sind; daß wir unsre Leiden gleichsam vervielfältigt sehen, — diese und mehrere Nebenvorstellungen können uns in etwas zu beruhigen scheinen, wenn andre mit uns zugleich unglücklich sind. Weniger oder eigentlich gar nicht beruhigend sind für uns dergleichen Gedanken, wenn wir mit andern zugleich von einem körperlichen Schmerz leiden.

Fußnoten:

1: *) Ich spreche hier im Allgemeinen, und also nicht von den einzelnen Empfindungen, welche wir bey dem Unglück derer in uns wahrnehmen, die unsre Feinde sind, oder sonst einen unangenehmen Eindruck auf uns gemacht haben.

Erläuterungen:

a: "Es ist ein Trost für Unglückliche, Leidensgenossen zu haben." Entspricht dem deutschen Sprichwort "Geteiltes Leid ist halbes Leid".

7.

Allgemeine Betrachtungen über Sprache.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Die Sprache ist die Uebereinstimmung der Menschen, durch gewisse bestimmte Zeichen gewisse Dinge zu bezeichnen, und ihre Gedanken deutlich und bestimmt auszudrücken. — Dieser Begriff läßt sich leicht auf einzelne Sprachen anwenden; so ist die deutsche Sprache die Uebereinstimmung der deutschen Völker, einander ihre Gedanken durch dieselbe Ausdrücke deutlich und bestimmt erkennbar zu machen. Alle Sprachen kommen darin überein, daß sie dieselbe Sachen durch verschiedene Zeichen bezeichnen.

[83]

Die Nothwendigkeit der Sprache erhellet aus der Nothwendigkeit einer menschlichen Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse. — Die ersten festgesetzten Gedankenzeichen litten bald Abweichungen, und dies aus verschiedenen zufälligen Umständen; Zeit, Ort, Interesse, Verbindung u.s.w. machten sie nothwendig; auch die Menschen drücken dasselbe Bedürfniß, dieselbe Idee nicht immer auf dieselbe Art aus; nicht alle haben einerley Bedürfniße; jeder fast hat seinen eigenen Gesichtspunkt — fodert auf eine andere Weise Befriedigung seines innern und äußern Dranges u.s.f.

Eine allgemeine Sprachlehre würde die allgemeinere Regeln zu sprechen enthalten, die leicht auf alle besondere Sprachen angewandt werden könnten. Die besondere lehrte ihr eigenes, ihre besondere Ausnahme der allgemeinen Regeln; die allgemeine diente zu einer Einleitung in die untergeordneten mannichfaltigen Sprachlehren, ohne Hinsicht auf die besondern Nationalabänderungen. Obwohl die Verschiedenheit der Sprachen manchen Vortheil und Rechtfertigungsgrund für sich hat, so würden wir vielleicht doch schon weitere Fortschritte in unsern Bemühungen um Aufklärung und in der Annäherung an unsere Bestimmung gemacht haben; es würde mehr Uebereinstimmung, mehr Einigkeit und Einheit der Charaktere der Menschen — weniger Vorurtheile, Partheisucht, feindliche Gesinnun-[84]gen und Listigkeit, — aber desto mehr Liebe, Wahrheit und Offenheit unter den Menschen herrschen, wenn diese nicht — oder nicht so mannichfaltig wäre. Doch labt sich unser Trieb nach Vervollkommung auch öfters an ihr: wir forschen nach dem Genius der Sprache: wir suchen daraus den Charakter der Nation annähernd zu bestimmen; wir sehen, wie weit die Denkart der Menschen von einander abgehet, oder sich vereinbart, und wo — in welchen Abstuffungen — nach welchen Gründen; da lernen wir kennen, in welchem Grad der Kultur und Vollkommenheit eine Nation steht; denn Verbesserung der Sprache ist eine Stufe der Landsaufklärung; dahin gehören auch die Bemühungen, eine Sprache Wortreich, Nachdruck- und Bedeutungsvoll — angenehm, fließend und leicht zu machen, sie von Verunstaltungen und nichts bedeutenden oder inkonvenienten Ausdrücken zu säubern.

Die Sprache ist der Abdruck der Gedanken: die Zeichen der Gedanken können nun mittelst eines festgesetzten Tones, oder mittelst festgesetzter mit der Feder gemachten Züge (Schriftzeichen) andern verständlich gemacht werden. Die erste Art wird in der Leselehre abgehandelt; die zwote in der Rechtschreibungslehre, und so wären also die zwo Hauptabtheilungen einer allgemeinen Sprachlehre gemacht; um deutlich und zusammenhängend zu seyn, müßten dann die Gegenstände nach ihrem Ur-[85]sprung — Ableitung — Aehnlichkeit u. d. einander untergeordnet und zusammengestellt werden.

Die pantomimische Zeichen oder die Geberden des Körpers sind noch sehr willkührlich und unbestimmt. Indeß ist doch gewiß, daß die Pantomimensprache die erste war. Für die erste Menschen, die noch keine bestimmte Töne und Worte hatten, konnte die regellose, schwer zu fixirende Stimmensprache alleine nicht hinreichend seyn; sie nahmen die Gesichtszüge, die übrigen körperlichen Aeusserungen zu Hülfe; diese waren ihnen auch geschickter, natürlicher, angemessener, die Bedürfnisse setzten sie von selbst in Bewegung. Gebehrdensprache ist die natürlichste; denn die Wortsprache entsteht nur dann erst, wann der Mensch anfängt in Gesellschaft zu leben — wann ihm eine Menge von Bedürfnissen nothwendig wird; wann es Bedürfniß wird, seine Gedanken dem andern zu offenbaren, seine durch das gesellschaftliche Leben erzeugte Begierden, Triebe, Verhältnisse und Notwendigkeiten zu befriedigen, seine durch eben dies gesellschaftliche Beysammenseyn entstandene Pflichten zu erfüllen, sich über Interesse und Konventionen mit andern zu verstehen; wann der Mensch nun allmählig beginnt, Lüste zu nähren; wann es dadurch erst nothwendig würde, Hülfe und Rath zu suchen, und also Mensch und Mensch wie eins — unzertrennlich — unentbehrlich würden; da müßte [86]ihnen nothwendig die Pantomime zu langweilig, zu ermüdend, zu unbequem seyn; man verließ diese Sprache, und fing an, Töne dafür zu gebrauchen; man sah den Unbequemlichkeiten durch ihre Anwendung und Festsetzung meistentheils abgeholfen, und suchte stufenweise sie so viel als möglich allgemein zu machen, welche ihnen die geschickteste — die deutlichste schienen, und die mit der anzuzeigenden Sache die größte Aehnlichkeit hatten, diese wählten sie zum Ausdrucke. Nachahmung war also wohl der Bestimmungsgrund eines grossen Theils der Worte. Die übrigen haben ihren Grund in gelegentlicher oder notwendiger Zusammenkunft aller — besonders auffallender — frappirender Umstände. Also da erst unter jenen Verhältnissen ward Stimmsprache Trieb und Drang, und mit ihrer Anwachse ward dieser Drang auch stärker, entwickelte sich immer mehr, wurde immer reichhaltiger— verständlicher — nachdrucksamer — angemessener — gesetzmäßiger — harmonischer, und die Ausdrücke artikulirter — allgemeiner — stäter.

Pantomimen in einer fixirten Einschränkung und Bestimmtheit, wie die Töne, würden eben so deutliche Gedankenzeichen seyn. Zuverläßig ist es, daß stärkerer Nachdruck in ihnen liegt, daß sie geschickter — anschauender und natürlicher sind, um die Sachen wahrer und die Bedürfnisse in ihrer mehr oder minder dringenden Befriedigung vorzu-[87]stellen; so wie wir noch immer, um energischer uns auszudrücken, und den Grad der Empfindungen deutlicher und sinnlicher zu bezeichnen, unsere Sprache mit Gebehrden des Körpers begleiten. Eine Bewegung des Körpers würde schon den ganzen Gedanken mit einem großen, lebhaften Ausdruck bezeichnen, da wir jetzt durch eine Reihe von Buchstaben — Sylben und Worte erst an das Ende der Vorstellung gelangen. Sogar müssen wir in der Seele das ganze einer Idee nur mittelst der Verbindung einzelner, mit Worten verknüpfter Begriffe bilden; dahingegen ohne diese Sprache jeder unserer Gedanken eine totale momentane Vorstellung und ein Bild, ein konzentrirter gleichzeitiger Zusammenhang aller der dahingehörenden Begriffe wäre, so wie die Aeußerung der Gedanken eben so seyn müßte. Aus diesem folgt, daß die Vorstellungen geläufiger, gedrängter, lebhafter, und weil die Uebersicht leichter, der Zusammenhang deutlicher wäre, schneller und richtiger seyn müßten.

