ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: III, Stück: 3 (1785)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz,
Professor am Berlinischen Gymnasium.

Dritten Bandes drittes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1785.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Dritten Bandes drittes Stück.

Zur Seelenkrankheitskunde.

I.

Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit.

Streithorst, Johann Werner

Der litterarischen Gesellschaft zu Halberstadt vorgelesen am 23. Febr. 1784.
von Joh. Werner Streithorst, Domprediger zu Halberstadt.

Ich bitte um Erlaubniß, Ihnen H. H. eine ungewöhnliche Erscheinung in der moralischen Welt, nebst den Gedanken, die ich darüber gehabt habe, zur Beurtheilung und Prüfung mittheilen zu dürfen. Ich will mit der Erzählung dieses Vor-[2]falls, dessen Wahrheit ich verbürge, den Anfang machen. Das in aller Absicht merkwürdige Faktum ist folgendes:

Bald nach dem neuen Jahr wurd' ich zu einem Kranken gefodert, der das hitzige Fieber hatte und in sichtbarer Todesgefahr schwebte. Ich traf ihn völlig bei Verstande, ohnerachtet er vorher sehr phantasirt hatte. Seit dieser Zeit hab' ich ihn Anfangs täglich, nachher, bei zunehmender Besserung einen Tag um den andern besucht, und ihn zwar das eine mal stärker, das andre mal schwächer, aber doch immer verständig gefunden. Schon nach dem vierzehnten Tage fing sich der Patient zu bessern an, und die verdorbnen Säfte zogen sich an einen Theil des Körpers, wo sie allmählig abgeleitet werden konnten. Er hatte viel zu leiden, empfand es, war aber standhaft genug, alles auszuhalten. Mehrmals erinnerte sich der Patient, während dieser Zeit an Lehren und Trostgründe, die ich ihm mehrere Tage vorher zur Beherzigung empfohlen hatte. Er fragte und faßte meine Antwort, ich fragte und erhielt richtige Antworten. Nicht einmal in der Phantasie hat er ein ungebührliches Wort gesprochen, oder eine schlechte Handlung vorgenommen. Und in guten Stunden äusserte er durch Worte und That solche ächt christliche Gesinnungen, daß er allen, die wahre Herzensgüte zu schätzen wußten, nicht wenig Freude machte. Am Ende des Januars merkte ich [3]die Veränderung an ihm, daß seine Empfindungen lebhafter zu werden anfiengen, denn er wurde beredter und begleitete die frohesten Religionsgefühle gewöhnlich mit Thränen. Einige Tage darauf war mit ihm eine noch auffallendere Veränderung vorgegangen. Er war munter, lebhaft und sprach mit größern Zusammenhang und stärkerer Stimme. Er empfieng mich und andere, als wenn wir ihn das erstemal besucht hätten. Zugleich erklärte er mir, daß er nicht wisse, was mit ihm vorgegangen sey, man habe ihm gesagt, daß er mehrere Wochen krank gewesen, aber es sey ihm, als wenn er nur einen Tag länger gelebt hätte. Selbst von den öftern schmerzhaften Operationen des Wundarztes wußte er sich nur an eine einzige ganz dunkel zu erinnern, die, nach seinem Ausdruck, wie im Traum geschehen und von ihm nicht sonderlich empfunden sey. Zum Behuf dieser Operation war er ausser Bette gebracht worden. Er konnte sich weder an meine vorigen Besuche noch Reden erinnern. Ich stand voller Verwunderung da, that allerlei Fragen an ihn, den vorhergehenden Zustand betreffend, und er konnte mir keine einzige beantworten, so gern er's auch gethan hätte. Kurz! es war, als wenn er aus dem Lethe getrunken hätte. Ueber die Verwandelung, die mit ihm vorgegangen war, gab er mir selbst folgende Auskunft: daß er sich am letzten Tage von seinem Krankenlager auf ein gehörtes Klingeln an der Thür mit großen Un-[4]vermögen aus der Stube nach der Thür hingeschleppt, dieselbe geöffnet und ein ihm bekanntes armes Kind welchem er bisweilen ein Stück Brod oder einen Pfennig zu geben pflege, mit bloßen Füßen auf dem beschneieten Tritt gefunden habe, daß er aber dasselbe dieses mal abgewiesen, weil es ihm unmöglich geschienen habe, diesen Weg, um ein Allmosen zu hohlen, bei ganz erschlafften Gliedern noch einige mal thun zu können; es sei ihm aber hinterher sehr nahe gegangen, das arme Kind abgewiesen zu haben. Das sei die letzte Begebenheit, woran er sich erinnern könne. Damit habe sich auch sein Bewußtseyn wieder angefangen. Vor einigen Tagen nämlich sey ihm gewesen, als stünde das Kind barfuß vor dem Bette und heische eine Gabe, dieses Bild habe ihn erst nicht verlassen wollen. Allmählig aber wären andre Vorstellungen gekommen, er habe nun nach und nach wieder hören und sehen können, was um ihn her vorgegangen sey und endlich habe er am vierten Tage darauf eine solche Veränderung in seinem Kopfe gespürt, welche er mit Worten nicht ausdrücken könne, die ihm aber eine solche Freude gemacht habe, als wenn ihm wer weiß was geschenkt wäre. Die sichtbare Rührung des Patienten ließ an dieser Versicherung nicht zweifeln; so wie überhaupt die oben schon bemerkte Rechtschaffenheit des Kranken, sein christliches Verhalten während der Krankheit auch nicht den geringsten Verdacht gegen die versicherte [5]Vergessenheit des ganzen vorherigen Zustandes, die eine Operation des Wundarztes ausgenommen, Statt finden läßt. Hier haben Sie also, M. H., ein Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit eines fünfwöchentlichen Zustandes. Die ganze Zwischenzeit zwischen dem wirklichen Anblick des Kindes und der Erscheinung desselben in dem Gedächtniß, die einen Zeitraum von wenigstens fünf Wochen begreift, ist dem Kranken, im eigentlichsten Verstande, verschwunden.

Ich überlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwürdig. Ich bemerke zum voraus folgendes:

1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermögen verloren, es ist nicht Schwäche seines Gedächtnisses, als Vermögen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich übrigens auf die größten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehören.

2) Er hat während der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er äusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden.

[6]

3) Die Reihe von Eindrücken und Vorstellungen, welche der Patient in dem Zwischenzustande gehabt hat, ist entweder gänzlich wieder aus der Seele verschwunden oder so verdunkelt worden, daß ihre Erneuerung nicht möglich ist.

4) Das Sonderbare liegt darin, daß er sich an nichts als die eine Operation des Wundarztes erinnern kann, und daß sich die Vorstellungen bei wieder lebhafter gewordnen Bewußtseyn an jene anreihen, womit sich das lebhaftere Bewußtseyn verlor, daß der Kranke mit eben dem Gedanken gleichsam wieder erwachte, mit welchen er eingeschlummert war.

Es entsteht also die dem Psychologen wichtige Frage:

Wie ist's möglich, daß eine lange Reihe von Eindrücken und Vorstellungen, so in der Seele verdunkelt werden kann, daß der letzte Gedanke, der vor denselben hergieng, der erste wird, womit die lebhaftern Eindrücke und Vorstellungen wieder beginnen?

Oder

Wie ists möglich, daß unter den erinnerlichen Dingen — im Gedächtniß — eine so grosse Lücke entstehen kann, und daß sich Vorstellungen an einander reihen können, zwischen welchen doch eine grosse Menge anderer in der Mitte lag, die wie abgerissene Stücke einer Kette zerstreuet werden und sich ganz verlieren?

[7]

Ich will es versuchen, diese Frage aufzulösen. Eine bekannte Erfahrung ist es, daß gewisse Eindrücke und Vorstellungen, bei Mangel der Aufmerksamkeit und Beobachtung, die Seele so leise berühren, daß davon gar keine Spur zurückbleibt. So geschieht es, daß viele mit offnen Ohren nicht hören, und mit unverschloßnen Augen nicht sehen. Wenn wir ein Buch lesen, und haben dabei fremde Gedanken, so machen die Worte einen gewissen schwachen Eindruck auf uns, und bringen auch wohl manche helldunkle Vorstellungen hervor, alles aber vermischt sich mit jenen fremden Gedanken und wir wissen am Ende nicht, was wir gelesen haben. Die Erinnerung hängt von der Stärke der Eindrücke und von der Lebhaftigkeit der Vorstellungen ab, je schwächer beide sind, desto schwerer ist nachher die Erinnerung und beim geringsten Grade dieser Stärke und Lebhaftigkeit ist die Vergessenheit unvermeidlich. Darum verwischen sich unzählige Eindrücke in unsrer Seele, wie die zu lose aufgetragnen Farben des Pastelmahlers. Wir verlieren auf diese Art Millionen Vorstellungen wieder, die wir einmal gehabt haben, dergestallt, daß, wenn wir sie in Zukunft mit grösserer Lebhaftigkeit bekommen, sie uns ganz neu zu seyn scheinen. Ich habe in manchem meiner Bücher die merkwürdigsten Stellen unterstrichen, und beim Wiederlesen waren sie mir so neu, als sie es das erstemal nur immer gewesen seyn mögen. Also Stärke der Eindrücke und [8]Lebhaftigkeit der Vorstellungen macht die Erinnerung möglich und leicht.

Diese Stärke und Lebhaftigkeit hängt aber nicht immer blos von der eignen Stimmung der Seele ab, wie in dem eben benannten Falle; sondern auch von der körperlichen Beschaffenheit. Es gibt nämlich körperliche Zustände, welche nur schwache Eindrücke und matte Vorstellungen zulassen. Von der Art muß der Zustand des Menschen in der ersten Kindheit seyn, weil wir uns von daher auf nichts zu besinnen wissen. Im hohen Alter pflegt das Gedächtniß Lücken zu bekommen, das ist, manche Eindrücke und Vorstellungen können da entweder nicht so leicht oder überall nicht wieder hervorgebracht werden. Der Grund davon liegt ebenfalls in der Beschaffenheit des Körpers.

Dasjenige in unserm Körper, wovon diese Stärke und Lebhaftigkeit abhängt, ist ohnzweifel die Stärke und Spannung der Nerven. Von ihrer Beschaffenheit hängt es ab, wenn wir schwächere oder stärkere, mehr oder minder lebhafte Vorstellungen bekommen; so wie es ebenfalls davon abhängt, ob wir sie reproduziren können, oder nicht, denn bei diesem Reproduziren braucht die Seele den Körper, sie läßt das Gehirn und die Nerven so spielen, wie sie zu wirken pflegen, wenn sinnliche Vorstellungen von aussen in die Seele gebracht werden, weshalb anhaltendes Nachdenken den Körper ermüdet und Kopfweh verursachen kann. Wel-[9]chen Grad der Spannung die Nerven haben müssen, wenn unsere Eindrücke die gehörige Stärke und unsere Vorstellungen die gehörige Lebhaftigkeit erlangen sollen, läßt sich auf keinen Fall bestimmen. Aber soviel ist gewiß, daß zwischen beiden Extremen, zwischen zu hoher Spannung und völliger Erschlaffung ein mittlerer Tonus Statt haben muß, wenn die Eindrücke und Vorstellungen die gehörigen Grade der Stärke und Lebhaftigkeit bekommen sollen. Ueberspannung erzeugt Schwärmerei Wahnsinn und Narrheit. Erschlaffung verursacht zu schwache Eindrücke, zu matte Vorstellungen, die wie Irrlichter im Kopfe umhergaukeln, aber wie diese auch leicht verschwinden und bald wieder ausgelöscht werden können. Beide Zustände lassen keine dauerhafte Eindrücke zu, weil die Seele im ersten Fall überladen, und im zwoten gleichsam zu leise berührt wird. Die Empfindungswerkzeuge treiben da mehr ihr eigenes Spiel, als daß sie von äusserlichen Dingen in Bewegung gesetzt werden sollten. Die Seele kann also während solcher Zeit weder vollständige noch dauerhafte Vorstellungen bekommen.

Erschlaffung der Nerven war der Zustand, worin sich unser Patient befand, und dieser Zustand dauerte einige Wochen fort. Die Eindrücke und Vorstellungen konnten zu wenig auf seiner Seele haften, und wurden daher auch leicht wieder verwischt. Nach und nach hob sich die Kraft des [10]Körpers und mit einem mal erreichten die Nerven den gehörigen Grad der Spannung wieder, sie wurden wieder heraufgestimmt, die Lebensgeister kamen wieder in gehörigen Umlauf. Das verursachte dem Kranken das bis dahin ungewohnte Gefühl des Wohlseyns, welches mit der lebhaftesten Freude verbunden war. Jetzt strömten ihm, gleich einem aufgehaltenen Strom, von allen Seiten neue Eindrücke entgegen. Jene Erschlaffung hatte nur schwache Eindrücke und Vorstellungen zugelassen, die also ohnehin nicht leicht reproducirt werden konnten. Um desto eher konnten sie von den neuen weit stärkern Eindrücken so überwältiget werden, daß von ihnen keine Spur übrig blieb. Nur der Eindruck von der einen Operation des Wundarztes war stark genug gewesen, um fortdauern zu können, bei welcher Gelegenheit die Nerven eine grössere Spannung durch die Vorbereitungen zur Operation bekommen hatten, denn der Patient war bei dieser Gelegenheit ausser Bette gebracht worden.

Warum aber knüpfte sich der erste Gedanke des lebhafter werdenden Bewußtseyns an den letztern, welchen die Seele hatte, als diese Lebhaftigkeit anfieng einzuschlummern? — Bestimmt kann ichs nicht sagen, aber ich darf vermuthen. Wahrscheinlich nahm die Spannung der Nerven in dem Grade zu, in welchem sie vorher abgenommen hatte, und hatte zu der Zeit, da der Seele das Bild des armen Kindes vorschwebte, eben den Grad [11]wieder erreicht, auf welchem sie stand, als der Knabe wirklich vor Augen war. Irgend eine Aehnlichkeit der Empfindung veranlaßte die Seele, die damit vergesellschafteten Empfindungen und Vorstellungen zu gleicher Zeit hervorzubringen. Auch konnte dieser Eindruck darum zuerst wieder aufleben, weil er der letzte war, der sich tief eingepräget hatte. In der Körperwelt findet sich etwas analogisches. Manche Krankheiten bleiben in ihrer Entwickelung, wenn eine neue dazu kommt, so lange zurück, bis die neue Krankheit gehoben ist. Es giebt Personen, welche sich keines Traums in ihrem ganzen Leben zu erinnern wissen. Und doch ist höchst wahrscheinlich, daß ihre Seele nicht mit dem Körper ruhet. Sie haben zu schwache Vorstellungen im Schlaf, welche keine Spur in der Seele zurücklassen und beim Erwachen des Körpers durch die neuen Eindrücke mit einemmal verdrängt werden.