Es ist wahr: Worte und ihre successive Verbindung sind Beförderung der Abstraction und größere Sicherheit vor Irrthum im Urtheile, da in einer schnellen Uebersicht wohl manche Folge, manches Zwischenglied der Abstractionskette unsichtbar bleiben kann; aber da bürgt schon für einen guten Theil der deutlich vorliegende Zusammenhang des Ganzen.

[88]

Ich übergehe den Gebrauch der Zeichensprache beym Unterricht der Taubstummen. Nur was insonderheit den Einwurf betrift, wegen der Nichtunterscheidung des Sinnlichen — Sichtbaren vom Abstrakten, und der durch dieselbe Zeichen bedeuteten Sache, bemerkte ich für jetzt das einzige: kann man mit dem Zeichen des unmittelbar bezeichneten nicht noch ein bestimmtes Unterscheidungszeichen von dem mittelbaren und abstrakten Begriffe verbinden, oder auch mit den letztern? Dasselbe Unterscheidungszeichen kann allgemein gemacht und mit jedem dieser Begriffe ohne Abweichung verbunden werden. Hieraus erhellet auch, daß man auch abstrakte Begriffe durch dergleichen pantomimische Zeichen ausdrücken kann; und warum nicht auch ohne das angegebene Hülfsmittel? Denn jeder abstrakte Begriff entstehet aus sinnlichen, die man vergleicht, deren ähnliche — nothwendige oder allgemeine Bestimmungen man zusammendenkt, und daraus einen allgemeinen oder abstrakten Begriff bildet. Könnte man also nicht auch durch pantomimische Zeichen die Folgen und Entwicklung dieser einzelnen Begriffe und so den Weg der Abstraktion bezeichnen, und dann durch ein einziges Zeichen, wie durch ein einziges Wort den Inbegriff dieser Entwicklungen oder den ganzen abgezogenen Begriff ausdrücken? Es ist daher nicht eben nothwendig, ihn erst metaphorisch und bilderisch in der Zeichensprache zu erklären.

[89]

Unstreitig ist es, daß die Sprache sehr viel, ja das meiste zur Begriffentwicklung — zur Aufklärung und Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse beyträgt. Das anfangs lallende, dann sprechende Kind hört neue Worte, und in ihnen neue Begriffe; lernt täglich immer mehrere und neue Sachen kennen, lernt mit dem Fortgange der Sprachen kombiniren — Aehnlichkeiten bemerken — übertragen; es lernt weniger mechanisch denken, weniger einförmig urtheilen und handeln; es lernt Abwechslungen des Geschlechts — der Art — und des Individuellen; wird mit mehrern theils ähnlichen, theils kontrastirenden Verhältnissen bekannter; geistische — unsichtbare — abstrakte Dinge kommen ihm nicht mehr so unbegreiflich und nonsensikalisch vor; die Zeichen der sichtbaren —körperlichen — einzelnen Dinge führen leicht zu andern, die mit diesen was ähnliches, was gemein haben. Wunderbare — ungewöhnliche Dinge frappiren es nicht mehr in dem entsetzenden Grade; bald kann es selbst deutlich — endlich unvermerkt unterscheiden, was es hört, sieht und empfindet. Von ihrem weitern Gebrauch und Nutzen in der menschlichen Gesellschaft, wäre es überflüßig, was zu sagen. Sprache ist der Anfang zur Bildung des Menschen; ihr Fortgang, ihre Entwicklung ist Entwicklung des Herzens und des Verstandes, ist Entwicklung eigenen Kraftgefühls; eben so unentbehrlich und interessant schreitet sie mit dem Menschen durch alle Le-[90]bensgrade fort. Ohne Sprache, würde der Greiß wohl mehr als das lallende Kind in der Wiege seyn? würde der Mensch wohl viel zum Voraus vor dem Orangoutang und desselben Handlungstrieb haben? Dies ist freylich nur Frage —Frage wie die: ob Sprache wirklich ein zuverläßiges —wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Menschen und Thiere ist? aber aus Mangel der Sprache einem Thier das Menschliche absprechen, wäre das eben darum nicht zu viel geschlossen? Sprache ist ein durch die gesellschaftliche Lebensverbindung erst nothwendig gemachtes Bedürfniß, und sonst keine, als nur eine durch Despotie eingeschränkte aber erzwungene und dringende Zweckensphäre mußte nothwendig an der Sprache, besonders an der Stimmsprache, eine Stütze finden.

J. L. A. Schlichting.
Alumnus im K. K. General-Seminarium
in Wien.

[91]

8.

Noch etwas über Ahndungen.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

So wenig ein Ahndungsvermögen mit den Begriffen streitet, die wir uns gewöhnlich von der Seele machen; ebenso wenig Widerspruch findet bey dem sogenannten Melden statt. Wir kennen die Kräfte des Wesens, das wir Seele nennen, alle noch zu wenig; wir hängen noch zu sehr am Körper, als daß wir dies Wesen ganz ausforschen könnten. Wie können wir wissen, was die Seele, sich selbst überlassen, ohne Verbindung mit einem Körper, oder — in einem Zustande, wo die Organe, die Vereinigungsbande, schlaff geworden, wo der Mechanismus erstarrt — zerstört und der Moment der Verabschiedung sehr nahe, oder eben vorüber ist; was die Seele da für einen Wirkungskreiß habe? Wer vermag endlich ein non plus ultra den Kräften eines uns so wenig bekannten Wesens zum Gränzstein zu setzen?

Es sind zu viele Erfahrungen und Beobachtungen von Erscheinungen in dieser Sphäre vorhanden; — Beobachtungen, denen sich allerdings kein Einwurf einer Unwahrhaftigkeit machen läßt; — von Männern, die unbefangenen Kopfes, mit all-[92]seitiger und genauerer Untersuchung beobachten; die nie gewöhnt sind, mit wundersichtiger Leichtgläubigkeit etwas zum Beweise einer noch so zweifelhaften Wahrheit an den Tag zu geben, ohne aus ganzer Seele Bürge dafür seyn zu können, wie ich gleich zwey solche Beobachtungen anführen werde; wir haben, sag ich, zu viele und zu wichtige dergleichen Erscheinungen, als daß wir so gradezu die Existenz vorbenannter Vermögen in der Seele wegraisonniren könnten.

Mögten wir doch einmal aus solchen gehäuften, bewährten Erfahrungen ein zuverläßiges Resultat ziehen können, das uns so vielen Aufschluß in der Seelenkunde geben würde! Ich habe im 3ten Stück des 4ten Bandes eine Todesahndung zu erklären gesucht, die aus einem vorhergehenden lebhaften Traume entstand, und vermöge der Einbildungskraft wirklich Zerrüttung und Tod brachte — das mir bisher noch ziemlich genugthuend bleibt; aber — freylich fallen mir auch wieder andere Phänomene auf, die mir eben so unerklärbar scheinen, als ein übermenschliches Räthsel. Hier scheint sich der Schwung unserer Einbildungskraft wirklich in übermenschliche Sphären zu erheben, und übermenschliche Dinge zu verrichten; das heißt, wenn sie wirklich geschehen, solche — deren Kräfte wir bisher mit unserer Einsicht noch nicht entdeckt haben.

[93]

Der magnetische Somnambulisme ist nach allem Betracht nichts als Charlatanerie, der uns hier für eben nichts mehr als eine solche — wie jedes andere Hirngespinst der Schwärmerey und des Betrugs gelten darf; beiden ihr Symbol ist: Croyez et voulez. Solche Chimären seyen von jedem Wahrheitsfreund weit entfernt; so wie man überhaupt auf diesen schlüpfrigen Wegen nie behutsam genug seyn kann.

Melden eines Sterbenden.

Hr. H** hatte als Director der Normalschulen in N** einen Knaben, den er vorzüglich liebte. Der Knab ward krank. Hr. H** besuchte ihn in seiner Krankheit, die etwa zehn Tage dauerte, ohngefähr viermal. An dem Tage, an welchem er verschied, ließ er sich noch an das Fenster bringen, da eben die Prozession vorbeyging, um seinen Hrn. Director und seine Mitschüler noch einmal zu sehen. Hr. H** kam spät nach Hause, begab sich in sein Schlafzimmer, nahm ein Buch, um noch etwas zu lesen; endlich legt er sich in's Bett, ließ das Licht brennen, und wollte noch fortlesen.