Ich füge noch einige merkwürdige Exempel dieser Art hinzu. Ein Schullehrer in Briezke bei Frankfurt an der Oder hatte mehrere Wochen an einem hitzigen Fieber darnieder gelegen. Sein Tod schien unvermeidlich zu seyn. Er starb endlich nach der Meinung der Umstehenden. Man brachte den vermeintlich entseelten Körper in eine Kammer aufs Stroh. Die Frau konnte mit ihren fünf Kindern vor Bedrübniß nicht im Hause bleiben, sondern begab sich zu einen Nachbar, schick-[12]te nach Frankfurt und ließ einen Sarg hohlen. Der Sarg kam, und die Frau sah sich genöthiget in ihr Haus zurückzukehren, um den Todten in den Sarg zu bringen. Sie öffnete die Thüre, und hatte einen Anblick der über alle Beschreibung ist. Ihr Mann saß angezogen beim Hackeblock und machte Küchenholz, wie er sonst zu thun gewohnt gewesen. Sie stand betäubt da, bis sie durch das Zureden des Mannes wieder zu sich selbst kam. Der Mann erkundigte sich nach der Ursach ihres Erstaunens und der gemachten Anstalten. Man erzählte ihm alles, und es war ihm unglaublich, denn er konnte sich nicht einmal besinnen, daß er krank gewesen sey. Nach einem halben Jahre erst war er im Stande, sich der während der Krankheit geschehenen Begebenheiten zu erinnern (sieh. d. Berichte der Buchhandl. der Gel. v. 1785.) a

In einer nahmhaften Stadt Frankreichs ereignete sich folgender sonderbare Vorfall. Ein Mann hielt auf dem Gerüste eines zu erbauenden Hauses eine Rede. Das Gerüste stürzte nieder und er mit demselben, so daß er für todt nach Hause getragen wurde. Er lag einige Tage Sinn- und Sprachlos. Als er wieder zu sich selbst kam, setzte er seine Rede fort, die durch den Einsturz des Gerüstes unterbrochen war.

Vom Professor Musäus in Weimar, dem Verfasser der physiognomischen Reisen b und der Volksmährchen der Deutschen, c ist mir erzehlt worden, [13]daß er einst nach einer gewissen Krankheit so wenig Besinnungskraft gehabt habe, daß ihm das Alphabet selbst ganz fremd gewesen, und er daher genöthiget worden sey, mit den Elementen der Schriftsprache wieder den Anfang zu machen, bis nach einiger Zeit alles Licht in seine Seele zurückgekehret sey.

Alle diese Beispiele, so wie das Meinige, beweisen, was vor ein unentbehrliches Instrument der Körper für die Seele sey, und wie viel auf der Güte des Instruments und seiner Stimmung beruhe. Die Antwort ist mir sehr eindrücklich geblieben, welche ein gelähmter Greiß seinem Arzte gab, der ihm den groben Materialismus aus seinem gegenwärtigen Unvermögen beweisen wollte. Geben sie einmal, sagt' er, dem Virtuosen auf der Violin eine Kindergeige, wird dieser weniger Virtuose seyn, weil er mit einem solchen Instrument keine Harmonien zu Stande bringen kann? Es ist unleugbar, daß der menschliche Geist oft mechanisch wirkt; aber man würde sich sehr übereilen, wenn man daraus schliessen wollte, daß er so mit dem Körper vereinbart sey, daß er selbst nur eine Modification gewisser innerer Theile des Körpers, sey, welche gleichsam die Punkte wären, von welchen die Wirkungen ausgehen, und worin sich die Empfindungen endigen. Kann der Punkt sich selbst denken und war je ein Spiegel Beobachter und Gegenstand der Beobachtung zugleich? Wahrlich! [14]das wäre räthselhafter, als das geheimnißvolle Dunkel, welches dem Menschen sein Innerstes Wesen verbirgt. Wahrlich! es wäre das räthselhafteste Räthsel, wenn unsere Gedanken so an unsern Nerven hafteten, wie die Perlen auf einem Faden zusammengereihet werden, und wenn die gerißne Schnur sich selbst wieder zusammenknüpfen, nur nicht alle zerstreuete Perlen wieder aufreihen könnte. Solche Erscheinungen, wie die angeführten, irren mich in dem Glauben an die höhere Natur und Bestimmung des menschlichen Geistes nicht, vielmehr bestätigen sie mir beides. Das Kind ist nicht für das vollkommne Instrument und das vollkommne Instrument nicht für das Kind. Aber wenn es die erste Stufe seiner Bildung glücklich vollendet hat, so wird man ihm das vollkommnere Instrument anvertrauen können, und es wird in die Harmonien der Engel einstimmen.

Erläuterungen:

a: Carl Christoph Reiche gründete 1781 die Buchhandlung der Gelehrten in Dessau. Im April desselben Jahres erschien das erste Heft der Zeitschrift Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten. Die Zeitschrift erschien monatlich bis Dezember 1784, jedoch wurde in einigen Bibliotheken die Jahresangabe 1785 aufgenommen. Vorlage für diese Fallgeschichte ist der Aufsatz 'Ueber die Gewohnheit, die Todten in Särgen zu begraben', Anonym 1784, S. 911f.

b: Musäus 1778/1779.

c: Musäus 1782-1786.

II.

Sonderbare Gemüthsbeschaffenheit eines alten Mannes, der sich einbildete, daß er geschlachtet werden solle.

Donndorf, Johann August

Johann Christoph Becker, (dies ist der Name des Mannes, über dessen sonderbaren Seelenzustand ich jetzt etwas gegen sie zu erwähnen gereizt [15]werde) ist im Jahr 1710 zu Halberstadt von geringen Eltern geboren, und lebt noch bis jetzt hier in Quedlinburg, wo er seit mehr als 40 Jahren, bei der Fürstl. Stifts-Pröbstey, a als Pröbsteybote in Diensten gestanden. Einen feinen Verstand, oder offenen Kopf, wie man bei dergleichen Leuten nach ihrer Art doch auch manchmal antrift, hat er nie gehabt. Er ist immer etwas simpel, aber doch in seinem Dienst überaus getreu und ehrlich gewesen, so, daß ich ihm in den sieben Jahren, da er unter mir gestanden nicht eine einzige Veruntreuung oder Bosheit nachreden kann, welches ich auch von meinem Vater, der vor mir an meiner Stelle gewesen, und über 30 Jahr mit ihm zuthun gehabt hat, erfahren habe. Bei aller seiner Einfalt hat er doch aber von jeher, immer die Gabe gehabt, Leute von seiner Art, in Gesellschaften, ohne jedoch ins Unanständige zu verfallen, zu ammüsiren, wozu besonders das sehr viel beitrug, daß er von Jugend auf, häufige Historienbücher gelesen und eine Menge von alten Geschichten und Anekdoten in seinem Kopfe hatte, von denen er auch zuweilen eine ziemlich passende Anwendung zu machen wuste. Mit seinem Posten ist die Stelle eines Zehendmeisters b verbunden, und da er auch dies Amt an die 40 Jahre verwaltet hatte, so waren in der wirklich weitläuftigen Feldflur, die er unter seiner Aufsicht hatte, wenige Stücke Acker, deren Eigenthümer und Gerechtigkeiten er nicht gewußt [16]hätte. Doch konnte er gar leicht confus gemacht werden, wenn man es entweder darauf anlegte, ihn zu verwirren, oder auf die Probe zu stellen, oder wenn er sonst auf irgend eine Art, aus seinem gewöhnlichen Zuge kam.

Seit ohngefähr 12 bis 15 Jahren hat das Gedächtniß angefangen, ihn zu verlassen, und dieser Fehler hat von Zeit zu Zeit merklich zugenommen. Man mußte ihm eine Sache mehr als einmal bestellen, wenn er sie begreifen, und nicht wieder vergessen sollte, und doch richtete er seine Aufträge oft ganz verkehrt aus. Mehr als einerlei durfte man ihm auch nun nicht auftragen, weil er sonst oft eins mit dem andern verwechselte. Sein Gedächtniß nahm endlich, seit 5 Jahren dergestallt ab, daß er unten im Hause schon alles wieder vergessen hatte, was ihm auf meiner Stube gesagt war. Ich mußte ihm daher einen Denkzettel machen, und alles aufschreiben was er ausrichten sollte. Aber auch dies gieng endlich nicht mehr, denn er vergaß den Zusammenhang und konnte, des Denkzettels ohnerachtet, wenn er an den Ort seiner Bestimmung kam, sich nicht besinnen, was er sagen, oder wie er es vorbringen sollte. Doch behielt er dabei noch übrigens immer seinen gesunden Menschenverstand, sahe auch diesen Fehler selbst ein, und bat immer, daß man nur mit ihm Geduld haben mögte, weil er es nicht ändern könnte.

[17]

Da er aber unter diesen Umständen zu seinem Dienste völlig unbrauchbar wurde, und demselben länger nicht vorstehen konnte, der Frau Pröbstin Hochfürstl. Durchlaucht aber ihn, da er ein alter Mann, und in seinem Dienste immer ehrlich befunden war, nicht verstossen wollten, liessen Höchstdieselben ihm vor 2 Jahren seinen Sohn adjungiren, jedoch so, daß der alte Mann alle mit seinem Dienste verbundene Revenüen, bis auf einige kleine Accidenzien, Lebenslang behalten soll, und sein Sohn so lange besonders salarirt wird.

Von dieser Zeit, ja, ich möchte beinahe sagen, von dem Tage an, da ihm diese Wohlthat, worum er doch selbst gebethen hatte, widerfuhr, und er nun aus aller Thätigkeit gesetzt wurde, fing sein Verstand an, zu scheitern, und alle seine Seelenkräfte merklich abzunehmen. Das Gedächtniß verläßt ihm von Tage zu Tage immer mehr, wobei jedoch das etwas Auffallendes ist, daß er sich solcher Dinge, die vor 30 bis 40 Jahren geschehen, und besonders ihm selbst wiederfahren sind, noch oft recht gut erinnert, auch von dem, was er einzunehmen, wenns auch nur Kleinigkeiten sind, nichts vergessen hat. Seit einem Jahre hat er sich den unglücklichen Gedanken im Kopf gesetzt, daß er geschlachtet, und aus seinem Fleische Würste gemacht werden sollten. Und es ist kein Mensch im Stande, ihm diesen Gedanken zu benehmen. Daß es keine Verstellung ist, davon [18]bin ich hinlänglich überzeugt, denn er hat je, weder Bosheit noch Verstand genug gehabt, eine solche verstellte Rolle zu spielen. Hiezu kömmt, daß er jämmerlich aussieht, vor Furcht und Angst über sein Schicksal wie der Tag vergeht, und keine Nacht Ruhe hat. Oft steht er auf, sich zum Tode zu bereiten, kleidet sich an, und behauptet strenge, daß der Wagen vor der Thür wäre, auf dem er zu seinem Ende abgeholt werden sollte. Ich habe ihn oft zu mir kommen lassen, um ihn seine wahnsinnigen Ideen durch vernünftige Vorstellungen, denen er auch ruhig Gehör giebt, auszureden. Er versichert auch, daß er in meinen Vorstellungen sehr viel Beruhigung fände, kömmt oft von selbst wieder, mir sein Leiden zu klagen, welches aber immer einerlei ist, und geht, wenn ich all meine Beredsamkeit zu seinem Troste angewendet habe, ganz beruhiget wieder von mir. Es währt aber kaum einen oder zween Tage, so erwachen die vorigen Vorstellungen wieder in ihm, und alle Beruhigung ist wieder verschwunden. Er klagt mir, daß ein langer vornehmer Mann ihn nach dem Leben trachte, dem er nicht entgehen könnte, und man hat, wenn man mit ihm spricht, die größte Behutsamkeit nöthig, um sich nicht im mindesten eines, auch nur scheinbar harten Ausdrucks zu bedienen, weil er sonst gleich glaubt, man sey sein Feind, und wolle ihn umbringen. Oft springt er des Nachts auf, um ins Feld zu gehen, und die Zehendarbei-[19]ten zu besorgen; er will auch oft alsdenn seine Frau, (mit der er sich in vorigen Zeiten nicht gut vertrug) schlagen, doch hält er gleich ein, so bald diese ihm sagt, daß sie ihn bei seiner Herrschaft verklagen wollte; denn er ist sehr furchtsam. So sehr er auch am körperlichen Kräften augenscheinlich abnimmt, und so wenig Ruhe er auch des Nachts hat, (denn er schläft fast gar nicht,) so hat er doch als ein 75 jähriger Mann, sehr starken Appetit, und ißt ungemein. Seine größte Besorgung, die er auch oft äussert, besteht darin, ob er auch Lebenslang Brod haben werde. Wenn man ihm seine albernen Phantasien aus dem Sinne geredet hat, so sieht er zu der Zeit seine Thorheit selbst ein; es kommen auch Stunden, wo er von freien Stücken davon zu reden anfängt, und sich beklagt, daß es in seinem Kopfe oft so unrichtig zuginge; dies währt aber nicht lange, so verfällt er wieder in seinen vorigen Zustand. Aus der Religion hat er immer viel gemacht; auch ist er niemals ein Säufer gewesen. Daß ihm bei seinem hohen Alter das Gedächtniß verlassen hat, darüber würde ich mich eben nicht sehr wundern, wie er aber auf einmal auf den unglücklichen und ihm nicht auszuredenden Gedanken hat verfallen können, daß er geschlachtet werden sollte, davon weiß ich gar keinen Grund anzugeben.

Erläuterungen:

a: Eine Propstei oder Probstei war je nach Glaubensrichtung entweder ein Kloster oder ein Verwaltungsamt einer Kirche. Der Vorsteher war ein Propst.

b: Der Zehnte, Zehnt oder Zehend war eine Steuer oder Abgabe von ungefähr 10 Prozent an die Kirche oder an den Grundherrn (Adelung 1811, Bd. 4, Sp. 1665).

[20]

III.

Ahndendes Vorgefühl der Krankheit.

Anonym

Ich stand in dem vorigen 7 jährigen Kriege als Feldprediger bei einem Regiment, das in einer angesehenen Stadt in Schlesien in die Winterquartiere kam. Ich war kurz vor dem Ende des Feldzuges genöthiget gewesen, auf dringendes Ansuchen meiner Anverwandten, bei dem Commandeur des Regiments, auf einige Wochen um Urlaub anzuhalten; um meine sterbende Mutter, die ein großes Verlangen, mich noch vor ihrem Ende zu sehen, bezeiget hatte, noch vor ihrem Tode zu sprechen. Ich fand sie schon bei meiner Ankunft in meine Vaterstadt auf der Bahre, und kam nur so eben zur rechten Zeit, um ihrem Sarge nachfolgen zu können. Ich hielt mich noch einige Wochen bei meinem Vater auf, und sobald ich von dem Regiment die Nachricht erhalten hatte, daß es in der erwehnten Stadt in die Winterquartiere sey verleget worden, reisete ich, ohne weiteren Verzug, und nach völlig besiegter Traurigkeit, von meiner Vaterstadt dahin ab. Ich war kaum einige Tage bei dem Regiment wieder angekommen, als ich bei einem heiterm Tage einen Spaziergang um die Stadt that, und auf demselben auf den in der Vorstadt belegenen, sehr schön angelegten Kirchhof kam. So angenehm mir das Aeussere desselben auch in [21]die Augen fiel, so konnte ich mir doch unter einem empfindlichen Schauer nicht des Gedankens erwehren, sollte auch wohl auf diesem Kirchhof dir dein Grab bestimmet seyn? Es erwachte damit das Angedenken an meine verstorbene Mutter, und an die Beerdigung derselben, daß ich in geraumer Zeit mich nicht von diesem Gedanken, und von den damit einmal verbunden gewesenen Nebenvorstellungen losmachen konnte. Ich befand mich indeß gesund und stark, und wohnte bei einem Wirthe, der vieles Vermögen besaß, und mich sehr lieb gewann. Er ließ mich an allen seinen Gesellschaften, die insgesammt sehr vortreflich waren, Antheil nehmen; und es fehlte mir auch sonst bei dem Regiment nicht an angenehmen und guten Umgang: daß darüber der Eindruck jener traurigen Vorstellung, die ich indeß, weil sie mir doch ihrer Lebhaftigkeit wegen, zu merkwürdig schien, einigen guten Freunden, ganz beiläufig mitgetheilet hatte, nach und nach sich fast gänzlich verdunkelt hatte.