Es war um halb zwölf Uhr als drey Schläge an die verschlossene Thüre geschahen. Hr. H., da er nicht denken konnte, daß Jemand so spät noch zu ihm verlangte, blieb stille. Ueber eine Weile schlug [94]es wieder eben so vielmal an die Thüre. Nun losch Hr. H. das Licht aus, und blieb liegen; gleich geschahen wieder drey stärkere Schläge. Hr. H. stand auf, öfnete die Thüre, sah und suchte, und fand niemand; er machte, um zu sehen, ob nicht ein Zugwind die Ofenthüre hin und her geschlagen habe, auch diese auf; aber — auch dieses fand er nicht. Da er nun gar nichts wahrnehmen und sich von keiner Täuschung auf irgend eine Art überzeugen konnte, legte er sich, in Zweifel vertieft, wieder in's Bett. Aber — schon früh meldete man ihm den Tod seines Geliebten, der eben um jene Zeit erfolgte, nachdem er kurz vorher noch von Hr. H. gesprochen hatte.

Dies erzählte mir Hr. H., ein Mann von unbefangener Beurtheilungskraft und von der richtigsten Denkart; — ein Mann, der zuvor alles Melden, alle Ahndungen, Todtenerscheinungen u.d.gl. für Chimäre hielt; von der Zeit an aber durch diese Begebenheit darauf aufmerksam ward. — Noch

Eine Ahndung.

Hr. D. erzählte mir: sein Vater sey von den Kosacken im siebenjährigen Kriege ganz ausgeraubt worden, so, daß er mit seiner Familie in die größte Nothdurft gerieth. Er war ein Sattler, und suchte bisher durch seiner Hände Arbeit sich nach Kräften [95]fort zu helfen. Allein— das Elend häufte sich tagtäglich, und er sah keine Rettung. Mit diesen Gedanken umwölkt, befand er sich einstens am Abende in seinem Garten, und hing da ganz seinem traurigen Schicksale nach; als ihm däuchte, eine Stimme zu hören, die sprach: »Sorge nicht; es wird dir und deiner Familie noch gut gehen«. Er staunte; freudig verließ er den Garten, erzählte seine gehabte Erscheinung, und ermunterte alle, gutes Muthes zu seyn. Bald darauf gerieth er plözlich auf den Gedanken, einen Leinwandhandel anzufangen; er fing ihn an, und betrieb ihn mit so vielem Glück, daß er sich nun in den besten Umständen befindet, und die meisten seiner Kinder hat versorgen können*). 1

Wien.

J. L. A. Schlichting.

Fußnoten:

1: *) Phänomene dieser Art, wenn man auch das historische Factum nicht selbst läugnen kann, lassen sich doch ganz natürlich aus einer gehabten Einbildung und einem damit verbundenen Zufalle erklären. Daß sie aufgeklärte, unbefangene Männer erzählen, selbst an sich erfahren haben wollen, beweist für die Wahrheit der Sache nichts, weil sich auch aufgeklärte und unbefangene Männer — am leichtesten aber da irren können, wo eine lebhafte Phantasie, oder etwas Wunderbarscheinendes, wodurch sich die Menschen so leicht täuschen lassen, mit im Spiel ist.
P.

[96]

Beyträge zur Geschichte der Schwärmerey in unsern Tagen*). 2

Vermischte Gedanken.

Lavater, Johann Caspar

(Manuscript für Freunde.)
Junius — December 1774. a

Lavater gab diese vermischten Gedanken, wovon ich nur den Beschluß mittheilen will, seit dem Jenner 1774 in Duodez, b und zwar, um ihnen das Ansehen eines vertraulichen Manuscripts zu geben, in gestochener deutscher Schreibschrift, also in wirklichem Druck, heraus. Jeden Monat theilte er auf diese sonderbare Art eine Anzahl seiner Gedanken seinen eigentlichen Vertrauten, oder auch Fernennahen, wie er gewisse andere nennt, mit, und [97]fuhr damit bis im May obigen Jahrs treulich fort. Aber auf einmal nimmt er von seinen Freunden in einer langen Epistel auf einige Zeit Abschied, und diese Epistel ist es, welche wegen ihres merkwürdigen Inhalts zu nächst folgt, und kein unmerkwürdiges Stück von der eigentlichen Denkungsart jenes sonderbaren Mannes ist, dessen Geist und Herz für den Psychologen gewiß ein sehr interessanter Gegenstand seyn muß. <P.>


Schon seit dem Maymonat hab' ich Euch, liebste Leser und Leserinnen, dieser vermischten monatlichen Gedanken weiter nichts mitgetheilt, und jetzt muß ich sagen, daß ich Euch eine Zeitlang auch weiter nichts mittheilen kann. Ich muß mich noch mehr einschränken, als ich bisher gethan habe, und den Zirkel meiner Würksamkeit enger machen, um desto kräftiger würken zu können. Das ist ein Hauptgrund, warum ich diese Gedanken jetzo weiter nicht fortsetzen kann. Ein anderer ist, — weil sie das nicht blieben, was sie seyn sollten: Manuscript für Freunde, — sie wurden zu weit ausgebreitet, und sogar in öffentlichen Blättern angezeigt. Bey meiner neulichen Reise durch einen Theil von Deutschland hab' ich zu oft mit Bestürzung wahrnehmen müssen, wie öffentlich ich geschrieben habe, da ich geheim schreiben wollte. Ich will deswegen keinem Vorwürfe machen. Ich weis, [98]daß es aus guter Absicht geschehen ist. Allein mein Zweck ist nun verfehlt, und meine Kräfte reichen diesmal sonst weiter nicht hin. Dies sind zwey Hauptgründe, die ich sagen darf — zur Entschuldigung, daß ich jetzo von meinen vertrautern Lesern, denen ich diese Gedanken statt Briefe zuzusenden pflegte, Abschied nehme. Es sind noch einige andere, die ich wohl mündlich jedem besonders sagen dürfte; aber dennoch nicht gern diesem Blatte anvertrauen mag, so sehr ich auch hoffe, daß man es auf diesen Wink geheimer, als die bisherigen, halten werde. Um aber auch diesmal etwas zu sagen, und nicht so ganz trocken von so herzlieben Leuten, als mir die Leser dieser Gedanken sind, wegzugehen, will ich Euch einige Bemerkungen mittheilen, die ich auf meiner, für mich in so mancher Absicht sehr gesegneten Reise zu machen Gelegenheit gehabt habe, und die den wenigsten von Euch ganz gleichgültig seyn werden, und mich den Empfindungen überlassen, die sie ohne Zweifel, sooft ich sie mir wieder erneure, in mir aufwecken werden. —

Ich habe viel mehr gute, recht gute Seelen angetroffen, als ich geglaubt hatte; wenig Vollkommne! Keine! Keine; aber viel mehrere, die nach Vervollkommnung strebten, als ich in meiner Unbekanntheit mit der Welt hoffen durfte.

Ich habe hohe und niedere Personen gefunden, die wirklich ein sehnliches Verlangen zu haben schie-[99]nen, immer besser und ihrer Bestimmung würdiger zu werden. Seelen, die nach Licht, Kraft und Wahrheit dürsteten. — — Sie werden, währte ihr Durst noch Tage oder Jahre, ersättigt werden.

Viel, viel mehr habe ich, als ich mir vorstellen konnte, unter vornehmen und hohen Personen Weisheit, Nachforschung der Wahrheit, Theilnehmung am Guten angetroffen. Erstaunt und — beschämt ging ich oft weg von Ihnen; erstaunt über sie; beschämt über mich.