Indeß werde ich kurz vor dem Ende der Winterquartiere in ein Lazareth, das in einer weit entlegenen Vorstadt befindlich war, gerufen. Es war das bei den vielen Kranken, die das Regiment insonderheit in demselben Winter hatte, nichts ungewöhnliches. Ich gehe daher auch ohne das geringste Bedenken, oder ohne die geringste Empfindung von Furcht hin, wohin ich gerufen ward. Allein indem ich das Haus betrat, und mir die Laza-[22]reth stube, in welche ich war gerufen worden, geöfnet wurde, so sahe ich einen starken Qualm aus derselben herauskommen: und indem ich selbst hineintrat, sahe ich eine Anzahl von vielen Kranken auf beiden Seiten der Stube, neben einander liegen, wodurch freilich ein gewisser Schauer bei mir veranlaßt wurde, den ich aber sogleich unterdrückte, und wie ich glaubte, zugleich alle Furcht besiegte. Es war dieses an einer Mittwoche geschehen: an welchem mein Wirth bei einem andern guten Freunde zum Abendessen zu seyn pflegte. Ich hatte es versprechen müssen, wenn ich aus dem Lazareth nach Hause gekommen seyn würde, und er schon fortgegangen seyn sollte, ihm gewiß dahin zu folgen. Das geschieht, ich finde daselbst noch mehrere gute Freunde, die sämtlich eine Veränderung an mir zu bemerken glauben, und mich alle fragen, ob ich mich nicht wohl befinde, wie sie aus meinem Ansehen bald schliessen sollten. Ich empfand keine Ueblichkeit, keinen Schmerz, und beklagte es im Scherz, daß ich zu wenig verzärtelt worden sey, um mich für krank auszugeben und selbst zu halten, wenn gute Freunde solche Besorgniß für mich äusserten. Den darauf folgenden Donnerstag empfinde ich schon viele Trägheit, und insonderheit Kopfschmerz, und die äusserste Armuth an Gedanken, da ich die schon angefangene Ausarbeitung der Predigt fortsetzen wollte, die ich den künftigen Sonntag halten sollte. Den Freitag nimmt die Ueblich-[23]keit noch mehr zu, und ich fange an zu besorgen, ob ich auch wohl den Sonntag im Stande seyn werde, predigen zu können. Um recht sicher zu seyn, wünsch ich, mich vertreten lassen zu können, und geh um deswillen zu dem Feldprediger eines andern Regiments, der mit mir einen Sonntag um den andern predigen muste. Ich ersuche ihn, den nächsten Sonntag für mich die Predigt zu übernehmen, weil ich befürchtete, selbst nicht predigen zu können; ich würde gern zu einer andern Zeit ihm gleiche und alle mögliche Gefälligkeit erzeigen. Er entschuldigte sich aber: die Zeit sey für ihn dazu zu kurz. Ich würde gegen den Sonntag wohl wieder besser mich befinden, und auf allen Fall könnte bei beiden Regimentern alsdann die Kirchenparade abbestellt werden, und der Gottesdienst ausfallen. Das letztere war mir äusserst misfällig; und ich verließ ihn mit den Worten: das kann ich nicht zugeben, es komme denn auch wie es wolle. Den Sonnabend erhält die Ueblichkeit einen ganz ausnehmenden Grad; ich empfinde den heftigsten Kopfschmerz, und stehe dabei viel aus, an einer Verstopfung von einigen Tagen. Mein Wirth besuchet mich auf meiner Stube, und da er weiß, daß ich den folgenden Tag predigen soll: so erbietet er sich, dem Commandeur des Regimentes selbst von meiner Krankheit die Anzeige zu thun, und daß ich unmöglich predigen könne. Und hier drang sich der Gedanke mit größter Lebhaftigkeit hervor: Nein du must pre-[24]digen: predigest du nicht, so kömmst du nicht von dieser Krankheit auf; predigest du aber, so sey von deiner gewissen Wiederherstellung versichert. Und zum Zeichen davon nimm dies Merkmal, wenn du noch heute Oefnung erhältst. Ich antworte also nach dieser Vorstellung meinen Wirth, und bat ihn inständigst, dem Commandeur von meiner Unpäßlichkeit nichts wissen zu lassen, und mir nur einen Thee von Sennsblättern gütigst besorgen zu lassen. Das letztere geschieht sogleich, und es findet sich auch bald darauf ein Stuhlgang ein. Dadurch wurde nun in der damaligen Lage meines Gemüths, der Vorsatz selbst zu predigen, so ungemein verstärkt, daß mich keine Vorstellungen meines gütigen Wirthes davon zurückbringen konnten. Ich habe eine ziemliche unruhige Nacht, und befinde mich am Morgen äußerst entkräftet und so schwach, daß ich kaum vermögend bin, mich anzukleiden. Mein Wirth wiederholt seine Vorstellungen noch dringender. Es sey noch Zeit, die Kirchenparade sey noch nicht angetreten, und könne noch abbestellet werden. Es sey unmöglich, daß ich nur auf die Kanzel kommen, geschweigen dann predigen könne. Ich dankte ihm für seine Freundschaft, und bat ihm, davon nichts mehr zu erwähnen, ich müste predigen. Mein Leben hinge von dieser Predigt ab. Ich gehe also fort, mit schwankenden Schritt und taumelnden Kopf. In der Sacristei finde ich dem Feldprediger des andern Re-[25]giments schon gegenwärtig. Er sieht mich mit zurückgehaltener Erstaunung an. Ich bat ihn, kurz vorher ehe ich auf die Kanzel ging, genau nach der Uhr zu sehen, und sobald ich eine halbe Stunde würde geprediget haben, mir ein Zeichen zu geben. Die Officiere und insonderheit die beiden Obersten saßen sehr nahe bei der Kanzel; meine Stimme, die schwach und zitternd war, meine Gesichtsfarbe, meine ganze Stellung war ihnen zu auffallend, als daß sie nicht auf einen hohen Grad der Krankheit hätten schliessen sollen, die davon die Ursach sey. Endlich höre ich das verabredete Zeichen, des andern Feldpredigers, ich schließe meine Predigt und gehe nun halb ohnmächtig von der Kanzel. Zu Mittage bin ich bei meinem Wirth zu Tische, ohne freilich etwas zu geniessen. Ich bin kaum wieder auf meiner Stube, so muß ich mich ins Bette legen. Um 4 Uhr Nachmittags sahe ich Flecken auf meinen Händen, und in der Fieberhize vermuthe ich daß es die Kräze sey: Mein Wirth hatte indeß Anstalt gemacht, daß eine ordentliche Cur mit mir vorgenommen werden möchte. Er hatte den Arzt bestellt, und der findet mich schon im grösten Delirio. In 4 Wochen weiß ich nun nicht, was alles mit mir vorgenommen worden ist, oder was ich geredet oder gethan habe. Man hat mir verschiedenes davon erzählt, z.E. ich ließ den Auditeur des Regiments zu mir bitten, und ersuchte ihn, an meinen Vater zu schreiben, und [26]zwar von Wort zu Wort, wie ich es ihm vorsagte: Er möchte nächsten Morgen Vormittag wieder kommen, ich wollte gern eine Abschiedspredigt an das Regiment halten, und die wollte ich ihm dictiren. —— Von alle dem aber war nicht die geringste Erinnerung in meiner Seele zurückgeblieben. Sobald ich aber wieder zum eigenen Bewußtseyn kam, so war der erste Gedanke, mit dem ich gleichsam zu denselben erwachte, der, du hast gepredigt, und nun wirst du wieder gesund — und nimm die Erfüllung dieser Versicherung als ein Merkmal von einer andern Versicherung an, die in Zukunft auch gewiß nicht unerfüllt bleiben wird. —

[27]

Zur Seelenheilkunde.

I.

Heilung des Wahnwitzes durch Erweckung neuer Ideen, in zwei Beispielen.

Reiske, Ernestine Christiane

Juliane Zernigalin, ein Mädchen von sehr lebhafter Einbildungskraft, ungefähr 17 bis 18 Jahr alt, war in unsern Diensten, als ich noch bei meiner Mutter unverheirathet lebte. Sie war fleißig, und bezeigte immer grosse Lust etwas zu lernen; dabei machte sie aber viel Entwürfe auf die Zukunft. Einen Verwandten, der nach Ostindien gegangen war, sahe sie nicht nur täglich in Gedanken sehr reich zurückkommen, sondern ihr träumte auch oft davon. Ueberhaupt beunruhigten mich ihre Träume sehr; denn ich ließ sie in meiner Schlafkammer schlafen, weil unsere übrigen Kammern zu entfernt waren.

Von allem, was sie des Tages gesehen oder gedacht hatte, träumte ihr des Nachts. Waren es nur gewöhnliche Dinge gewesen, die ihre Leidenschaften nicht erregt hatten, so sprach sie nur mit mäßiger Stimme; die mich oft aufweckte, die ich aber, wie das mäßige Rauschen eines Wassers gewohnt ward. Allein wenn ihr etwas angenehmes [28]oder unangenehmes wiederfahren war, konnte ich keinen Augenblick schlafen. Hatte sie auch nur in der Ferne Musik gehört, so tanzte sie im Schlafe, warf sich im Bette herum, und sang die Melodie der Tänze, (ihr verstorbner Vater, obgleich von seinem 12. Jahre an blind, war ein geschickter Musicus gewesen) mit so starker Stimme, daß ich zu ihr gehen und sie aufwecken mußte, damit das Kind meiner verstorbnen Schwester, dessen Wiege vor meinem Bette stand, nicht im Schlafe gestört ward; das zum Glücke immer fest schlief.

Um sie zu ermuntern, mußte ich sie allezeit in die Höhe richten und lange schütteln. Zuweilen zankte sie im Schlafe sehr heftig, mit jemanden, der Obst aß, und dem Kinde nichts davon geben wollte — und überhaupt träumte ihr oft vom Obste. Ihr väterliches Haus lag mitten in einem grossen Obstgarten.

Dabei war sie aber von Natur gutmüthig, und folgte gerne den Ermahnungen, die ich ihr zuweilen gab, wenn ich ihre kleinen Thorheiten des vorigen Tages in der folgenden Nacht, aus ihren Sprechen erfahren hatte.

Sie ward bald mit einem wohlgestalten jungen Manne, von ihres Vater Stande, der das väterliche Haus annahm, dem Ansehen nach glücklich verheurathet; und ich hatte nach meiner Verheurathung wohl in zehn Jahren nichts von ihr gehört, als ich meine Vaterstadt besuchte, wo man mir [29]sagte, daß sie seit länger als einem Jahre, den Verstand verloren, und vom Arzte und Beichtvater als unheilbar aufgegeben sey.

Man erzählte mir: Ihre beiden kleinen Töchter wären zugleich an Blattern a gestorben, von welchen sie die Jüngste noch an der Brust gehabt. Das Zurücktreten der Milch und ihre unmäßige Betrübniß, wären ohne Zweifel die Ursachen einer grossen Bangigkeit gewesen, die sie auf den Gedanken gebracht, sie habe die Ehe gebrochen, und zur Strafe dafür, sey ihr etwas in den Leib gehext worden, das ihr unaufhörlich Angst verursache, und ihr nicht zuliesse, etwas zu arbeiten. Solche traurige Vorstellungen und ihr Müßigsitzen, hätten nun natürlicher Weise ihr Uebel täglich vermehrt.

Ich ging zu ihr hin und traf sie an, daß sie an einem Tische, mit unter dem Kopf gestemmten Armen und niedergeschlagnen Augen saß. Ihre Mutter rief ihr mit Ungestüm zu, ob sie mich nicht kennte? Sie sahe mich an, schlug aber gleich die Augen wieder nieder, und sagte endlich, da sie mich wieder fürchterlich starr ansahe: Als ich bey ihnen diente, war ich glücklich; damals hatte ich noch keine Sünde und Schande begangen, hätte ich nur die Ehe nicht gebrochen!

Hierauf erzälte sie mir die ganze unglückliche Geschichte, die ihre Einbildungskraft erfunden hatte. Kurz: des Nachbars Sohn sollte ihr getrock-[30]nete Pflaumen gegeben, und als sie die gegessen und davon so schläfrig geworden, daß sie wieder ihren Willen eingeschlafen, die Ehe mit ihm gebrochen haben.

Ich ersuchte die Mutter, uns allein zu lassen; weil ich merkte, daß die sehr unsanft mit ihr sprach, und bemühete mich alsdann, ihr das unwahrscheinliche in ihrer Erzählung, aus mancherlei Gründen zu zeigen; allein ich konnte damit nichts ausrichten, immer klagte sie nur: Hätte ich nur die Thorheit nicht begangen! Hätte ich nur die Ehe nicht gebrochen! Oder sie antwortete mir: Ja, das können sie wohl sagen, sie haben die Ehe nicht gebrochen!

Vergebens suchte ich sie zu überzeugen daß ihre innerliche Bangigkeit natürliche Ursachen habe; sie blieb dabei, daß ihr zur Strafe ihrer Sünde etwas in den Leib sey gebannt worden.

Als ich endlich fand, daß ich nichts ausrichten würde, wenn ich ihr in Ansehung des Ehebruchs länger wiederspräche; sprach ich zu ihr von Gottes Erbarmen, und wie ich fest überzeugt sey, daß ihr Gott schon vergeben habe — endlich gebrauchte ich glücklicher Weise den Ausdruck: (doch weiß ich den Zusammenhang nicht mehr) Wenn wir gar keine Sünde thun könnten, so brauchten wir ja auch keinen Heiland. Hier stutzte sie; nach einigen Augenblicken traten ihr Trähnen in die Augen, und sie sagte mit grosser Bewegung: Ja, das ist wahr, wenn wir gar keine Sünde thun könnten, [31]brauchten wir ja auch keinen Heiland! Das wiederholte sie noch einigemale, als sie zuvor wieder eine Weile nachgedacht hatte. Nun ward sie ruhiger, versprach nicht mehr traurig zu seyn, sondern fleißig zu arbeiten. Ich ermahnte sie das zu thun, und stellte ihr vor, wie erfreut ihr Mann seyn würde, der, wie sie selbst sagte, bisher mit ihr soviel Geduld gehabt, wenn er sie bei seiner Zuhausekunft hübsch munter bey der Arbeit antreffen würde. Als sie mich zur Hausthüre heraus begleitet hatte, ergrif sie einen Spaten und sagte, sie wolle ein wenig graben. (Schon habe ich gesagt, daß ihr Haus in einem Garten lag.) Im Fortgehen erregte ich noch ihre Aufmerksamkeit auf den angenehmen Gesang der Vögel, und die niedlichen Grasblümgen.

Sie hielt ihr Versprechen, arbeitete fleißig, wobei ihr der von mir oben erwehnte, glücklicher Weise angebrachte Gedanke, (der für einen Lasterhaften sehr verderblich werden könnte,) unvergeßlich und tröstend blieb. Sie ward bald völlig gesund, und ist es nun schon seit länger als zehn Jahren geblieben, hat auch noch etliche gesunde Kinder gebohren.

Ohne Zweifel war der guten Frau, von ihrem Beichtvater, manches tröstende vorgesagt worden, nur war es in den gewöhnlichen Ausdrücken geschehen. — Der von mir gebrauchte, war ihr neu, darum that er eine so grosse Wirkung.

[32]

Ich bin dadurch in der Ueberzeugung bestärkt worden, daß man schwermüthigen Leuten nicht wiedersprechen, sondern nur ihre Aufmerksamkeit gleichsam, als von ungefähr, auf etwas ihnen neues zu richten suchen muß.

Z.B. Bei einer Jungfer, die täglich des Nachmittags, bis in die späte Nacht, seltsame Anfälle von Wahnsinn hatte, zeigten ein paar Worte aus Youngs Nachtgedanken, b die ich ihr zuweilen vorsagte, mehr Wirkung, als wenn ihr Geistliche und andere gute fromme Leute, die trostreichsten Sprüche aus der Bibel oder Liederverse vorsagten. Sie fühlte das selbst, legte es aber aus Liebe zu mir so aus, als ob mein Zureden, meiner ganz vorzüglichen Frömmigkeit wegen, eine so grosse Kraft habe.