Doch wars auch neue mächtige Ermunterung, an mir selbst und an andern zu arbeiten. Ich sahe, daß man nicht umsonst arbeitet, seinen Saamen nicht vergeblich ausstreut. — »Wenn Gott diesen geringen Grad von Wahrheitsliebe und Redlichkeit so belohnt, so augenscheinlich segnet —, was wirst du erst zu erwarten haben, wenn du mit noch reinerer Einfalt, noch uneigensüchtigerm Eifer, mit noch mehr Weisheit und Kraft Gottes an der Ausbreitung der beßten Religion arbeiten wirst« — so dacht' ich, so mußt ich denken! Neuer Muth, neues Leben kam in mich —. O Gott, laß diese Funken, die du aus meinem Herren entschlugst, Flammen werden, und diese Flammen ein Feuer auf Erden anzünden, das nimmermehr erlischt. Ach wie wollt ich, daß es schon an- [100] gezündet wäre!*) 1 — und wie ist mir so bange!—

Auch durch manche Prüfung, geliebte Freunde, ging meine Religion. Manche, die schwiegen, und manche, die sprachen, legten sie auf die Wage. Ich merkte und hörte Einwendungen, die ich noch niemals gehört, nie erwartet hatte. — »Aber ists nichts als dies«? Das war doch allemal das Resultat aller dieser Prüfungen. — Ists nur dies, was man wider meinen Glauben einzuwenden hat? Muß man sich so aus der Frage herausziehen; so antworten? (und ich sehe nicht, warum man nicht das Beste und Stärkste sollte gesagt haben, was man sagen konnte.) Hocherhabner Jesus! Wie fest ist dein Evangelium! wie unerschütterlich dein Leben, und deine allwürksame Gotteskraft und Gottesliebe! —

Auch seufzen hab' ich gehört, nicht nur von blöden, kurzsichtigen Seelen, ohne Kraft und Heldenstärke, — auch von männlichen Seelen hier und dort über den erbärmlichen Verfall der menschlichsten und göttlichsten Religion; — »Aber unter aller Kritik hört ich doch auch sehr vernünftige Leute sagen, unter aller Kritik sind die Bemühungen einiger Gottesgelehrten zur Läuterung, d.h. Verschwem-[101]mung der Religion. Sie zerstören die Menschlichkeit, indem sie das Christenthum zerstören, und Christum den Christen rauben«!

Wie tief aus meinem Herzen herausgesprochen war das! Mit welcher Fülle der Ueberzeugung stimmt' ich in diese gerechte Klagen ein! wie ward mir so leicht! wie schien mir die halbverlorne Sache gleichsam schon wiedergefunden, da ich hörte, daß die Wahrheit Gottes an manchen Orten noch Ohren findet, die sie hören und verstehen, und Seelen, denen es Last ist, daß sie's nicht lauter, mächtiger sagen dürfen. — »Man stößt den Herrn des Weingartens zum Weingarten heraus«. Dies Wort wiederhol ich auch mit Bedacht hier, — frey dürft' ich dies öffentlich sagen. Wie gern verpflicht' ich mich dadurch, es bey jedem, jedem Anlaß immer stärker, treffender, schneidender zu sagen — »daß man wider die Menschheit raset, wenn man wider Christum sich auflehnt«. Wenn Christus unerträglich ist, o wie ist denn gewiß, aller vorgegebenen hochgepriesenen Menschenliebe ungeachtet, auch die Menschheit unerträglich! Wer mich hasset, der hasset auch meinen Vater, hast du mit göttlicher Einfalt und Wahrheit gesagt, — du bester aller Menschen, aller Herren und aller Götter auf Erden und im Himmel! und wer deinen Vater hasset, der hasset auch seine Kinder, — so wie der den liebt, der gezeugt hat, auch den liebet, der von ihm gezeugt ist.

[102]

Wo ichs nicht suchte, unter Leuten schlimmen Rufes (durch eigne Schuld vielleicht) habe ich gefunden, die nicht ferne vom Reiche Gottes waren! — Wer nicht Mensch seyn will, wird kein Christ werden, und wer Mensch werden will, — wie nahe ist der dem erhabensten Christenthum — das glaubt ich lange. Siegel dieser Wahrheit legte mir Gottes Fürsehung durch diese vor die Augen, — daß mein Herz in großen Hoffnungen frohlockte und an meines Herrn Wort gedachte: »die Zöllner und Hurer gehen euch vor ins Reich Gottes«!

Die Menschheit wird sich emporschwingen, und ihre Würde wird leuchten! Gott wird sich aufs neue offenbaren im Fleische! — das ist, das Christenthum wird siegen; wieder emporströmen, wie eine hellleuchtende, und weit erwärmende Flamme! — und weiter nicht, als auf das Jahr 1776 oder 77 will ich appelliren*) 2 — Die Thorheit der groben und feinen Schriftbestürmer wird offenbar [103]werden. Die Unvernunft dieser Vernunftsherolde wird so entblößt werden, daß sie eine Zeitlang die Augen vor Schaam nicht mehr sollen aufheben dürfen. Gott wird sich durch Vernunft an der Vernunft rächen, — und durch Thorheit der Predigt in den Einfältigen herrlich, und in den Gläubigen wunderbar werden. Aber dies wird noch nicht das Ende seyn! — Dies sind nur Stimmen in der Wüste: Bereitet den Weg dem Herrn! Macht seine Pfade richtig!

Nicht eben als Hauch des prophetischen Geistes darfst du dies Wort auffassen. Es ist Resultat einfältiger Beobachtungen, die ich gern in den Schooß meiner nähern und fernern Freunde, und allenfalls auch derer frommen Seelen, die unmittelbar an diese gränzen, hinlege. Einige Saamenkörner, die Früchte bringen werden, wenn dieser Brief nach ein Paar Jahren diesem oder jenem zufälliger Weise wieder vor die Augen kommen, d.i. ihm von dem himmlischen Vater, ohne dessen Willen kein Buchstaben hier geschrieben steht, in die Hände gegeben werden wird.

Wohl dem, der jetzt und alsdann erwacht — und aufschaut, und sich umsieht, wo er steht, und was er bey dieser Lage der Sachen zu thun hat! Sey er Fürst, oder Sohn der Dienstmagd, der im Schweiße seines Angesichts sein Brod isset. — — Ja Fürsten, denen dies Büchlein in die Hände [104] kommen wird — und Tagelöhner in einsamen Arbeitsstuben, die mich lieben, und gern an der Wahrheit Theil nehmen, die Gott auch ihnen durch mich darzureichen beliebt; — ja Fürsten und Tagelöhner, Brüder und Schwestern, Lehrer und Schüler, wachet und helfet mir wachen; bittet und helfet mir bitten; arbeitet und helfet mir arbeiten, daß in seiner Herrlichkeit erscheine, denen, die seine Herrlichkeit lieb haben, Jesus Christus, dem der ewige Vater alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben hat, und dem die Menschen im Staube alle Gewalt auf Erden und im Himmel rauben! —

Thue ein jeder von uns, was er kann. Es ist keiner, der nichts, keiner, der nicht mehr kann, als er jetzt denkt! und wenn wir im Geiste als ein Mann für einen Mann stehen; jeder an seinem Posten; jeder in dem Kreyße, den der Vater um ihn her gezeichnet hat; — jeder des andern Arbeit ohne Neid mit ermunterndem Wohlgefallen anschaut; jeder sich freut, wenn nur Christus in alle Wege verkündigt, verherrlicht und groß gemacht wird; jeder froh ist, wenn zur großen Erndte der Arbeiter immer mehr, und der Fruchtzerstörer und Müßiggänger immer weniger werden — — dann wird sich unsere Wirksamkeit vermehren! Gott wird in uns herrlich werden, und gepriesen der Name unseres Herrn Jesu Christi durch uns und wir in ihm.

[105]

Laßt, Brüder und Schwestern, dies Wort würken, und Leben aufwecken, und gebt es keinem Spotte des Leichtsinnes und frechen Unglaubens preis! Entzieht Euch diesem, wo ihr könnt, und verhült Euch in seiner Gegenwart in die Stille Eures Herzens — und in das Zeugniß von unserm Großen, Namenlosen, das die redlichsten und besten Menschen des Erdbodens uns hinterlassen haben, daß es auf uns würke, und uns stärke auf die Stunde der Versuchung! —

Schweigen ist oft mächtiger, als reden, und seine Kraft zurückhalten, heißt oft, seine Kraft offenbaren. Weisheit Gottes lehr' uns reden und schweigen! — Und was ist Weisheit Gottes, als stilles, ruhiges Aufsehn auf Ihn, dessen Namen uns allen in die Seele gegraben ist, so wie unsere Namen in die seinige! Aufsehen auf Ihn! O Geheimniß, in welchem alle Schätze der Weisheit, der Erkenntniß, der Kraft und der Tugend verborgen sind! Wer dich gelernt hat, weis alles, was er wissen muß, kann alles, was er können muß, und hat alles, was er bedarf! Ist reicher und mächtiger, als er sagen darf. Ist auch, — ich darfs keinem ins Ohr sagen, was er ist — — —; aber aller Herzen werdens empfinden, und frolocken in unaussprechlicher und herrlicher Freude. —

Wohin, Brüder, irr ich, nicht irr ich — wohin führt mich die Hand, die alle meine Tritte lei-[106]tet, und alle Worte für die mir darreicht, die für mich bitten?

Ja! so viele zu wissen und zu kennen, die bereits, ehe sie mein Angesicht sahen, meinen Namen, den alten, der mit dem alten irdischen Menschen zu Grunde geht, und so wenig, als der das Reich Gottes erben kann und wird — so viele, die meinen Namen in ihrem Gebet und ihren Danksagungen vor Gott nennten, und nun noch mehrere, die, nachdem mir Gott ihre Liebe zu hören und zu schauen gab, zu schauen das Siegel Gottes auf ihrer Stirn — so viele, die für mich beten — wenn das nicht stärkender Trost, das nicht Stimme Gottes ist. »Sey getreu bis in den Tod«! Das mich nicht hoch und höher hebt, als die hohe und weite Sichtbarkeit hinreicht, das nicht mir Beruf ist, seine Sache mit mehr Einfalt und Treue und Eifer und Herzlichkeit zu besorgen; so bin ich elender, als alle Menschen. — Aber nein! gewiß glücklicher, als alle Menschen, daß Gott mich so trägt, auf diesen Flügeln seiner Barmherzigkeit mich aus dem Staube empor hebt, daß er mich gleichsam nöthigt — nicht länger zurück zu sehen; sondern nur vorwärts, vorwärts!

Ja, Ihr alle, die dies lesen oder hören, mein Angesicht gesehen, oder nicht gesehen haben — wenn ihr wüßtet, welch ein zertretener Wurm ich bin, wie Nichts ich bin, wie unendlich viel schwächer, [107]als keiner meiner Freunde glauben, keiner meiner Feinde argwohnen kann, wie ich oft nahe an die tiefsten furchtbarsten Abgründe hingerissen werde, oder von selbst hinstürze; — wüßtet, wie ich augenblicklich nur von der sichtbarsten augenscheinlichsten Gnade leben muß, wie oft ich mir und Gott unerträglich vorkommen muß — in der erbärmlichsten Selbstsüchtigkeit, die mich so oft in den reinsten Gesinnungen und besten Thaten wie ein Räuber überfällt; — wenn ihr wüßtet, was alles auf mir liegt, Läste, die ich mir selbst aufgeladen habe, und Läste, die mir so manche andere aufladen, die auch schwer zu tragen haben. Auch wenn ihr wüßtet, wie Leichtsinn und tiefe Melancholie so oft in mir mit einander kämpfen, und mit einander abwechseln, wie selten ich bey dem Gedränge, in dem ich lebe, in der edeln heitern Ruhe, in der sanften reinen Würksamkeit, die keine Absicht, kein Ziel hat, als Jesus Christus, wie selten ich in der schönen Einfalt Christi stehe, die die höchste Gottesruh und Gotteswürksamkeit war — — wenn ihr das, und noch so manches andere wüßtet, das ich diesem, ach leider! schon zu öffentlichen Blatte nicht anvertrauen darf, wie würdet ihr meiner brüderlichen Bitte so gern willfahren, meiner täglich einmal ausdrücklich vor Gott unserm Heilande zu gedenken!

O Brüder und Schwestern, schon so manchem unter Euch hab ichs gesagt, oder geschrieben: Was [108] Ihr für mich thut, thut Ihr für Euch! Wollt Ihr, daß Gott durch mich auf Euch würke; so laßt Gott auch durch Euch auf mich würken, damit wir immer mehr zur Einigkeit des Geistes kommen, und näher seyn dem großen bewölkten — schrecklich fernen und wunderbar nahen Ziele — unter uns Eins zu werden in Christo, wie er und der Vater Eins ist.

Ich schreibe — und verstehe noch wenig von dem, was ich schreibe; zwar alles, was die Welt verstehen heißt; — aber sehr wenig von dem, was der Geist der Wahrheit in Christo, rechter Verstand des Geheimnisses Christi heißt.

O Unterschied wörtlicher und anschauender Erkenntniß, der Einbildungskraft und des Herzens! des Herzens und des ganzen göttlichen Menschen in uns, der lauter Geist und Leben und Ebenbild Gottes ist, und alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit ergründet.

O Wahrhaftiger! Einziger! wie wenige kennen dich, und deinen Sohn, und wissens aus unmittelbarer Erfahrung, daß dich in ihm erkennen ewiges Gottesleben ist!

O unaufhörliches Schwätzen, Disputiren, Predigen, Schreiben von dem, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, und was in keines Menschen Herz aufgestiegen ist — ich meine von dem, was Gott schon in diesem Leben denen bereitet hat, die ihn lieben.

[109]

Uns, hieß es in den Zeiten der Wahrheit und des Geistes, uns hat es Gott durch den Geist geoffenbaret! Wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist.

O Brüder, o Schwestern vom silbernen Thron an, bis zum simpelsten Holzstuhl — verzeihet mir mein Stammeln an Euch! — — — — — Ich umarme Euch alle im Geiste, und freue mich Eurer alle auf den Tag Jesu Christi.

Schriebs zu Zürich
den 18ten Septemb. 1774.

J. C. L. c

Hier sind noch einige seiner sonderbaren, schwärmerischen Gedanken, die er von Monat zu Monat an seine vertrauten Freunde schrieb. Ich setze sie eben so abgebrochen, so unbestimmt hierher, als sie in seinem Manuscript zu lesen sind. <P.>


Unendliche Mannigfaltigkeit, unendliche Einheit ist alles, was wir sehen. Jedes ist von jedem verschieden, und alles ist dennoch nur Eins. d — Suche Ruhe, wo du willst, du findest sie nirgends als in der Einheit: du findest sie auch in der Vielheit, wenn sie dir Einheit ist. e — Was ist, ist irgendwo. f — Was aus Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aus Geist geboren ist, das ist Geist; was aus Gott geboren ist, das ist Gott — ! g Alle [110]Gnade ist Natur, und alle Natur Gnade. h — Wenn Herodes um seines Eidschwures willen tödtet, wie wird Gott um seines Eidschwures willen lebendig machen. i — Wer hören kann, kann alles. j — Sprich nicht: was werden die Menschen auf Erden, sondern sprich: was werden die Engel im Himmel von mir urtheilen? k — Ich will lieber unter dem Pabst, als unter dem Zwang eines menschlichen Lehrbuchs stehen. — Dein Feuer sey Licht, und dein Licht Feuer. l — Ich kann mir kein Mittel denken, Jesus entweder Gott, oder ein Atheist. m — Alles, was Gott ist, ist Christus menschlich. n — Wüßtest du, was Christus ist, du wüßtest, was Gott ist, und was du bist. Wüßtest du, was du bist, du wüßtest, was Gott und Christus ist. o — Wie der Sonnenstrahl Sonne ist, so ist, was aus Gott geboren ist, Gott. p — Wer Christus bloß als seinem Herrn gehorcht, der ist sein Knecht, wer ihm als Gottes Sohne, und als ein Kind seines Vaters gehorcht, sein Bruder, und wer mit ihm sympathisirt, sein Freund u.s.w. q

Fußnoten:

1: *) Gott bewahre uns dafür!! <P.>

2: *) Diese ganze prophetische Stelle bezieht sich offenbar auf die Gaßnerische Wunderepoche, von welcher Lavater sehr wichtige Veränderungen zur Ehre der christlichen Religion und — Beweise erwartete, welche allen künftigen Zweiflern, allen feinen und groben Schriftbestürmern, wie er sie nennt, den Mund stopfen würden. Die Zeit hat gelehrt, daß Gaßner ein Betrüger war, und daß die religiöse Schwärmerey sich an ihm sehr geirrt hat. <P.>

Erläuterungen:

a: Vorlage: Lavater 1774.

b: Vgl. Erl. zu MzE IV,3,74.

c: Vorlage: Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 240-250.

d: Vorlage: 'Januar. Nr. 3,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 221.

e: Vorlage: 'Januar. Nr. 5,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 222.

f: Vorlage: 'Januar. Nr. 2,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 221.

g: Vorlage: 'Januar. Nr. 10,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 223.

h: Vorlage: 'Januar. Nr. 11,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 223.

i: Vorlage: Januar. Nr. 15,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 224.

j: Vorlage: 'Januar. Nr. 32,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 226.

k: Vorlage: 'Februar. Nr. 9,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 228.

l: Vorlage: 'März. Nr. 9,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 232.

m: Vorlage: 'März. Nr. 10,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 232.

n: Vorlage: 'März. Nr. 13,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 232. In der Vorlage "was Gott Göttlich ist".

o: Vorlage: 'März. Nr. 20,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 233.

p: Vorlage: 'April. Nr. 1,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 234.

q: Vorlage: 'April. Nr. 11,' Lavater 1774, [unpaginiert]. Nachdruck in Lavater 1785, S. 236.