Zwei Tage nach einander machte ich den Versuch, ihre wunderbaren Anfälle aufzuhalten, und er gelang mir. Den ersten Tag ging ich, gleich nach dem Mittagsessen, zu ihr, brachte das Gespräch auf die Verfassung des Weltgebäudes, von welcher sie nie etwas gehört hatte. — Als sie sehr begierig ward mehr davon zu wissen, nahm ich Feder und Dinte, und machte ihr viele Astronomische Zeichnungen, vielleicht nicht eine richtige, doch das that zur Sache nichts. Drauf machte ich ihr Begriffe vom Bauen unter dem Wasser, und von mancherlei andern Dingen, wodurch ihre Auf-[33]merksamkeit so unterhalten ward, daß sie sich des Abends ganz gesund schlafen legte.

Den folgenden Tag kam sie zu mir, und traf mich, weil ich sie erwartete, mit Landkarten umgeben an. Solche Dinge hatte sie nie gesehen. Wir suchten unzähliche Städte auf; von mancher las ich ihr die Beschreibung vor, von manchen Ländern erzählte ich ihr kleine Geschichten; und so blieb sie gesund, und begab sich mit diesen neuen Entdeckungen, in Gedanken beschäftigt, vergnügt zur Ruhe.

Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so würden, wie ich glaube, stete Zerstreuungen der Gedanken, die ich ihr hätte machen wollen, sie wieder völlig hergestellt haben, wenn ich sie zu mir ins Haus hätte nehmen können.

Ernestine Christiane Reiske.

Erläuterungen:

a: Die Pocken (DWb Bd. 2, Sp. 77).

b: Edward Youngs Werk, The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, and Immortality, erschien in neun Teilen zwischen 1742 und 1746 und wurde mehrfach neu aufgelegt.

II.

Einfluß äußrer Umstände auf die Krankheiten der Seele.

Reiske, Ernestine Christiane

Magister Fr — — der jüngste Sohn eines wohlhabenden Rathsherrn zu — — war zwei Jahre auf der Universität ziemlich fleißig gewesen, als er, auf Anstiften einer verheuratheten Schwester, welche glaubte, das Studiren kostete zuviel, [34]nach Hause kommen mußte. Diese Schwester, die reich und geizig war, hätte es drauf gerne gesehen, wenn er sich um eine Informatorstelle beworben hätte; dazu war er aber zu schüchtern und hatte zu wenige Weltkenntniß. Ueber ihre öftern Vorwürfe, daß er zu Hause müßig läge, klagte er sehr; und ihnen giebt man seine nachherige Krankheit schuld. Doch könnte man auch glauben, daß der Gesundheitszustand seiner Eltern, zu der Zeit, als er sein Daseyn erhielt, viel dazu beigetragen haben könnte.

Sein Vater, der stets ein Mann von schwachen Geistesfähigkeiten gewesen war, näherte sich der Kindheit mit den Jahren immer mehr; so daß er in den funfzigen schon ganz Kind war, ob er gleich über 70 Jahre alt ward; und die Mutter ward, in mittlern Jahren, von der Gicht, an Händen und Füßen gelähmt; in welchem Zustande sie wohl noch 30 Jahre leben mußte. Seine noch lebenden Geschwister waren zwar gesund, allein sie waren viel älter als er, und also gebohren da die Aeltern noch um vieles gesunder waren.

Er predigte zuweilen für den dortigen Superintendent; zu dem er überhaupt viel Vertrauen zu haben schien. Man hörte ihn, seiner guten Aussprache wegen, gerne, obgleich die Predigten ziemlich leer an Gedanken waren; und weil er sie sehr kurz machte, so konnte man doch nicht über lange Weile klagen.

[35]

Ungefehr ein Jahr lang, mochte er im väterlichen Hause gelebt haben, als er den Zufall bekam, daß er oft einige Minuten lang, nicht wußte, was er that.

Wenn er des Nachmittags in Gesellschaft war, stand er zuweilen, ehe man es sich versahe, mit den Worten, vom Stuhle auf: Es ist Zeit, daß man zu Bette geht! und fing an sich auszukleiden. Doch bald kam er wieder zu sich, und nahm beschämt und traurig Abschied.

Nun grämte er sich, daß der Superintendent Bedenken trug, ihn ferner predigen zu lassen; der es doch endlich, auf sein flehendliches Bitten und Versichern, er habe den Zufall eine Zeitlang nicht gehabt, noch einmal geschehen ließ. Er brachte zwar die Predigt glücklich zu Ende, da er aber die Abkündigungen herlesen sollte, überfiel ihn die Krankheit, die doch schon wieder vorbei war, als ihn der Küster von der Kanzel führen wollte; so daß er allein herunter gieng, weil der Cantor den Gesang schon angefangen hatte.

Da er nun nicht mehr predigen durfte, vermehrte sich seine Niedergeschlagenheit täglich, und sein Verstand ward zusehends schwächer. Er quälte sich mit der Vorstellung, daß man ihn sehr hasse, und aller Laster schuld gäbe. Z.B. so oft ein uneheliches Kind zur Welt kam, grämte er sich, daß man ihn im Verdacht haben möchte, er sey der Vater dazu. Zuweilen hörte er eine Stimme vom [36]Himmel; glaubte, man verlange ihn nach Dresden als Oberhofprediger, und nach Petersburg als ersten Minister; er wußte nur nicht was er wählen sollte; und zu einer andern Zeit, klagte er bitterlich daß man ihn, aus großer Verachtung, das Predigen verwehrte. Endlich verführte ihn sein schwacher Verstand, viel Brantewein zu trinken; er bekam oft Anfälle von der Epilepsie, ward ins Tollhaus gebracht, und starb bald drauf.

Ernestine Christiane Reiske.

II.

Parallel zu der Selbstbeobachtung des Hr. O. C. R. Spalding im 2ten Stück des ersten Bandes.

Reiske, Ernestine Christiane

Der Zufall des verehrungswürdigsten Sp. den ich im 2ten Stücke des ersten Bandes dieses Magazins beschrieben fand, erinnerte mich an ähnliche, die mir oft begegnen.

Zuweilen ist mir es nicht möglich, etwas zusammenhängendes zu schreiben. Ich schreibe Worte hin, die nicht zur Sache gehören, kann die bekanntesten nicht finden, setze die letztern eines Gedankens, den ich niederschreiben will, oder die letztern Buchstaben eines Wortes zuerst; weiß, daß [37]es unrecht ist, und schreibe doch immer noch unschicklicher, bis ich die Feder wegwerfe. Oft, wenn ich viel nach einander geschrieben, oder etwas mit starken Nachdenken gelesen habe, und sogleich mit jemanden sprechen soll, weiß ich die bekanntesten Dinge nicht zu nennen, und verwechsele eins mit dem andern. In Gesellschaften wo mehrere Personen zugleich mit einander sprechen, rede ich wenig oder gar nicht. Denn das Gespräch anderer, macht mich im Reden so irre, daß ich ganz unschickliche Worte sage, die keinen Verstand geben. Ein paarmal ward ich dadurch, beim Abschiednehmen so irre gemacht, daß ich die gewöhnlichsten Ausdrücke nicht zu gebrauchen wußte, mich darüber ärgerte, und mich doch immer noch abgeschmackter ausdrückte, bis ich es für das rathsamste hielt, fortzugehen, und es der Gesellschaft zu überlassen, ob sie über meine Einfalt lachen wollte, oder nicht. Bei mir sind das Folgen eines nicht so wohl durch Arbeit als vielmehr durch mancherlei Sorgen und oft lange anhaltende Schlaflosigkeit, geschwächten Kopfs. Vielleicht wird diese Schwäche, nach und nach durch die Ruhe gemindert, die ich itzt in beider Betrachtung genieße.

Mein Mann der, wie bekannt ist, sehr mit dem Kopfe gearbeitet hatte, und viele Sprachen wußte, mengte diese, in seiner letztern Schwachheit, oft alle unter einander. Oder vielmehr, er [38]setzte Worte aus allen zusammen, und es war doch nicht eins dabei welches das ausdrückte, was er eigentlich sagen wollte. Oft sagte er auch ein einziges deutsches Wort wohl zwanzig und mehrere male, oder eine Menge unzusammenhängender deutscher Worte, ohne das finden zu können, das er nöthig hatte. Alsdann sagte er ängstlich: Kann nicht! Woraus man sahe, daß er wohl bei Verstande war, und was er sagte, hörte. Weil ich aber seine Ideen alle kannte, und seine Bedürfniße wußte, so war ich immer so glücklich, errathen zu können, was er sagen wollte; wofür er mir seine Erkenntlichkeit auf die zärtlichste Weise zu erkennen gab.

Ernestine Christiane Reiske.

[39]

Zur Seelennaturkunde.

I.

Moralität eines Taubstummen.

Reiske, Ernestine Christiane

Joh. Christian Hackenthal war seit seinem dritten Jahre taub und stumm. Seine Mutter erzählte daß er damals schon etwas habe sprechen, und ein paar kleine Gebete hersagen können, als sie, indem sie ihn auf dem Arm gehabt, mit ihm gefallen sey, und ihn im nächsten Wasser abgewaschen habe. Vornemlich sey der Kopf sehr voll Koth gewesen. Sein Vater, ein Bekker, bekümmerte sich um seine Erziehung wenig, die Mutter aber erzog ihn so gut sie konnte. Ein alter Chirurgus der wenig zu thun hatte, und in der Nachbarschaft wohnte, kam auf den Einfall, aus langer Weile den Knaben zu unterrichten, und beschäftigte sich fast täglich mit ihm. Anfangs schrieb er die Namen der Dinge, die er ihm zeigte, auf den Tisch, und brachte ihn endlich so weit, daß er schreiben und lesen konnte, und von den meisten Dingen ziemlich deutliche Begriffe erlangte; ob er gleich nicht ein Wort aussprechen lernte.

Des Vaters Handwerk lernte er mehr vom Zusehen, und aus eignem Antriebe, als durch des [40]Vaters Unterricht; dem es aber doch nachher angenehm war, ihm seine Arbeit ganz überlassen, und ungehinderter saufen zu können. Der Sohn war ungemein fleißig, und sein Gebäck fand vielen Beifall. Dabei war er lustig und spashaft, so daß die andern Bürgerssöhne, die durch Zeichen gut mit ihm sprechen konnten, ohne seine Gesellschaft nicht vergnügt waren. Alle unter solchen jungen Leuten gewöhnlichen Spiele, wußte er so gut zu spielen, daß er fast allezeit gewann, wobei er viel lachte, den ärmern aber, das von ihnen gewonnene Geld heimlich wieder gab.

Dem Vater fiel es oft im Rausche ein, die Mutter zu schlagen; welches er schon als ein kleiner Knabe dadurch zu verhindern suchte, daß er auf den Vater zulief, und ihn so lange aufhielt, bis die Mutter sich hatte verstecken können; wobei er selbst erbärmlich geschlagen wurde; welches er sich aber nicht abschrecken ließ, sondern, wenn er zugegen war, die Mutter allezeit auf diese Weise rettete. Fragte man ihn, als er etwas größer worden war, warum er der Mutter wegen so viele Schläge erduldete? so gab er zu verstehen, er könne ihr damit doch noch nicht vergelten, was sie bei seiner Geburt und Kindheit mit ihm ausgestanden habe. Fragte man ihn, als er erwachsen war, warum er sich schlagen ließe, und den Vater nicht wieder schlüge, so gab er zu verstehen, Gott hätte das verboten; doch trug er ihn, wenn er gar zu [41]toll war, in die Schlafkammer, und schloß ihn ein, bis er den Rausch ausgeschlafen hatte.

Des Sonntags besuchte er die Kirche Vor- und Nachmittags, und sahe den Prediger mit der größten Aufmerksamkeit an. Unter dem Singen las er im Gesangbuche; und bezeugte sich sehr andächtig.

Als er ungefähr 20 Jahre alt war, sagte die Mutter dem dortigen Superintendent, daß ihr Sohn zum heiligen Abendmahl zugelassen zu werden wünsche, und sich oft darüber betrübte, daß er davon ausgeschloßen sey; wobei sie versicherte, daß er Begriffe vom Christenthume habe. Der Superintendent ließ ihn, nebst einem seiner guten Freunde, der gewohnt war, durch Zeichen mit ihm zu sprechen, und also ihr beider Dolmetscher seyn konnte, zu sich kommen, und fand, daß er mehr von der christlichen Religion wußte, als er hatte hoffen können. Er gab also dem Diaconus, den der Stumme selbst sich zum Beichtvater erwählt hatte, Verfügung, ihn ohne Bedenken anzunehmen; und setzte ihm ein kurzes Beichtformular auf, das der Stumme, in seiner Gegenwart, durchlas, und durch Zeichen zu erkennen gab, daß es ihm verständlich sey. Dieses Beichtformular schrieb der Stumme nachher allezeit, wenn er zur Beichte gehen wollte, ab, und gab es dem Beichtvater. Bey der Communion bezeugte er eine rührende Andacht.

[42]

Durch die schlechte Lebensart des Vaters war endlich das Haus so mit Schulden beschwert worden, daß es verkauft werden mußte. Man hatte für den Sohn die Fürsorge gehabt, ihn auf Lebenszeit eine freye Wohnung auszumachen; die er der Mutter überließ, und auswärts als Beckergesell in Dienst ging. Seiner Geschicklichkeit und seines Fleißes wegen, fand er, wo er hinkam, bald Arbeit; war auch den ganzen siebenjährigen Krieg hindurch preußischer Feldbecker. Man schrieb es ihm auf, was er machen sollte. Was er erübrigen konnte, schickte er seiner Mutter, und als er erfuhr, daß sie krank sey, kam er zu ihr, verließ ihr Bette Tag und Nacht nicht, und verpflegte sie aufs sorgfältigste. Als sie gestorben war, ließ er sie ihrem Stande gemäß, doch sehr anständig begraben, und beweinte ihren Tod so herzlich, als wenn ihm dadurch ein grosses Unglück wiederfahren sey, und klagte, daß nun auf dieser Welt kein Herz mehr sey, daß es so redlich mit ihm meine, als es seine Mutter gehabt hätte.

Ernestine Christiane Reiske.

II.

Erinnerungen, aus den ersten Jahren der Kindheit.

Anonym

Wenn ich in die ersten Jahre meiner Kindheit zurückgehe, so finde ich, daß ich mich vieler da-[43]mals vorgefallenen Begebenheiten, noch so deutlich erinnern kann, als wenn sie erst vor wenig Wochen geschehen wären, ich bemerke aber dabei,

1) daß die Erinnerung solcher Dinge, die unmittelbar mich selbst betrafen, lebhafter in mir ist, als solcher, die mich nicht eigentlich angingen, ob ich gleich dabei mit intereßiret war;

2) daß die unangenehmen Vorfälle mehrentheils einen stärkern Eindruck auf mich gemacht haben, als die angenehmen, ich mich auch der erstern weit lebhafter, als der letztern zu erinnern im Stande bin, wiewohl auch das Andenken an diese nicht ganz verloschen ist.