[111]

<Revision.>

Nachtrag zur Fortsetzung der Revision.

Pockels, Carl Friedrich

Nicht unwichtig, sondern sehr lehrreich für die Seelenkunde sind die Selbstgeständnisse des Herrn Basedow *) 1, Semler**) 2, Jung ***), 3 und Anton Reiser von ihrem Charakter, und die Erzählungen ihrer Jugend- und Männerjahre überhaupt. So leicht mit der gleichen Charakterschilderungen ein Mißbrauch getrieben werden kann, und auch wirklich seit der Zeit, daß Rousseau so viele, freylich sehr unrousseauische Nachahmer gefunden hat, damit getrieben wird; so interessant können jene Schilderungen werden, wenn sie von aufgeklärten Männern herkommen, und wirkliche philosophische Auflösungen gewisser wichtigen, geistigen und moralischen Phänomene der menschlichen Natur in sich enthalten. Durch dergleichen Auflösungen muß die Wissenschaft durchaus gewinnen, und sie werden uns oft zu einer richtigern Kenntniß des Menschen führen, als es die Speculation thun kann. Je früher jene aufgeklärten Männer sich zu beobachten angefangen haben, und je aufrichtiger sie in ih-[112]ren Bekenntnissen a sind, desto mehr werden wir durch sie einsehen lernen, welche Umstände sie gerade so und nicht anders bildeten; welche einzelne und allgemeine Eindrücke aus der frühen Kindheit sie mit in die übrigen Jahre und Geschäfte des Lebens hinüber nehmen; wie die Gewohnheit zur andern Natur bey ihnen wurde; wie sich nach und nach ihre Begriffe in Absicht des abstrakten Denkens, und ihre moralischen Gefühle bildeten; was Nachahmungstrieb, oder eigene selbständige Geisteskraft und Thätigkeit zu ihrer Entwickelung beytrug; welchen Kampf es der Vernunft kostete, nach und nach über die Sinnlichkeit Herr zu werden, und wie diese Sinnlichkeit doch mit das vornehmste Vehiculum ihrer Ausbildung wurde, indem die Vernunft sie recht zu nutzen wußte.

Jeder große Mann wird erst durch die äußern Bestimmungen groß, die seinen Geist aufwecken, und irgend auf eine Seite besonders hintreiben. Die Geniekraft des Geistes muß freylich erst zu Grunde liegen; aber sie wird ohne besondere hinzugekommene Umstände, wie bey den so viel tausend Menschen geschieht, unterdrückt bleiben, und vielleicht Jahrtausende lang schlummern. Es ist sehr wichtig, die individuellen Umstände, Lagen und Bestimmungen zu wissen, unter welchen große Männer gebildet wurden, und sie dann gleichsam Schritt vor Schritt in ihrem Ideengange zu verfolgen. Aus Schilderungen desselben, aus einer richtigen Darstellung [113]der Geistesentwicklung einzelner Menschen wird der Pädagoge die vortreflichsten Regeln der Erziehungskunst abstrahiren können, auf welche er durch bloße Speculation nie gefallen seyn würde. Sehr viele Erzieher erziehen, ohne ihre Zöglinge genau zu kennen, sie beurtheilen zu oft das Kind nach dem Aeussern, und nicht nach seinen innern Gemüthslagen, und der jedesmaligen Masse von Gefühlen, die sich in ihm schon entwickelt haben. Dadurch muß eine durchaus schiefe Erziehungsmethode entstehen, und Anton Reisers psychologischer Roman, ein Buch, von dem ich mehr sagen würde, wenn das Publicum seinen Werth nicht schon allgemein anerkannt hätte, enthält in dieser Absicht die lehrreichsten Winke in sich, wie nothwendig es sey, bey der Erziehung den jedesmaligen Gemüthszustand der Kinder zu studiren, und wie gefährlich für die Bildung junger Seelen die kleinste Abweichung von dieser Regel seyn wird.

Herrn Basedows Selbstgeständnisse sind um so viel wichtiger und lehrreicher, da sie von einem Mann von scharfer Denkkraft, enthusiastischer Herzenswärme, und kühner Unternehmungssucht kommen. Eigenschaften, die seinen Charakter und seine Leidenschaften oft auf die sonderbarste Art gestimmt haben, und bey einer so starken Anlage zu einer finstern Hypochondrie um so viel mehr stimmen mußten.

[114]

»Ach wäre ich«, sagt er in einer bekannten Streitschrift, »wie vom Geize, also eben so frey von verdienten Vorwürfen unsittlicher Würkung des beym Widerspruch ruhmredigen Kraftgefühls, welches wahrlich den stärksten schwächt; und des übertriebenen Grams, wenn gemeinnützige Anschläge mißlingen; und des kurzen aber heftigen Zorns gegen Widersacher, wenn die Stärke des Getränks mit dem Gram würkt; und den Vorwürfen der Ungezogenheit, die in solchem Zustande auch wohl in der seltnen Frölichkeit deutlich zeigt, daß ich in dem Gegentheile aller Arten der guten Erziehung aufgewachsen, und daß mein bischen Politur ein zu spätes Kunstwerk sey«.

Wahrlich ein sehr aufrichtiges und interessantes Bekenntniß! Man gehe alle diese sich selbst gemachten Vorwürfe durch, und man wird die Gegenstände dieser Vorwürfe vornehmlich in einer schlechten Erziehung des großen Mannes finden. Die Stärke ihrer Eindrücke, das rohe, unbiegsame, kühne Kraftgefühl des sich ganz fühlenden Knaben hatte er mit in seine männlichen Jahre hinüber genommen, ohne daß ihm eine vernünftige Erziehung eine bessere mit der Menschenwelt homogenere Richtung gegeben hätte, und ohne daß die zu spät hinzugekommene Cultur seinen Naturcharakter in bescheidnere Gränzen einschliessen konnte. Sobald jene ersten Eindrücke gereizt wurden, sobald sich sei-[115]ner thätigen Phantasie ein wichtiger, oder wichtig scheinender Gegenstand zeigte, sobald man ihm widersprach, und seine Plane verrückte, wich fast immer jene Cultur, jenes zu späte Kunstwerk, ganz zurück, und er handelte, wie ein isolirter sich selbst gelassener Naturmensch, der sich fühlt, handeln wird, ohne auf die Verhältnisse des uns so nothwendigen geselligen Lebens eine genaue Rücksicht zu nehmen.

»Ach wäre ich so frey«, fährt er fort, »von Vorwürfen des Spiels zu gewissen Zeiten, welches von jeher, bald mehr bald weniger meine einzige Zerstreuung war; da nur ein Zehntel der Natur in meine von Jugend auf schwache Augen fällt, da die Tonkunst mir fremd geblieben ist, und da nur wenige Arten von gesellschaftlichen Gesprächen mich unterhalten, nehmlich solche, wodurch ich merklich lernen, oder merklich lehren kann. Die von der ersten Art aber sind in meinem Alter schwer zu finden, die von der andern Art werden meinen Gesellschaftern bald unangenehm«.

Die Entschuldigungen seiner Spiellust, welche Herr Basedow hier angiebt, entschuldigen ihn sehr wegen jenes großen Hanges, der freylich leicht bey einer heftigen Gemüthsart, bey einer beständig regen Thätigkeit der Seele, die gern unausgesetzt beschäftigt seyn will, ins Uebertriebene ausarten konnte, und endlich einen hohen Grad eines unsittlichen [116]Betragens veranlassen mußte, wenn die Stärke des Getränks sein Blut in Bewegung setzte. In dieser letzten Absicht ist vornehmlich folgendes Bekenntniß sehr merkwürdig.