Zu denen Begebenheiten, deren ich mich aus den ersten Jahren meiner Kindheit noch sehr lebhaft erinnere, gehören unter andern folgende:

Mein Vater hatte mir befohlen, nichts anzurühren, was mir nicht gehörete, weil ich als Kind die üble Gewohnheit hatte, fast alles zu zerbrechen, was ich in die Hände nahm. Nun hatte ich als ein Kind von 5 Jahren meinen Vater mit einem Rostral Linien ziehen, gesehen. Kaum wandte er den Rücken, als ich mich des Rostrals bemächtigte, zuerst Linien damit zog; hierauf versuchte, ob man das Instrument auch wohl zerbrechen könnte, und es auch wirklich zerbrach. Ich wuste, daß hierauf einige Strafe erfolgen würde; dieser zu entgehen kroch ich unter einen, in meines Vaters Stube, gegen der Stubenthür über stehenden runden, mit [44]einem blauen Vorhang behangenen Tisch. Das half aber nichts, und ich erhielt für meinen Muthwillen und Unfolgsamkeit die nöthige Züchtigung. Diese Begebenheit ist mir noch so neu, daß ich mich auch aller dabei vorgefallenen Nebenumstände sehr wohl erinnere. — Ferner: Meine Schwester, auf die ich schon als Kind sehr viel hielt, bekam in ihrem 4ten Jahre die Pocken, und ich war damals 7 Jahr alt. Sie wurde bei dieser Krankheit auf einige Zeit blind, und verlangte ihr Spielzeug. Meine Mutter, die sie im Mantel trug, gab ihr einige Stücken. Da sie aber versicherte, daß sie es nicht sehen könnte, antwortete ihr meine Mutter; ja, das glaube ich wohl, du armes Kind, daß du es nicht sehen kannst, du wirst aber bald wieder sehen lernen. Ich erinnere mich dieser Worte noch so lebhaft, als wenn ich sie erst heute gehört hätte; ja ich weiß noch den Ort in der Stube, wo sie gesprochen wurden, obgleich seitdem schon ein Zeitraum von 24 Jahren verflossen ist, und seit dieser Zeit nicht wieder davon geredet ist. — Weiter: Ich war noch nicht 6 Jahr alt, da ich an einem gewissen Sonntage zur Winterszeit mit in die Kirche gehen mußte. Es war sehr kalt, und der Prediger predigte so sehr lange, daß ich mit Verlangen auf das Ende der Predigt hoffte. Die unangenehmen Empfindungen, die ich dabei hatte, müßen einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht haben, daß mir der Umstand unvergeßlich geblie-[45]ben ist, denn diese (wenigstens nach meiner damaligen Empfindung) lange Predigt, fällt mir allemal wieder ein, so oft ich die Kanzel sehe. — Noch erinnere ich mich aus den ersten Jahren meiner Kindheit sehr lebhaft der Art und Weise, wie ich mich damals im Schreiben übte. Im 5ten Jahre sollte ich schreiben lernen, und es war meine Lieblingsbeschäftigung, wenn ich den ganzen Tag die Buchstaben mit dem Finger auf der Erde im Sande mahlen konnte. Ich weiß noch die Stelle in der Stube, die ich, um keinem in Weg zu kommen, zu dieser Beschäftigung besonders wählte. Noch einesUmstandes will ich, in dieser Absicht, gegenwärtig nur gedenken. Ich war in meiner Kindheit ausserordentlich furchtsam. Dies gieng so weit, daß ich auch am Tage nicht allein in der Stube bleiben konnte. Woher dieser Fehler entstanden, davon kann ich gar keinen Grund angeben; daß aber diese Furchtsamkeit sehr groß war, erinnere ich mich noch mit der äussersten Lebhaftigkeit. Meine Eltern gaben sich alle Mühe, mir solches abzugewöhnen, und ließen mich zuweilen zur Mittagszeit allein in der Stube; sie schlossen auch, um mir zu zeigen, daß mir niemand etwas zu Leide thun würde, die Thür zu, damit ich ihnen nicht nachfolgen sollte. Ich stand aber Todesangst aus, und man mußte mich wieder herauslassen. Des Abends blieb ich noch viel weniger allein. Wenn man mich zu Bette brachte, mußte allezeit einer [46]so lange vor dem Bette sitzen bleiben, bis ich eingeschlafen war, und doch wußte ich gar nichts anzugeben, wovor ich mich fürchtete. Wachte ich auf, und fand keinen vor meinen Bette, so sprang ich in größter Angst auf, lief in Finstern durchs ganze Haus, und setzte mich, (weil ich mich nicht hinein getrauete) vor die Thür der Stube, worin mehrere Menschen befindlich waren, denn wenn ich nur noch bei mir jemand reden hörete, so verschwand die Furchtsamkeit. Ich habe diesen Fehler noch nachher bei zunehmenden Jahren an mir gehabt, und mir alle mögliche Mühe geben müssen, ihn abzulegen. Zuletzt hat er sich gänzlich verlohren, aber wirklich erst sehr spät.

III.

Beispiel eines sehr empfindsamen Nervensystems.

Anonym

Ich kenne eine Person von vornehmen Stande, die bei dem Wort: Aderlassen, allemal in eine Art von Ohnmacht verfällt. Daß es keine Verstellung sey, davon bin ich hinlänglich überzeugt, denn alle Umstände lehren das Gegentheil. Wenn diese Person in einer Gesellschaft auch noch so aufgereimt und völlig gesund ist, und es entfährt etwa jemanden dieser Ausdruck, wenn von derglei-[47]chen Sachen die Rede ist, so wird sie blaß und kraftlos, und man sieht es augenscheinlich, daß dieß Wort ihren Ohren völlig unerträglich sey. Da sie sich doch des Gedankens an das Aderlassen durch ihr ganzes Leben hindurch ohnmöglich verwehren kann, so ist freilich merkwürdig, daß sie just alsdenn eine Anwandlung von einer Ohnmacht bekömmt, wenn sie es aussprechen hört. — Es hat aber damit vielleicht eben die Bewandniß, die es in ähnlichen Fällen bei anderen Personen hat. So ist mir z.E. die Empfindung ganz unausstehlich, wenn jemand mit dem Messer Korke schneidet. Der Mund läuft mir dabei voll Wasser, und ich bekomme einen Frost am ganzen Leibe, ohnerachtet ich von dieser unangenehmen Empfindung reden hören, und selbst davon reden kann.

IV.

Nachtrag zur Seelenkrankheitsgeschichte Johann Christoph Beckers.

Donndorf, Johann August

Dieser Mann hat, so lange ich ihn kenne, immer einen etwas starren Blick gehabt. Wenn er eine Zeitlang auf etwas warten mußte, setzte er sich nieder, und war im Stande eine halbe Stunde, wohl noch länger immer starr auf einen Fleck an die Erde zu sehen. Er ist auch immer etwas leicht- [48] gläubig gewesen, und was er einmal für wahr angenommen hatte, das war kein Mensch im Stande ihm wieder auszureden. Sehr widrige Schicksale hat er, soviel ich weiß, nie gehabt, ausser daß ihm die Erziehung seiner Kinder in vorigen Zeiten wol einigen Kummer mag gemacht haben. Etwas argwöhnisch und mißtrauisch gegen andere Leute, ist er immer gewesen. Auch alsdenn, wenn ihm am Tage, oder zur Nachtzeit die Idee in den Kopf kommt, daß er umgebracht werden sollte, und er darüber die größte Angst aussteht, also ist er doch sehr furchtsam, daß seine Vorgesetzten solches erfahren mögten. Wenn ihm andre, aus Gutherzigkeit etwas zu essen geben, und nicht recht freundlich dabei aussehen, so ißt er es nicht, weil er glaubt, man wolle ihn vergiften. —

Donndorf.

V.

Von der Beschaffenheit einiger unserer Gesichtsbegriffe.

Pockels, Carl Friedrich

Den größten Theil unserer Vorstellungen bekommen wir durch Hülfe der Augen, und man kann mit Recht sagen, daß sie die ersten und vornehmsten Lehrmeister des menschlichen Verstandes gewesen sind, weil wir uns nicht vorstellen können, daß [49]wir in unsrer Kindheit eher zu denken angefangen haben sollten, als bis wir die äußern Formen der Dinge und ihre Verhältnisse so wohl gegen einander, als auch insbesondere ihre Beziehungen auf uns, zu unterscheiden und auszudrücken gelernt hatten. — Auch sind würklich die Eindrücke, welche wir in unsrer frühen Kindheit von irgend einem auffallenden sichtbaren Gegenstande erhielten, diejenigen, der wir uns noch am leichtesten aus der ersten Epoche unseres Denkens erinnern können; da wir hingegen die Eindrücke der andern Sinne schon längst vergessen haben. Der erste geharnischte Reuter, das erste ausländische Thier, das wir zu sehen bekommen, wird uns immer noch deutlich vor den Augen schweben; aber wir werden es lange vergessen haben, was wir dabei dachten, und was uns andere damals darüber sagten. Wir wissen es nicht mehr, unter welchen Umständen wir die meisten Eindrücke des Auges in unsrer ersten Kindheit bekommen haben, und mit welchen Ideen sie sich damals verbanden; — aber wir würden gewiß finden, wenn wir den ganzen Vorrath unsrer nach und nach erlangten Begriffe überhaupt so zergliedern könnten, daß wir die ersten Anfänge derselben, und ihre Beziehungen auf die Entwickelungen der andern Sinnesbegriffe anzugeben im Stande wären, daß, sag ich, wir die meisten durch das Organ des Gesichts erhalten haben müssen, und daß durch eine unendlich oft wie-[50]derholte Vergleichung der äußern Formen, alle die sogenannten abstrakten Begriffe von Raume, Größe, Ausdehnung, Figur, Verhältniß, Schönheit, Häßlichkeit, und selbst der von der Bewegung, in uns entstanden sind.

Eben jene Zergliederung unserer Ideen würde uns nun aber auch lehren, daß das abstrakteste Denken sich unausbleiblich allemal auf sinnliche oder versinnlichte Gesichtsbegriffe bezieht, und daß wir ihm nur in so fern vorzugsweise den Nahmen des übersinnlichen geben können, als wir uns der dabei zum Grunde liegenden sinnlichen Ideen in der schnellen Folge unsrer Gedanken nicht mit Deutlichkeit bewust sind.

Um dieß noch deutlicher einzusehen, so erwäge man nur, wie sehr sich unsere Begriffe untereinander verwirren, wie viel sie von ihrer Klarheit verlieren, sobald wir mit unsern Vorstellungen ganz über das Sichtbare hinausgehen wollen, und wie unruhig der menschliche Geist dabei auf der andern Seite immer mehr nach sinnlichen Bildern hascht, um etwas zu haben, woran er sich in dem unsichern Gange seiner Spekulation halten kann. Wie unbestimmt, unzuverläßig, und unsrer Wisbegirde ungenugthuend ist für uns der Begrif eines Geistes, sobald wir uns ihn ohne alle Verbindung mit einem Körper denken wollen! — Wie sehr hat sich erst die Sprache verfeinern, und der menschliche Verstand üben müssen, ehe man die Eigenschaf-[51]ten eines einfachen Wesens bezeichnen konnte, und um sie zu bezeichnen, hat jene alle die Modificationen, vermöge welcher sie sichtbare Gegenstände durch das Geschlecht, die Person, die Bindewörtchen, und das Verbum unterscheidet, auf übersinnliche Gegenstände übergetragen, damit sie ja nie den Faden unsrer abstrakten Gedanken gleichsam sich selbst überlassen, sondern immer in etwas Sinnliches anknüpfen möchte. Sprache ist also ihrer Natur nach, wenn sie auch die abstraktesten Sätze ausdruckt, ein für unsern Verstand höchst nöthiges Versinnlichungsmittel dieser Sätze.

Alle unsere Gesichtsbegriffe können, wie mich dünkt, unter folgende Klassen gebracht werden, nemlich unter die, welche wir — durch die Ausdehnung und Figur — durch die Bewegung und — durch die Farben der Körper bekommen. Meine Absicht ist gegenwärtig nur von der erstern Art unserer Gesichtsbegriffe zu handeln.

Alles, was wir sehen, sehen wir unter einer gewissen Figur und körperlichen Ausdehnung. Unser Auge ist so künstlich gebaut, daß es kleine und grosse Gegenstände mit leichter Mühe überschauen, unterscheiden, und sogar ihre Entfernungen von einander messen kann, obgleich zu dem letztern eine längere Uebung, und Vergleichung eines angenomnen Maasstabes gehört, den wir durch eine vielfältige Erfahrung festgesetzt haben. Einem Blindgebornen, der auf einmal sehend würde, würden [52]alle Gegenstände eine gleiche Entfernung von seinem Auge zu haben scheinen; denn wie könnte er sich von einer unterschiedenen Weite verschiedener Gegenstände einen Begrif machen, da er noch nie die Erfahrung gemacht hat, daß entferntere Sachen unter einem kleinern Winkel ins Auge fallen, und mithin auch uns kleiner, als nahe liegende, erscheinen müssen, und da die Lichtstrahlen von jenen für unsere Empfindung eben so schnell, als von diesen zu unsern Augen gelangen, folglich auch hierbei ihm kein Unterschied ihrer Entfernungen zu entdecken möglich wäre.

An jene Erfahrung, alles unter einer gewissen Gestalt und Figur zu sehen gewöhnt, ist es uns nicht möglich, uns etwas ohne Gränze deutlich vorzustellen. Unaufhörlich verbinden sich die sinnlichen Begriffe von Grosse, Raum, Zahl und Verhältniß mit unsern abstrakten Begriffen selbst, und wir sehen uns alle Augenblicke genöthigt, Prädicate aus der sichtbaren Welt in die Reihe unsrer geistigen Vorstellungen zu mischen, wenn wir uns nicht in leere Träumereien verlieren wollen. Es ist wahr, wir können uns eine unendlich fortlaufende Linie, oder mehrere solcher Linien, die in gleicher Entfernung neben einander fortgehen, oder sich auch immer weiter von einander entfernen, vorstellen; allein wir können uns diese, oder mehrere benannte Linien nicht denken, wenn wir ihnen nicht erst einen gewissen Ort geben, wo wir sie entstehen lassen, — [53]und denn ist ja die fortgehende Bewegung der Linien, ohne die ihre Vorstellung überhaupt unmöglich ist, selbst ein sinnliches Bild, worauf der Begriff einer unendlichen Linie beruht.

Wenn wir an einem körperlichen Gegenstande keine Grenze bemerken, so imaginiren wir uns eine, weil wir aus einer vielfältigen Erfahrung wissen, daß ein Körper irgendwo aufhören muß; wir fühlen eine Unruhe, wenn wir sie nicht finden können, und ein Labyrinth ist für unsere Imagination ein schrecklicher Gegenstand. Sonderbar ists, daß wir den Körper, oder den Raum, den wir nicht übersehen können, gemeiniglich für grösser halten, als er würklich ist; ein Irrthum, der wohl daher entstehen mag, daß wir das Maas seiner Seiten mit der Größe seines Anfangs nicht in Vergleichung bringen können.

Der Begrif von Ausdehnung, Raum und Figur überhaupt, welcher die Grundidee aller unsrer Gesichtsvorstellungen ist, ist mit einem andern, der sich frühzeitig in uns zu entwickeln anfängt, und zur Bildung aller unsrer Kenntnisse, zur Entwickelung der Wortsprache, und zur Erfindung der tiefsinnigsten Wahrheiten sehr viel beiträgt, aufs genaueste verbunden, ich meine den Begriff von Größe, oder welches hier einerlei ist, vom Verhältniß mehrerer nebeneinander betrachteten Objekte. Die Verschiedenheit der Größe derselben, [54]die so unendlich relativ ist, gewährt uns nicht nur eine erstaunlich große Summe von sinnlichen Vergnügen, welches wegfallen würde, wenn wir alles unter einerlei Größe und Figur sehen; sondern unser Verstand gebraucht auch die Bezeichnungen und Ausdrücke davon, um die geheimsten Kräfte der Natur der menschlichen Seele dadurch anschaulich und deutlich zu machen. Es ist wahr, daß wir uns die Größe sichtbarer Gegenstände so vorstellen müssen, wie es einmal die Natur haben will, und daß wir in der Aufnahme sinnlicher Eindrücke, wie wir sie empfinden wollen, nichts weniger als frei sind, aber wir sind auf der andern Seite für diese mechanische Nothwendigkeit durch unsere Imagination wieder schadlos gehalten worden, die nach Gefallen der Verhältnisse sichtbare Dinge umändern, und sich Gestalten schaffen kann, die die verschwenderische Natur selbst noch nicht hervorgebracht hat. Wir können uns einen Körper auf eine zweifache Art unter einer gewissen Unendlichkeit denken, da es eine unendliche Vermehrung desselben, durch hinzugegebene neue Theile, und wiederum eine unendliche Theilung desselben für unsere Einbildungskraft giebt, wodurch tausenderlei neue Verhältnisse gedacht werden können; daher wird es uns so äusserst schwer, Dinge zu denken, die nicht mehr weiter getheilt, auch nicht vergrößert werden können, und vielleicht sind die Begriffe eines Atoms, und einer unendlich ausgedehn- [55] ten Substanz, die dunkelsten in dem ganzen Gebiete menschlicher Begriffe.