»Ich muß, (so ist meine Natur und Verwöhnung) wenn mir etwas gelingen soll, nicht anders arbeiten, als mit einer ausserordentlichen Anstrengung und Ausdaurung, welche zuweilen fast allen Schlaf hindert. Sonst verliehre ich gar leicht den Faden in dem Labyrinthe, in welches ich als ein Erfinder und Beurtheiler der Wahrheiten und vornehmlich der Methoden und Lehrmittel mich hinein begeben habe. Dadurch verfalle ich denn endlich in einen Zustand, daß ich eine Vernichtung aller Geisteskräfte, sogar der Vernunft, befürchten muß, wenn ich mich nicht auf eine Zeitlang gleichsam mit Gewalt losreisse und zerstreue, und gewisser Besorgnisse wegen zuweilen ausser Hauses. Eben die Würkung hat der Anfall des starken Grams. — — — Trinke ich nun in einem solchen Zustande keinen Wein, oder höchst wenig; so werden meine entweder zu arbeitsamen oder zu kummervollen Grübeleyen nicht unterbrochen, und so bleibe ich in Gefahr, gänzlich zu erliegen, davon ich den Anfang sehr trauriger Würkungen zuweilen schon erlebt habe«.

Hiezu kommt, nach meiner Meinung, noch ein anderer psychologischer Grund, den Herr Basedow nicht mitangegeben hat, nehmlich sich in der ein- [117] mal erregten Lebhaftigkeit der Ideen und Gefühle zu erhalten, was so sichtbar in der Natur einer lebhaften Gemüthsart gegründet ist. Wenn die menschliche Seele einmal von starken, viel umfassenden und heftigen Vorstellungen in Schwung gebracht ist, wenn ihre Gefühle in einer schnellen Folge sich zu erzeugen und zu unterhalten angefangen haben; so kann sie nicht gleich in ein ruhiges Gleichgewicht ihrer Empfindungen zurück kehren, sondern pflegt alsdenn neue, obgleich oft mit den erstern Gegenständen heterogene Erschütterungen aufzusuchen, und es läßt sich vermöge dieser Analogie bey sehr lebhaften Leuten der Uebergang aus starken angestrengten Speculationen in starke sinnliche Ideen und Empfindungen, so sehr beide von einander verschieden seyn mögen, leicht denken.

»Ich kenne in der Mischung dieses Lichts und Schattens«, sagt er weiter, »meines Gleichen nicht. Vielleicht liegt eine natürliche Ursach darinnen, daß mich ein außerordentlich lebhafter Vater gezeugt, und eine meistentheils bis zum Wahnsinne melancholische Mutter geboren hat«.

»In diesem Zustande kann ich nun schlechterdings nicht vorher errathen, wie viel oder wenig mir diene. Würkt ein unvermuthetes Erinnerungsmittel einer Kette von Ursachen des Grams, so scheint sich, wenn ich auch fernerhin Wasser trinke, (besonders wenn ich zum verdrüßlichen Reden veranlaßt werde,) [118]die Kraft des schon getrunkenen Weins zu vervielfachen. Ich rede erst wahr und derb, dann wahr und unvorsichtig, dann wahr und unsittlich, weil ich bis ins achtzehnte Jahr unter lauter sehr gemeinen Leuten durch schlechte Redensarten erzogen bin, und also, wenn ich die Feder nicht in der Hand habe, jeder unbesonnene Affect mich in diese ungeschliffene Sprache wieder zurück führt«.

»Daher wähle ich zuweilen, wenn Gelegenheit ohne mich da ist, in solchem Drange meiner Gedankennoth lieber ein die Aufmerksamkeit erzwingendes Spiel, als den Wein. Wenn ich aber nicht entweder zur Verbesserung der Wissenschaften, oder im Gram grüble, alsdann und also gemeiniglich lebe ich höchst ordentlich und enthaltsam von Wein und Spiel«.


Herrn Semlers Confessionen von seinem Charakter und seiner Erziehung, welche in seiner bekannten Lebensbeschreibung hie und da zerstreut liegen, zeichnen sich vornehmlich durch die sonderbaren Umstände einer mystischen Erziehung aus, die er von seinem frommen Vater, welcher Anhänger einer damals sehr herrschenden Secte war, bekam. Der junge Semler sträubte sich lange gegen die frommen Gaukeleyen der Wiedergebornen, endlich gab er nach, und fand an der Lebens- und Denkungsart [119]derselben Behagen. Vielleicht wäre dieser für die theologische Litteratur und Religionsaufklärung so wichtig gewordene, und wegen seiner gelehrten Verdienste so schätzbare Mann für die Welt ganz verloren gegangen, wenn ihn nicht besondere Umstände, und sein eigener thätiger, nach Wahrheit forschender Geist aus dem Pfuhle der Mystik noch zur rechten Zeit herausgerissen hätten. — So scheint doch endlich bey guten Köpfen, welche sich in irgend ein sinnlich mystisches System verwikkelt haben, die Vernunft ihre gesunden Rechte zu behaupten, und es ist mir nicht sehr wahrscheinlich, daß Mystik viel große Köpfe wirklich unterdrückt haben sollte.

Durch vieles Zureden seines ältesten Bruders (der auch ein frommer Bruder war,) und Vaters wird er endlich überwunden, in die Versammlungsstunde zu gehen, und fängt mit zweyen seiner Nebenschüler (auch von der Brüderschaft,) einen anhänglichern Umgang an. »Ich kann nicht sagen«, heißt es weiter, »daß mich in der ersten Zeit diese Stunde sehr bewegt oder gerührt hätte, sogar viel abgeschmacktes kam vor unter den Erzählungen des Seelenzustandes nach den einzelnen Tagen und Stunden; von dem Seelenfreund u.s.w. immer einerley; nur immer schlechter und gezwungener«.

Sehr natürlich! ein gesunder noch unverschrobener junger Kopf konnte unmöglich gleich Anfangs an solchen langweiligen, zum Theil albernen Unter-[120]haltungen einen Geschmack finden. Am Ende aber würkten sie doch so sehr auf den jungen Semler, daß er seine bisherige Frölichkeit verliert, seine vorigen lieben Gesellschafter vermeidet, und wenn er einmal mit einem spricht, ihn zur Nachahmung reizt. Ein Beweis, wie stark die Proselytenmachersucht mit der geglaubten Wiedergeburt verbunden ist. Diese Leute scheinen eigentlich mehr aus einem warmen Gutmeinen, als aus Ehrgeitz, andere in ihre Netze zu ziehen. Sie fühlen sich in dem dumpfen Gefühl der Gnade so glücklich, daß sie auch andern dieses Glück herzlich wünschen, und die Menschen bedauren, die sich durch die Vernunft noch bey der Nase herumführen lassen.

Doch will es immer noch nicht recht mit ihm zum Durchbruch kommen. »Kein Winkel im Hause war übrig«, sagt er, »wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft gekniet und viele Thränen geweinet habe, Gott möge mich der grossen Gnade (die Versiegelung, daß ich ein Kind Gottes sey,) würdigen. Allein nun fehlte mir das, was jene Glauben nannten. — Ich blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hieß. Ich untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhinge, oder einen Bann behielte. Ich besann mich, daß ich zwey- oder dreymal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreyer in die Ar-[121]menbüchse des Sonntags gesteckt hätte. Ich sagte es meinem Vater, und bat um so viel Groschen, die ich nächstens mit großer Freude einsteckte. — Ich hatte aus unvorsichtigen lateinischen und griechischen Asceten wirklich Principia von eigener Büßung und Genugthuung im Kopfe, und bey dieser innerlichen Unruhe war die selbst dictirte Strafe und Erniedrigung wirklich eine innerliche Beruhigung«.

Diese Schilderung kommt mir wichtig vor, und man sieht daraus, wie die Menschen auf eigene Büßungen und Casteiungen gefallen sind, und darin erhalten werden. Der Gedanke, daß man sich selbst Martern anthut, um sich zu bessern, daß man sich also eines sehr guten Willens bewußt zu seyn glaubt, und die damit verbundene sich selbst genugthuende Phantasie, die alle Religiösen geisselt, muß ganz natürlich ein inneres angenehmes Behagen erzeugen, daß bey aller Demüthigung, die es vorauszusetzen scheint, doch immer noch in einem geistigen Eigendünkel seinen Grund haben mag.