Durch die Vergleichung einer bekannten Grösse, von deren Grad und Ausdehnung wir uns durch mehrere Erfahrungen überzeugt haben, mit einer oder mehrern unbekannten entsteht das Augenmaas, welches bis zu einer geometrischen Schärfe gebracht werden kann, selbst wenn Gegenstände sich in einer perspektiven Lage gegen einander befinden, und das Auge leicht getäuscht werden kann. Die richtige Beurtheilung der Perspektive erfodert daher das feinste Augenmaas, weil die Vergleichung einer angenommnen bestimmten Größe mit einer unbekannten, die überdem noch durch ihre Entfernung kleiner wird, als sie eigentlich ist, viel schwerer werden muß. — Vergleichen wir eine Menge solcher durch die Entfernung klein gewordener Gegenstände mit größern neben ihnen oder hinter ihnen stehenden, so müssen diese den Gesichtseindruck auf uns machen, als wenn sie uns viel näher stünden, als sie würklich stehen. Ein Gebürge scheint uns näher zu seyn, als die vor ihm liegenden Dörfer und Bäume; eine grosse Wolke steht nach eben dieser Täuschung niedriger, als die Thurmspitze, und der aufgehende und untergehende Mond erscheint allemal größer, als wenn er hoch am Himmel steht, weil wir ihm, wenn er sich in der Gegend des Horizonts befindet, näher zu stehen glauben, als wenn er sich davon weiter entfernt hat, [56]und wir glauben ihm deswegen im ersten Fall näher zu seyn, weil der Horizont, an dem er sich befindet, und mit dem wir ihn zunächst in Verbindung sehen, allemal wenn es dunkel wird, und das zwischen ihm und unserm Auge liegende Thal verschwindet, näher zu uns herzurücken scheint.

Auf den Begrif von Grenze und Figur, oder vielmehr aus dem Verhältniß der Grenze zur ganzen Figur, gründet sich der Begriff von der Schönheit der Formen. Wir können so lange einen sichtbaren Gegenstand nicht schön nennen, so lange wir nicht die einzelnen Theile desselben mit seinem ganzen Umfange vergleichen können; jene einzelnen Theile können zwar an sich selbst schön seyn, Weil sie unter sich eine richtige abgemessene und schickliche Stellung haben; aber wir dürfen nicht davon auf die Schönheit des Ganzen schliessen, wenn uns noch viele andere Theile davon unbekannt sind. Ein neuerer Philosoph hat mit vielem Scharfsinn zu beweisen gesucht, daß der Begrif von Schönheit nicht auf Proportion der Theile eines sichtbaren Gegenstandes beruht,*) 1 wodurch er natürlicher Weise auch das Verhältniß der Theile gegen die ganze Form mit versteht. — Er führt aus dem Pflanzen- und Thierreiche Gegenstände an, die wir schön [57]nennen, ob wir gleich nicht sagen könnten, daß ihre einzelnen Theile mit dem Ganzen in einem abgemessenen Verhältnisse stünden; allein mich dünkt das hebt den einmal angenommenen Begrif von Schönheit, daß sie auf Proportion der Theile beruhe nicht auf, weil die selbst von ihm angeführten schönen Formen, die nach seiner Meinung nicht aus Proportion der Theile schön seyn sollen, häßlich werden würden, wenn man die ihnen von der Natur der Kunst mitgetheilte Figur umändern wollte. Wir sehen offenbar daß eine Bildsäule häßlich wird, wenn wir die Verhältnisse ihrer Theile zur ganzen Form derselben aufheben, und verhunzen. — Warum uns gerade die und keine andere Proportion an einer schönen Form gefällt, ist eine andere Frage, die nicht leicht ganz befriedigend beantwortet werden kann, da sie sich auf ein noch ziemlich dunkles Gefühl von der Zuneigung unsrer Herzen gegen schöne Gegenstände bezieht. Unter den Formen sichtbarer Dinge gefällt uns vornehmlich die runde, besonders wenn sie grossen und erhabnen Gegenständen eigen ist. Ein grosser runder Rasenplatz macht einen angenehmern Eindruck auf uns, als ein eckiger; eine runde Säule gefällt uns mehr, als eine eckige. Der Grund von dem Angenehmen, das in der Vorstellung eines runden Körpers liegt, mag wohl der seyn, daß wir einen runden Körper für einen sehr vollkommnen sinnlichen Gegenstand halten, und wir halten [58]ihn dafür, weil wir uns keine fernern Zusätze zu seinem Umkreise denken können, ohne die Einfachheit seiner Form würklich zu verunstalten; er würde durch einen Zusatz von aussen also unvollkommner zu werden scheinen, wir würden uns nun nicht mehr die abgemessenste gleiche Entfernung seines Mittelpunkts von allen Punkten der Peripherie vorstellen können; da hingegen ein eckiger Körper unendlich verschiedene Zusätze bekommen kann, ohne daß er verunstaltet wird. — Ausserdem hat die Vorstellung des Runden noch etwas Angenehmes für unsere Imagination, nehmlich, daß es bewegbarer ist, und unsern Kräften weniger widersteht, als das Eckige. Dieses hat für unsere Vorstellung etwas Todtes, Träges, das uns nicht gefällt. Das Runde hingegen gleichsam eine Art des Lebens, weil es nur mit wenigen Punkten die Fläche berührt, worauf es liegt, und durch einen unendlich geringern Stoß, oder durch die kleinste Verrückung der Bodenfläche aus ihrer horizontalen Lage in Bewegung gesetzt werden kann. — Unsere Neigung für sichtbare Gegenstände nimmt aber offenbahr in dem Grade zu, als unsere Vorstellung darüber von einer Art, eines ihnen zukommenden oder nur imaginirten Lebens, zunimmt.

Je nachdem unser Auge gegen gewisse grosse Gegenstände verschiedentlich gestellt ist, entstehen auch verschiedene Benennungen der Stellung derselben, z.B. Höhe, Tiefe, Breite. Beide erstern [59]Wörter sagen offenbar einerlei; obgleich nicht zu läugnen ist, daß die erstere einen ganz andern Eindruck auf uns macht, als die zweite. Wenn wir dicht am Rande eines Abgrundes stehen; so scheint die grade Linie von unserm Auge bis an den Boden des Abgrundes hinuntergezogen, allemal größer zu seyn, als die, welche wir uns hinaufgezogen denken, wenn wir unten stehen. Sollte nicht an dieser Täuschung die Furcht Schuld haben, die uns ergreift, wenn wir eben herabsehen; die Furcht in welcher sich unsere Imagination gemeiniglich alles zu groß, und schrecklicher vorstellt, als es würklich ist. Wir können ja ruhig an einem Thurm hinaufsehen, und das doch wohl aus dem Grunde, weil wir da nicht herunterzustürzen befürchten. Ich will hier nur beiläufig eine Empfindung erwähnen, die ich selbst sehr oft gehabt habe, und davon auch schon einmal in diesem Magazin die Rede gewesen ist, nehmlich die, daß man am Rande eines Abgrundes, auf der Galerie eines Thurms, einen Drang sich hinabzustürzen fühlt. — Es giebt Leute, die dabei in eine solche Angst gerathen, daß sie schwindlicht werden, und in Ohnmachten sinken. — Ich kann mir die Sache nicht anders als so erklären — die grosse Nähe der Gefahr, der ungeheure Abgrund vor unsern Füssen, setzt uns auf einmal in ein solches Schrecken, daß unsere Imagination uns den Fehlschluß abzwingt, daß wir schon im Herabsinken begriffen wären, [60]daher man sich auch gemeiniglich mit einer unnöthigen Festigkeit an die Stangen der Gallerie anhält, oder sich am Rande des Abgrunds zur Erde wirft, um sich dadurch mehrere Sicherheit zu verschaffen. In dem Augenblicke daß uns aber unsere furchtsame Phantasie auf den Gedanken bringt, daß wir der Gefahr nicht entgehen könnten — regt sich zugleich in uns der Wunsch dieses Unglück so geschwind als möglich zu überstehen, und dieses ist eben der Drang, welchen wir durch unsere Phantasie getäuscht, in uns zum Hinabstürzen fühlen. —

Ein hoher stehender Körper macht auf uns einen grössern Eindruck, als wenn er liegt. Die Verschiedenheit dieser Vorstellungen, die von der verschiedenen Lage eines Körpers entsteht, scheint daher zu kommen, daß wir einen aufgerichteten hohen Gegenstand nicht so genau von allen Seiten nach seiner relativen Grosse betrachten können, als wenn er liegt, und eben deswegen mit den um ihn stehenden Dingen leichter und nach einem sicherern Augenmasse verglichen werden kann. Ueberdem ist mit der Vorstellung der Höhe eines erhabnen Gegenstandes noch der Nebenbegrif verbunden, der jene Vorstellung vergrößern hilft — nehmlich der Nebenbegrif der erstaunlichen Kraft, die dazu gehört hat, einen solchen hohen Körper aufzurichten. Aus eben diesem Grunde macht schon die Vorstellung einer schiefliegenden Fläche einen grössern [61]Eindruck, als die einer horizontalen. — Den grösten aber macht allemal eine Lothrechtstehende Vertikalfläche, weil die durch die höchste Anstrengung der Kraft mit der horizontalfläche in eine recht winkliche Lage, als der einem stehenden Körper angemessenste, gebracht worden ist. Eine schiefliegende Fläche kann den Eindruck nicht auf uns machen, weil es uns immer so vorkommt, als wenn noch nicht Kraft genug vorhanden gewesen wäre, ihr die höchste Richtung, nemlich diejenige zu geben, daß sie sich auf keine Seite hinneigte.

C. F. Pockels.

Die Fortsetzung folgt.

Fußnoten:

1: *) Sieh. A philosophical Enquiry into the origine of our ideas of the sublime and beautiful. By C. Burke Lond. 1767. 8. a

Erläuterungen:

a: Burke 1767, S. 164-191.

VI.

Ueber meinen unwillkührlichen Mordentschluß.

Vieweg, Johann Gottfried

(S. dies. Magaz. 3. B. 2. St. S. 58.)

Bei allen grossen und liebenswürdigen Eigenschaften, wodurch sich der Mensch, das Meisterwerk der Schöpfung, so vortheilhaft auszeichnet, giebt es doch Augenblicke, wo er, von innen und von aussen auf so mannichfaltige Art bestürmt und gepreßt, sich nicht selten ganz zu vergessen und Handlungen zu begehen im Stande ist, die ihn noch unter die unvernünftigen Thiere herabsetzen. Bald [62]bewundert man die Ideale von Vollkommenheit und Grösse, als ursprünglich zusammengesetzte Bruchstücke aus der Menschenwelt, bald erstaunt man, bei geringer Aufmerksamkeit, über die mannichfaltigen zurückschreckenden Schattirungen und Beispiele in derselben, welche die Bemühungen des Seelenzeichners immer Ungewisser machen.

Giebt es nicht Menschen, die mit stürmender Hand ihren eignen Körper zerstören; schleichen nicht in gewissen Ländern Ungeheuer in Menschengestalt umher, die nie vorhergesehene Fremde, von welchen sie nie sind beleidiget worden, wie Fliegen tödten*) 1. Noch mehr: Selbst die heiligsten Bande der Natur, scheint es, sind dem Menschen oft nicht fest genug, er zerreißt sie, wie der Knabe ein Spinnengewebe.

Doch zurück auf mich selbst, ich muß in meinen eignen Busen fühlen. Wie ist es überall möglich, [63]daß ein Bruder der Mörder des andern werden konnte, möglich, daß die Hand des Aeltesten, sich mit dem Blute des Jüngsten, unter welchen doch das Band der Liebe oft am engsten geknüpft zu seyn scheint, beflecken sollte? — Ich muß gestehn, daß ich mir diese Frage oft, mit Rücksicht auf jene traurige Selbsterfahrung, aufgeworfen habe. Ja, wäre ich es mir nur nicht noch so lebhaft bewußt, wie viel mir dieser anhaltende Seelenkampf gekostet hat, ich würde lieber diesen Einfall als einen Gedanken, der mir so durch den Kopf gefahren, ganz verachtet haben. Das wäre ich schon mir schuldig gewesen, und der Ehre der Menschheit, deren Schwachheiten, oder wenn man lieber will, Schandflecke ohne Noth zu vermehren, vermeßner Frevel ist.

Einzig ist diese Erscheinung am Horizont der Psychologen. Und doch darf man nur das gegenseitige Betragen mehrerer Brüder, ohne Vorurtheil, beobachten, um in solchen psychologischen Untersuchungen sicher zu gehen, indem man von der Natur der Bruderliebe richtiger, d.i. erfahrungsmäßig urtheilen lernt. Sie ist in den erstern Jahren am herzlichsten, so bald sich aber der Knabe selbst mehr fühlt, erweitert er seinen Spielraum, zieht mehrere hinein — hierher meine Geschichte — bis irgend ein gemeinschaftliches Interesse und die Rückerinnerung an die Jahre der fröhlichen Kinderspiele, die Bruderliebe in spätern wieder entflammt. Es wäre wohl, dünkt mich, einer ge-[64]nauern Untersuchung werth, wie weit die Ansprüche der Natur und der Erziehung an die Bruderliebe reichen. Sorgfältige Beobachtungen über mehrere Brüder, würden uns hierüber, so wie über die Natur, Motive und Entwickelung der Liebe überhaupt, die beste Auskunft geben. Die nothwendige Ungleichheit der Liebe unter Brüdern ist ein Beweis, das bei derselben, so wie bei der Liebe überhaupt, Willkühr und Selbstthätigkeit zum Grunde liegen.

Wenn nun aber auch bei der Bruderliebe Erziehung das Beste thun muß, so wird dennoch die Frage: wie kam dieser Mordgedanke in meine Seele? um nichts leichter; ja vielleicht noch schwerer und verwickelter die Untersuchung, wie er sich solange darin erhalten, und in einem Moment das Begehrungs- und Verabscheuungsvermögen in derselben, gleich stark, gleich dringend seyn konnte? Doch, je öfter ich über diesen unwillkührlichen Mordentschluß nachdenke, je mehr ich ihn auf der Spur zu beschleichen strebe; desto lebhafter und wahrscheinlicher werden mir einige Gedanken, die, meinem Auge wenigstens den Gang dieser augenblicklichen Raserey so natürlich zu bezeichnen, und meinen damaligen Umständen insonderheit, so anpassend zu seyn scheinen, daß ich sie fast für den einzigen Schlüssel zu diesem psychologischen Rätzel halten möchte. Hier ist der Standpunkt, von wel-[65]chen ich den wahren Verlauf dieser Geschichte zu übersehen glaube.