»Ich rechnete es«, fährt er fort, »zur Aufrichtigkeit und meiner Schuldigkeit, recht traurig zu seyn. Mehrere Monate war ich in diesem Hange zur steten geistlichen Betrübniß«. Auch auf der Academie dauert dieser Zustand durch den Umgang mit zwey seiner mystischen Freunde fort. Sie rathen ihm das unselige Studiren wegzuwerfen, der [122]Heiland könne besser lehren, als Menschen. »Es entstund eine seltsame Unruhe in mir, ein ängstliches Mißfallen an mir selbst, an allen noch so rechtmäßigen und unschuldigen Handlungen. — In den Collegiis war ich fast lauter Gebet und Application; kam von bösen Menschen vor in Psalmen oder Historie: so sagte ich mir immer, so böse waren die doch nicht, als ich. Recht gut weis ich es noch, daß, als ich einst ganz allein Abends aus dem Collegio auf dem großen Platze des Waisenhauses spazieren ging, in tiefer Betrübniß wünschte: o wäre ich dieser Klumpe Eis, dieses Stück Holz!«

Die alte Liebe zu den Humanioribus erwacht in ihm wieder, und er kauft sich die scriptores rei rusticae. — Sein schwärmerischer Freund ist unzufrieden über den Kauf eines weltlichen Buchs, und Semlern wird dadurch die ganze Freude verbittert. Endlich reißt ihn doch jene Liebe zu den Alten, und der Umgang mit Baumgarten aus dem mystischen Wesen heraus u.s.w.

Die damaligen frommen Brüder waren Leute von einer besondern Gattung, und unterscheiden sich sehr von den heutigen Schwärmern dieser Art, weil auch diese klüger geworden sind, als ihre Vorgänger. Jene bestanden aus einem Haufen dummer unwissender Menschen, die eine alberne Frömmigkeit selbst auf den Straßen an den Tag legten, und in einem [123]Aufzuge einherzogen, woran man ihre Abneigung von allem, was weltlich heißt, erkennen sollte. Sie verachteten alles eigentliche Studiren, beteten halbe Tagelang in ihren Zusammenkünften, und rühmten sich eines innern glücklichen Gefühls, das sie freylich nie definiren konnten, und Gnade genannt wurde. Es ist bekannt, wie viel ein berühmtes deutsches Erziehungsinstitut zur Ausbreitung eines solchen albernen mystischen Wesens beygetragen hat.

C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) 1. B. 2. St. S. 34. ff.

2: **) 2. B. 1. St. S. 96. ff.

3: ***) S. 115.

Erläuterungen:

a: Bezug auf Rousseaus Les Confessions, dt. Die Bekenntnisse (Rousseau 1782-1789.)

[124]

Inhalt.

Seite
Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins. 1
Zur Seelenkrankheitskunde.
1. Beyspiel einer sonderbaren Ohnmacht. 15.
2. Ein schwer zu erklärender Traum. 18
Zur Seelennaturkunde.
1. Ueber die Schwärmerey und ihre Quellen in unsern Zeiten, von D. Jenisch. 23
Nebst einem Anhang über den nehmlichen Gegenstand, von P. 41
2. Ein Traum. 48
3. Materialien zu einem analytischen Versuch über die Leidenschaften. 52
4. Der philosophische Landchartenhändler, von F. W. Jon. Dillenius. 66
5. Eine Traumahndung. 75
6) Solamen miseris socios habere malorum. 77
7. Allgemeine Betrachtungen über Sprache, von J. L. A. Schlichting. 82
8. Noch etwas über Ahndungen, von Ebendemselben. 91
Beyträge zur Geschichte der Schwärmerey in unsern Zeiten. 96
Nachtrag zur Fortsetzung der Revision. 111
[<125>]

<Verlagsankündigung.>

Ankündigung
einer Bibliothek der neuesten physikalische- chemischen, metallurgischen, und pharmaceutischen Litteratur.

Die ausserordentlichen Fortschritte, welche die physische Scheidekunst, durch die eifrigen Bemühungen mehrerer autorisirten Chemisten in und ausser Deutschland, seit einigen Jahren gemacht hat, geben dieser ohne das unbegränzten Wissenschaft, einen eben so weiten Umgang, als sie das Studium derselben erschweren. Keine Wissenschaft hat wohl einen so allgemeinen und beträchtlichen Einfluß auf andre Wissenschaften und Künste, als die rationelle Chemie; und Niemand verkennet die reellen Vortheile, die sie bey einer vernünftigen Aplikation bewirken kann, und bereits bewirket hat. Jene Voraussetzung, und das Bewustseyn, wie unmöglich es ist, die Erfahrungen welche täglich in der praktischen Scheidekunst, und den zunächst mit ihr verwandten Wissenschaften, der Metallurgie und Pharmacie, gemacht werden, aus der Menge der darüber erscheinenden Schriften gehörig zu benutzen, veranlasseten mich nach mehrern andern Gründen, zur Herausgabe der angekündigten Bibliothek, deren Bearbeiten mir eben so viel Mühe als Belehrung gewähret. Nach einem mir selbst vorgelegten Plane, der durch mehrere meiner gelehrten, und als autorisirte Chemisten allgemein anerkannten Freunde begünstiget wurde, gedenke ich meinen Lesern das wichtigste der in jedem Jahre herauskommenden Litteratur dieses Faches in einem solchen Vortrage zu liefern, daß sie mein Buch eben so gut, als die weitläufigern Originalwerke benutzen können. Nur da, wo es nöthig war, hab ich hin und wieder kritische Anmerkungen eingestreuet, die ich aber eben so freymüthig der Beurtheilung andrer Kunstrichter überlasse, als ich behutsam in Austheilung derselben war. Von dem Werke selbst, denke ich im Verlag des Herrn August Mylius allhier, Jährlich drey Stücke jedes zu 8 Bogen in gr. 8 zu liefern, die zusammen einen Band ausmachen, der mit dem wohlgetroffenen Kupferstich irgend eines berühmten Chemisten oder Metallurgen gezieret werden soll.

Die darin bearbeiteten Schriften selbst, habe ich in drey verschiedene Rubriken vertheilet: 1) Eigenthümliche Schriften, wohin alles dasjenige gehöret, was theils über[<126>] einzelne, theils über mehrere chemische Gegenstände zugleich, in eigenthümlichen Abhandlungen erscheinet. 2) Periodische Schriften: hierher gehören diejenigen Samlungen, worin mehrere Chemisten, Metallurgen etc. zugleich ihre Erfahrungen bekannt machen; folglich auch die Abhandlungen der verschiedenen Akademien, und alles Uebrige, worin nur hin und wieder ein in die praktische Chemie oder Metallurgie einschlagender Aufsatz vorkommt. Alles was indessen blos zur Naturlehre, Naturgeschichte überhaupt etc. gehöret, ist nicht für meinen Plan. 3) Lehrbücher. So vollständig ich auch bey Bearbeitung der vorigen Rubriken zu seyn gesucht habe; eben so sehr habe ich mich bey den letztern eingeschränkt. Lehrbücher enthalten selten mehr, als eine Compilation der in andern Schriften bekannt gemachten neuen Erfahrungen; daher habe ich nur dasjenige vorzüglich ausgezeichnet, was ich hin und wieder an eigenthümlichen neuen Entdekkungen fand, und von der, jedem Verf. selbst beliebigen Einrichtung seines Werks, geben ich einen allgemeinen Abriß —

Unpartheylichkeit gegen Jedermann, und die strengste Liebe zur Wahrheit, sind meine Führer bey dieser Arbeit, wodurch ich meinen Lesern ein Buch in die Hände zu liefern wünsche, das sie als ein Repertorium der neuesten und wichtigsten in jedem Jahre erschienenen Litteratur, betrachten und benutzen können; und wodurch sie aus der Verlegenheit gerissen werden, sich so viel schlechtes mit dem guten zugleich, durch einen nicht geringen Kostenaufwand anzuschaffen, ohne jeoch eine vollständige Kenntniß des Ganzen zu vermissen. Dies sey ein kurzer Abriß von der Einrichtung meines Buchs, so wie von den Ursachen, die mich zu einer solchen, mit vieler Mühe verknüpften Unternehmung bewegen konnten. Gegen Johannis erscheint das erste Stück mit einem blauen Umschlag geheftet, dessen Beurtheilung mir entscheiden wird, in wie fern ich der Erreichung meines Ziels nahe gekommen bin.

Berlin im Aprilmonat 1787.

D. Hermbstädt.