Ich hatte alles, Bücher und Papier, ausgenommen das Federmesser, auf die Seite gelegt. Dieses mußte, da es so frey lag, den letzten Blick, indem ich das Licht auslöschte, auf sich ziehen. Ich legte mich mit dem Bilde des Messers nieder. Die in jenen Jahren noch geringe Anstrengung des Geistes, war durch plötzliche Müdigkeit unterbrochen worden, ich hatte auch wohl schon, wovon ich aber doch nicht völlig gewiß bin, auf dem Stuhle geschlafen, die vorher genährte Vorstellungen wurden daher nicht sogleich wieder lebhaft; vielleicht hatte mich selbst die Beschäftigung schon vorher zur Unzufriedenheit gestimmt; wie leicht konnte mich also die Idee des Gebrauchs und des nachläßigen Liegenlassens des Messers nur ganz allein beschäftigen?

Plözlich entstand in mir der Wunsch: wenn, du doch das Messer lieber eingelegt hättest, wer weiß es könnte ein Unglück geschehen. — Immer noch im Allgemeinen empfunden und gedacht. Immer noch war ich im Zustande der völligen Besonnenheit und des Selbstbewußtseyns. Aber schon dieser Einfall befremdete mich. Meine Seele hielt fest an dieser abgestreiften Idee, die Einbildungskraft mahlte sich das Bild aus, daß endlich diese lebhaft empfundene Vorstellung des möglichen Schadens in Mißtrauen und Besorgniß übergieng, und es [66]mir je länger je schwerer wurde, diese eingeschlichne Idee zu verdrängen.

Dein Bruder, gieng's dunkel in meiner Seele, schläft — kann sich nicht wehren, — niemand sieht es — wie wenn —— ach, Gott! —— Der Gedanke Mord — Brudermord — vergegenwärtigte mir alle bange Vorstellungen und verstärkte die üble Stimmung meiner Seele so sehr, daß ich völlig in eine moralische Betäubung fiel, worin ich fast ganz ohne Absicht handelte, mir wenigstens keiner deutlich bewußt war. Diese nie empfundene Vorstellung mußte sich, eben ihrer Sonderbarkeit und Neuheit wegen, da ich sie mit keiner der vorräthigen Ideen konbiniren konnte, um so fester setzen. Dahin war nun alle Gegenwart des Geistes, und Furcht und verzweifelndes Schrecken bestürmte mich mit blinder tyrannischer Wuth. Die Einsamkeit und die Dunkelheit der Nacht ließen mir, während dieses Kampfes der erhitzten Einbildungskraft mit der Vernunft, auch keine neue Eindrücke zukommen, machten vielmehr die herrschende Vorstellung nur noch grausender und schrecklicher.*) 2 So entsprang aus der Furcht es zu thun, es thun zu müssen, plötzlich der Entschluß. — —

[67]

Furchtsamkeit scheint überhaupt eine Eigenheit meines Temperaments, dessen Einwirkung auf solche Erscheinungen gewiß nicht gering ist, in jenen Jahren gewesen zu seyn. Ein Umstand, der immer eine äusserste Nervenschwachheit voraussetzt. Ein Donnerschlag erschütterte mich aufs heftigste, und ein starker Sturm zur Nacht konnte nach meiner Einbildung Himmel und Erde bewegen, und ein naher Vorbote des letzten Tages seyn. Vorstellungen, die gar wohl, wo nicht ihr Daseyn, doch ihre Nahrung und Stärke, von damaligen theologischen Unterricht erhalten konnten. Ein Wink für Eltern und Lehrer, das Gefühl der Furcht bei diesem Kinde zu schwächen, bei jenen aber, wo es nöthig ist, zu schärfen, um sie auf die Mittelstrasse zwischen Unbesonnenheit und Muthlosigkeit, als die sicherste zu führen*). 3

[68]

Freilich bleiben der Wißbegierde hier noch genug Fragen übrig. Am liebsten möchte sie folgende beantwortet haben: wo finde ich den allerersten, den zartesten Keim dieses sich aufgedrungenen Gedankens? — Wodurch bekam diese Idee ihre erste Wirksamkeit? — Allein es ist umsonst, so tief in sich selbst hineinblicken zu wollen. Und doch geschieht auch hier kein Sprung. Von einer gegenwärtigen Idee ist immer schon ein Analogon da gewesen, die herrschende, ist gleichsam die Blume in voller Blüte, deren Knospe ein sanfter Hauch entfaltete. Gleich den Farben verlaufen sie sich in einander, ihre Schattirungen sind oft so unmerklich fein, daß nur erst ein scharfer Geistesblick eine bisher gleichsam im Halbschatten schwebende Idee auf einmal im brennenden Lichte erblickt: diese Energie der Seele erweckte vielleicht eine alte schlummernde Idee in mir, oder bildete aus mehrern ähnlichen eine, die sie zu den hohen Grade von Lebhaftigkeit erhob. Ohne ein Vergnügen daran zu finden, war ich oft zugegen, wenn geschlachtet wurde, vielleicht hatte ich dieser Handlung noch an demselben Abend, zu welcher Zeit sie gewöhnlich vorgenommen wurde, beigewohnt. Dieses Bild kopierte meine Seele und trieb ihr Spiel damit im Dunkeln. Sollte immer ein deutliches Bewußtseyn bey unsern Vorstellungen, insonderheit wenn sich ihre Grundzüge in unserer Seele mahlen, nöthig seyn? Die Materialien dazu sind freilich schon vorhanden, es fehlt [69]nur an schicklicher Anordnung und Zusammenfügung, um das Ganze zu übersehen. Diese Bewußtlosigkeit tritt wenigstens im traumfreien Schlafe ein. Eben so ist man sich der stillen Träume oft bewußt, gewöhnlich aber weiß man nicht, was man im Schlafe geredet hat, weil die Seele das vorgespiegelte Bild nicht von sich selbst unterscheidet.

Bei dieser Geschmeidigkeit oder schnellen Eindrucksfähigkeit der Seele kann ein einziges treffendes Wort den reichhaltigsten Gedanken erwecken und den schlummernden Geist zu neuer Wirksamkeit ermuntern. Daher können auch oft ganz verschiedenartige Bilder, wo aber doch immer eins das Licht von dem andern borget, die Seele zugleich beschäftigen; bei den ernsthaftesten Gedanken und Handlungen die schmutzigsten Bilder und Vorstellungen erscheinen. Ich kann mich hierbei sicher auf die Erfahrung vieler junger feurigen Redner, der Geistlichen am wenigsten ausgenommen, berufen, die, sobald sie mit möglichster Anstrengung des Geistes und Wärme des Herzens, von einer wichtigen Angelegenheit sprachen, nicht selten von ganz entgegengesetzten Ideen überrascht wurden. Vielleicht läßt dieß zugleich einiges Licht auf die Erscheinung fallen: warum Wahnsinnige und Betrunkene gewöhnlich religiöse Worte im Munde führen. Bei dem gemeinen Mann machen oft Religionsideen die Grundlage seines ganzen Ideenvorraths aus, werden nun die Gehirnfibern durch den Geist des Weins [70]heftig erschüttert, so gerathen die ihm geläufigsten Ideen in brausende Gährung; so wie der Wollüstling, in solchem Zustande, die unzüchtigsten Bilder sieht. Ueberhaupt würden Beobachtungen über Betrunkene und Wahnsinnige zu mancher psychologischen Reflexion Anlaß geben können. Da wird man sehr verschiedene Wirkungen der Trunkenheit bemerken, diesen lachen, jenen weinen sehen — je nachdem die Anlage und Grundstimmung des Temperaments verschieden ist.

Wäre mein Bruder, so dachte ich einmal, indem ich eingedenk dieser traurigen Jugendgeschichte, einen schlafenden Knaben betrachtete, wäre er in dem Augenblick, da der Mordentschluß reifte, erwacht, vielleicht hätte ich mich beruhiget. Allein eben dieser thätigkeitslose Zustand des Schlafenden, die dunkle und verworrene Vorstellung, daß er während desselben, weder Freude noch Schmerz empfinde, verstärkte die Betäubung meines Verstandes, um so mehr, da ich innerlich und äusserlich auch sogar keinen Widerstand fühlte. Selbst gegen die Vorstellung, welchen Schmerz ich ihm verursachen würde, blieb ich kalt und unempfindlich, so daß sie mir keinen Einfluß auf die Aenderung meines Entschlusses gehabt zu haben scheint. Erwachte vielleicht eine ursprüngliche Neigung, die erst durch das Alter geschwächt und durch Erziehung reiner gestimmt werden muß, aus ihrem Schlummer? Bekanntermaßen kann ein Kind, so lange es keine ähn-[71]liche Empfindung aus Erfahrung kennt, oder aus Leichtsinn nicht darauf achtet, ein unschuldiges Thier, mit kaltem Blute, zu Tode martern; es belustiget sich sogar, weil es sich in den Schmerz desselben nicht hinein denken, ihn noch nicht mit empfinden kann, an den konvulsivischen Bewegungen desselben, und scheint in diesem Augenblick ein dunkles Gefühl von Uebermacht und Größe zu haben, Herr über Leben und Tod zu seyn. Noch kann ich die starke Muthmaßung nicht verschweigen, so gern auch die Verschwiegenheit bei dem alles menschliche Gefühl empörenden Gedanken, den Finger auf den Mund legte, daß ich in diesen Gedränge wilder Vorstellungen und Empfindungen einen unwiderstehlichen Trieb empfand, diese That als etwas ausserordentliches auszuführen. Dieser heftige Drang meiner Seele nach Kraftäusserung, die gerade auf diese verwirrte Vorstellung mit der größten Geschwindigkeit gerieth, mußte eben daher mein Gemüth, nach den Gesetzen der Einbildungskraft, mit der furchtsamsten Aengstlichkeit*) 4 erfüllen, und [72]ich ergriff, um nur diesem schrecklichen Zustande ein Ende zu machen, verzweiflungsvoll das Messer —

So muste ich also erst auf dem höchsten Gipfel der Verzweiflung geführt werden, mein Blick sich in der Tiefe des Abgrunds verlieren, über welchen ich schon mit einem Fuße schwebte! Je tiefer diese Kluft ist, desto leichter kann sich der Mensch oft retten, geschwind zieht er den schwankenden Fuß zurück und stürzt vielleicht öfter, bei minderer Tiefe hinein. Ohne Bild: je näher solche Aufwallungen, wie dieser Blutdurst, den Zweck vor sich haben, je näher und je größer ihnen die Gefahr scheint; desto stärker ist ihre Wirkung; alle sonst nicht unwirksame Hindernisse werden blindlings übersprungen, und eben so stark und schnell wirkend müssen die Gegenmittel seyn, wenn sich ihre Hitze legen soll. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn das Messer nicht gerade so beschaffen und ein anderer als mein Bruder, mir nahe gewesen; hätte anders dieser rasende Einfall, nach den bisherigen Vermuthungen, unter veränderten Umstanden zu der Reife gedeihen können.

[73]

Aber eben weil ich diesen aufwallenden Mordgedanken nicht von allen Seiten betrachtete, um das Zufällige desselben einzusehen; so verfolgte ich ihn in seiner Einheit, gleich dem Furchtsamen, der unaufhaltsam fortläuft, indem ihm sein zurückbleibender Verfolger triumphirend nachsieht. Ich möchte daher eine doppelte Beschaffenheit unsrer Ideen annehmen: entweder ist die Wirksamkeit derselben positiv, wenn der Geist mit freyer Einsicht und Bewußtseyn handelt, das wäre Selbstmacht des Geistes — oder sie ist negativ, wenn eine Vorstellung herrschend wird, die man im Moment der ersten Regung hätte schwächen sollen, wäre es auch nicht möglich gewesen, sie ganz zu unterdrücken; daraus entsteht Ohnmacht des Geistes, wenn wir eine unwillkührlich herrschende Idee nicht entfernen können. Ueberläßt sich nun die Seele leidend einem solchem Zustand, worin sie mehr empfindet als denkt, so ist sie sich des Uebergangs von einer Idee zu der andern nicht deutlich bewußt. Aus diesem Mangel der Einsicht in den Zusammenhang zwischen Grund und Folge, glaubt' ich einen nothwendigen Beruf zu haben — gedacht! gethan! — ich stand auf —

Doch ermannt ich mich, und kam in dieser Crisis auf den Gedanken, das Messer zusammen zu legen und zu verstecken. Zu dem sonderbaren Einfall, dasselbe auf diese Art in Sicherheit zu bringen, scheint mir die Wegräumung der Bücher das Vehikel [74]gewesen zu seyn. War ich vorher so schwach gewesen, mich von dieser Mordlust, wer weiß noch durch welchen Trugschluß und heimliche List der Einbildungskraft, beschleichen zu lassen; so konnte auch allerdings dieser Umstand wieder viel zu meiner Befriedigung beytragen. Während dieser Elastitität der Seele, man erlaube mir einmal dieses Wort, kann der geringste Umstand den Seelenkräften eine ganz andere Richtung geben, eben weil der Mensch, nach wie vor, nicht selbst handelt, sich beidemal überraschen und täuschen läßt, und in diesem Taumel so gestimmt ist, daß ihn alles frappirt. Freylich ist eben so leicht auch ein Rückfall möglich, der immer, je geschwinder er erfolgt, um so gefährlicher zu seyn pflegt.

In wie fern der damalige Zustand des Körpers, auf dieses psychologische Phänomen Einfluß hatte, das läßt sich freylich hinterher nicht mit Gewißheit bestimmen, um so weniger, da es ein Fall ohne seines gleichen in meinem Leben ist. Augenscheinlich war dieser Mordentschluß eine Wirkung sehr zusammengesetzter Triebfedern, und muß ursprünglich wohl mehr aus physischen als aus moralischen Ursachen hergeleitet werden. Eben das Unwillkührliche bei diesen Gedanken, eben der gleichzeitige Widerspruch zwischen Wollen und Nichtwollen, reden laut genug für die enge Verbindung und Abhängigkeit der Seele, die von dem körperlichen geschwächt und übertäubt wurde. Hiervon haben mich noch aufs neue [75]einige auffallende Beispiele überzeugt, die ich auch, ihrer Aehnlichkeit wegen mit dieser Selbsterfahrung, am Ende beyfügen will.

Hat nun die Lage des Körpers bekanntermaaßen schon so großen Einfluß auf die Träume, so konnten auch bei diesem Mordentschluß meine Nerven, durch die anhaltend lebhafte Empfindung, unwiderstehlich gereitzt und erschüttert werden; das Blut so lange in den Adern heftig wallen, bis es durch die Bewegung des Körpers, da ich aus dem Bette stieg und nach dem Messer ging, wieder in gleichmäßigem Lauf*) 5 kam, und sich die Hitze der Imagination abkühlte, weil Zeit und Veränderung des Orts mehr Licht und Klarheit in meine Vorstel-[76]lungen brachten. Ohne Zweifel hat das Klima auf jeden Mörder beträchtlichen Einfluß; anders handelt er unter einem wärmern, anders unter einem kältern. Der letztere geht langsamer und bedächtiger zu Werke, bey jenen ist der Gedanke: ich will, ich muß Eins, ein Ton, ein Ruf, von dem er sich auf- oder abgefordert glaubt. Er denkt's und mordet.

Indem nun meine Empfindungen und Gedanken ihren gewissen Zusammenhang, Vorstellungs- und Begehrungskräfte ihre gehörigen Verhältnisse wiedererhielten; so konnte ich noch das beste Mittel gegen solche Bestürmungen gebrauchen. Ich verfolgte die Spur dieser erschlichenen Idee, sahe die Täuschung ein, indem meine Seele zu der Idee, von welcher sie ausgegangen war, auf demselben Wege zurückkehrte. Durch diese Rückwirkung wurde das Gleichgewicht meiner Seelenkräfte wiederhergestellt, mein Geist nüchtern, ich meiner selbst wieder deutlich bewust, und die Versuchung nahm ein erwünschtes Ende.

Dies scheint der Gang vieler, diesem überraschenden Gemüthszustande ähnlicher, Erscheinungen zu seyn, die eben so wenig von selbst, als das Echo ohne vorhergehenden Schall, entstehen können, und uns nur deswegen so blenden und täuschen, weil wir die Nothwendigkeit ihres succeßiven Erfolgs nicht einsehen. Denn je zufälliger, je schneller eine Idee entsteht, desto tiefer ist ihr Eindruck, desto [77]leichter bemeistert sie sich der ganzen Kraft der Seele.

Indessen wird die Semiotik der Psychologie für jeden Fall besondere Symptome aufzeigen, da die individuellen Umstände immer gewisse Besonderheiten und Einschränkungen mit sich führen, und der Selbstbeobachter oft am richtigsten von solchen labyrinthischen Verirrungen urtheilen können. Bey der meinigen muß insonderheit das Alter, wo sich nur erst die zartesten Keime des künftigen Charakters zeigen, in Betracht genommen werden, da keine von den gewöhnlichen Ursachen des Mords und Todschlags, an deren Spitze die Verzweiflung steht, dabey statt finden konnten. Jene Jahre, wo der Jüngling, bey dem feinern Gewebe und der daher stärkern Reitzbarkeit der Gehirnfibern, aller Eindrücke fähig, mit dem Gang der Leidenschaft und mit den Blendwerken der Einbildungskraft noch gar nicht bekannt ist; und die Unvernunft solcher Vorstellungen nicht einsehen kann, daher in der Bestürzung oft den gefährlichsten Ausweg sucht; diese Jahre scheinen dieser versuchten Beleuchtung noch besonders günstig zu seyn. In spätern könnte ein solcher Gemüthszustand nur bey der äußersten Seelen- und Körperschwäche eintreten, Verstand und Wille würden so lange in Widerspruch nicht geblieben seyn.

[78]
Anhang einiger Erfahrungen von der Gewalt unwillkürlicher Ideen.

Vieweg, Johann Gottfried

Eine neuere Selbsterfahrung: Es stellten sich mir wachend, bey einer unausstehlichen Fieberhitze, am hellen Mittage, Gegenstände dar, die ich wirklich zu sehen ja selbst zu befühlen glaubte; Ideale von weiblicher Schönheit, woran ich unter solchen Umständen gewiß am wenigsten dachte, die ich auch, alles Bestrebens ungeachtet, anfänglich nicht verscheuchen konnte. Die anhaltende Lebhaftigkeit dieser unwillkührlichen Vorstellungen, beunruhigte mich so sehr, daß ich mir die Nothwendigkeit als ganz unvermeidlich dachte, aus dem Fenster springen zu müssen.

Die Ueberzeugung in Gegenwart dieser Erscheinungen, daß die zunehmende Hitze diese Einbildungen hervorbringe, und das Unvermögen diesen keine andere Vorstellungen unterzulegen, nebst der unnöthigen Schaam, den Meinigen zu sagen, daß sie mich nicht allein lassen sollten, vermehrten meine Bestürzung ungemein. Nur das Ueberraschende dieser Erscheinungen brachte mich auf die Besorgniß, wer weiß noch zu welchem Einfall genöthiget zu werden, und die Höhe meines Schlafzimmers erzeugte die Furcht, in der Hitze einen tödtlichen Sprung aus dem Fenster zu thun.

[79]

Einen ähnlichen Streich spielte die Einbildungskraft einem bis dahin an Leib und Seel gesunden siebzehnjährigen Mädchen. Ihr lebender Bruder erscheint ihr im Traume mit dem Zuruf: bereite dich, du mußt jetzt sterben! — Indem wacht sie auf, wird durch diese Täuschung aufs heftigste erschüttert und betäubt, wirft sich betend zur Erde nieder, um sich zu ihrem nahen Ende vorzubereiten. Die durch ihr Klaggeschrey aufgeschreckten Angehörigen suchen sie zu beruhigen, den vermeinten nahen Tod ihr auszureden, allein vergebens; sie können sie anfänglich nicht einmal bewegen, von der Erde aufzustehen, bis es endlich, einigen entfernt wohnenden nahen Anverwandten, die hinzugerufen werden musten, gelingt, sie wieder zu sich selbst zu bringen. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl, und gedenkt erst die Freuden dieses Lebens noch in vollen Zügen zu geniessen. Ein neuer Beweis, daß weibliche Imagination reitzbarer und ausschweifender als Männer-Imagination ist!*) 6

[80]

Sollten solche unwillkührliche Vorstellungen, wie die meinigen bei der Fieberhitze, nicht auch im gesunden Zustande des Körpers, bei gleich hohen Grade der Hitze des Bluts, entstehen können? (Findet doch der philosophische Arzt eine Ursache mancher Verwirrungen des weiblichen Verstandes, besonders derer, die aus der Furcht entstehen, in der verhaltenen monatlichen Reinigung) — Wenigstens ist jene, durch die sich ausbildende Organisation, bewirkte größere Wärme des Körpers, unstreitig eine geschäftige Gehülfin der schöpferischen Einbildungskraft in den Jünglingsjahren. Eben so fühl ich mich oft, nach einer starken und ermü-[81]denden Leibesbewegung, zu lichtvollen Vorstellungen am aufgelegtesten.

Wie oft steigen nicht bey gesunden Tagen in unserer Seele Gedanken auf, die uns, wenn wir sie nur näher analisirten, sonderbar genug vorkommen würden! Allein die Seele kann bei dem höchsten Grad der Empfindniß oder Eindrucksfähigkeit gerade so gestimmt seyn, daß die Bilder, während dieser Ebbe und Fluth, so geschwind wieder verschwinden, als sie sichtbar werden, eben weil sie sich an die übrigen Vorstellungen nicht anknüpfen, daher Eindruck und Bewustseyn nicht stark, nicht bleibend seyn kann.

J. Gottfr. V..w.g.
in Bschwg.

Fußnoten:

1: *) Bei uns ist der Mord ein Vorwurf der verbietenden Moral, nicht so bei allen Völkern. Bei den Türken wird der Meuchelmord belacht, bewundert, sogar begünstiget. In Italien nennt man die Meuchelmörder bravos. — Oft scheint es, werden die Rechte der Menschheit mit den Rechten der Sprache zugleich gekränkt. So wie eine Nation an Simplicität verliert, so kommen auch die besten Wörter und Redensarten bei ihr in üblen Ruf und Bedeutung. Das Heilige wird profan. Um also in den Gemeingeist einer Nation tief einzudringen, muß man nothwendig auch ihre Sprache in psychologischer Rücksicht studiren.

2: *) Eine Art von melancholischer Wuth, die nur gegen Abend ausbricht, und nicht über 8 bis 14 Tage anhält, ist eine eigne Krankheit einiger Waldbewohner in Amerika, die aus Rache an den Zauberinnen, welchen man sie zu schreibt, viele Mordthaten begehen.

3: *) Es giebt oft ganz besondere Aeusserungen der Furcht, insonderheit bei Kindern. Nur ein Erfahrungsbeispiel. G** ein Knabe von dreizehn Jahren, den Muth und Herzhaftigkeit aus beiden Augen strahlt, der nirgends Gefahr sieht, besonders sehr beherzt auf jedem Pferde ist, zittert vor Angst und Schrecken bei der geringsten schiefen Richtung des Wagens, worin er sich befindet. Aus keiner andern Ursach, als weil er, wie er sagt, das Pferd in seiner Gewalt habe, hingegen bei dem Fahren sich dem Willen des Fuhrmanns überlassen müsse. Sich dieser unwillkührlichen Furcht zu entschlagen, ist ihm bis jetzt noch nicht gelungen.

4: *) Eben so schreibe ich den innern Beruf, zur Unzeit und am unrechten Orte laut reden zu müssen, vornehmlich der furchtsamen Bestürzung über das Unerwartete und Seltsame des Einfalls, und dem darauffolgenden Mißtrauen zu. In reifern Jahren konte der Unwille über einen falschen Gedanken, über unwichtige Deklamation u.d.g. noch besondere Veranlassung zum heimlichen Widersprechen geben. Es ist doch wohl nicht gar verbißner Unwille, daß einer die Freyheit hat, vor so vielen allein zu reden? Ich weiß sonst nicht, warum solche Anwandlungen gewöhnlich in der Kirche Statt finden.

5: *) Von solchen Unordnungen des Kreislaufs und den daraus entspringenden Erscheinungen scheint auch folgende Erscheinung zu zeugen: der schon erwehnte Knabe wird öfters, besonders in heißen Tagen, von den gräßlichsten Träumen beunruhigt, wo er durch sein fürchterliches Geschrey und Arbeiten mit Händen und Füßen, alle in der Nähe aufschreckt. Zureden hilft nichts, er antwortet aber ganz verwirrt, und sogleich tritt der Paroxismus wieder ein. Ich kann ihn nicht anders ermuntern, als wenn ich ihm kaltes Wasser zu trinken gebe und das Bette lüfte. Im Besinnen weiß er gewöhnlich von nichts, als ein Geschrey gehört zu haben, wodurch er seine Betäubung ohne Zweifel selbst noch vermehrt hat: nur erst nach langem Nachdenken kann er seinen Traum angeben, der freylich so sonderbar und so ganz ausser dem Gleisse seiner vorgängigen Ideen zu liegen scheint, daß wir beide ihn nicht zusammenreimen können.

6: *) Hierzu kann die Geschichte der Schwärmer, die bisher für die Psychologie noch zu wenig genutzt ist, sonderbare Beispiele in Menge liefern. Auf eins der auffallendsten muß ich doch aufmerksam machen: Ein 20jähriges Mädchen vermischte übertriebene Religions-Schwärmerey so sehr mit Verliebtheit, daß sie endlich aus bloßer Furcht, den Gegenstand ihrer Liebe vielleicht nicht zu erhalten, in völlige Verrückung des Verstandes fiel. Sie bekam Entzückungen, sprach oft und viel von der nahen Ankunft der Gerichte Gottes und des Bräutigams insonderheit. Mit diesem unterredete sie sich sehr freundschaftlich, und strebte oft darnach, denselben in ihre Arme zu schliessen. Erscheinungen, die sich leicht erklären lassen! — Hierbei hatte sie noch den vernünftigen Gedanken, niemand, als ihr Busenfreund, könne ihr Arzt ihr Helfer seyn. Endlich verließ sie den himmlischen Bräutigam mit dem Troste: es sey Gottes Wille, sie solle ihren Geliebten heirathen. Von dem Augenblick an hörten alle Entzückungen auf, und der irdische Bräutigam blieb ihr einziger Arzt und Freund. — Ohne Zweifel vermehrten die Angehörigen durch ihre Einfalt und Leichtgläubigkeit dieses Uebel, wobei, anfänglich wenigstens, Verstellung mit zum Grunde lag. Diese Geschichte mit bedeutenden Winken s. in Theobald, oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte von Hrn. Stilling. 1ster Band Leipzig 1784. 8. a

Erläuterungen:

a: Jung-Stilling 1784/1785. Bd. 1 enthält die Geschichte von Sannchen bis zur Hochzeit mit dem Erzähler (S. 288-359).

VII.

Ueber die Neigung der Menschen zum Wunderbaren.

Pockels, Carl Friedrich

Das Wunderbare ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern, bei den rohesten und unwissendsten sowohl, als bei den kultivirtesten und aufgeklärtesten ein Gegenstand ihrer besondern Aufmerksamkeit und Hochachtung gewesen. Jede Nation glaubt an geschehene Wunder, und ist geneigt an zukünftige zu [82]glauben. Jede Religion, oder eigentlicher zu reden, das Ansehn jeder Religion, gründet sich nach der Meinung der größern Menge auf den Glauben an wundervolle Begebenheiten, und durch diesen Glauben, eben weil er von jeher der Glaube der größern Menge war, sind unter den Menschen die wichtigsten Revoluzionen bewürkt worden, welche die scharfsinnigste Philosophie und weiseste Politik, verbunden mit der unumschränktesten Gewalt nie zu Stande gebracht haben würde — und welche wichtige Veränderungen wird dieser Wunderglaube nicht noch in Zukunft hervorbringen können! — Doch hievon wollte ich nicht reden. Meine Absicht geht dießmal nur vornehmlich dahin, einige Gedanken über die Neigung des menschlichen Geistes zum Wunderbaren in psychologischer Rücksicht aufzusetzen, und ihre Ursachen, und Aeusserungen zu beleuchten.

Weil der Glaube an Wunderwerke sich allemal auf den Glauben an ein unsichtbares, oder mehrere unsichtbare Wesen, und deren besondern Einfluß auf die Begebenheiten der Welt gründet; so will ich hier nur noch dieß Wenige vorausschicken.

Wir sind durch die tägliche Erfahrung so unendlich oft belehrt worden, daß eine jedwede Würkung eine vorhergegangene Ursach zum Grunde haben muß, daß auch der gemeinste Verstand, gleichsam durch eine mechanische Verknüpfung seiner Vorstellungen von Ursach und Würkung, gezwungen [83]wird, sich da eine Ursach hinzudenken, wo sie auch nicht in die Sinne fällt, oder überhaupt ganz unbekannt ist. Unsere Seele fühlt gemeiniglich eine Art von besonderer Unruhe, so lange sie noch nicht die zureichende Ursache einer Begebenheit kennt, und in dieser Unruhe fühlt der Mensch sich besonders sehr geneigt, zur Befriedigung seiner Wißbegierde Ursachen zu fingiren, und diese fingirten für die wahren zu halten. Ein Fehler, worein oft selbst die größten Köpfe gefallen sind. Der gemeine Menschenverstand nimmt hiebei seine Zuflucht gemeiniglich zu einem Mittel, wodurch er auf einmal seine Wißbegierde, ohne daß er schwerere Untersuchungen über die Natur der Dinge nöthig hat, zu befriedigen glaubt, und wobei seine Phantasie zugleich auf eine angenehme Art unterhalten wird — er macht unsichtbare Wesen zu den Ursachen ihm unerklärbarer Begebenheiten. Je mehr dergleichen Begebenheiten der, mit den natürlichen Beschaffenheiten der Dinge unbekannte menschliche Verstand in der Welt antraf, je geneigter mußte er sich fühlen, an jene unsichtbaren Geister zu glauben, und ihre unmittelbare Einwürkung auf die Welt sich bei den natürlichsten Zufällen vorzustellen, von denen er nicht den physischen Grund kannte. Es ist daher wohl nicht zu läugnen, daß die Menschen nicht durch tiefes Nachdenken, oder Offenbarungen, sondern durch Unwissenheit in der Naturlehre, und durch die Neigung zum Wunderbaren zuerst auf die Be-[84]griffe von Geistern und Göttern guter und böser Art gekommen sind. Die alte Philosophie und Dichtkunst haben sich gleich eifrig bemüht, diese Begriffe, welche vornehmlich die Großen zur Lenkung ihrer Untergebenen so nöthig hatten, zu befestigen, und zu verschönern; aber aller ihnen gegebene dichterische Schmuck, und alle Philosophie hat nicht zureichen wollen, ihren Ursprung aus einem rohen Zeitalter der menschlichen Vernunft vor den Augen aufgeklärter Richter zu verhüllen.

Doch zur Sache. — Die Neigung der Menschen zum Wunderbaren, und, ich kann hinzusetzen, zum Fabelhaften, hängt lediglich von dem so mächtigen Triebe der menschlichen Seele ab, neue Vorstellungen, und zwar solche zu empfangen, wodurch ungewöhnlich lebhafte angenehme Empfindungen in uns hervorgebracht, und erhalten werden. Jene neuen Vorstellungen, wonach wir vermöge eines uns natürlichen Erweiterungstriebes unserer Geistesthätigkeit streben, sind uns allemal um so viel willkommener, je mehr sie den Reiz der Neuheit an sich haben; je weniger sie also an eine uns schon geläufige Menge bekannter Vorstellungen gränzen, und je lebhafter die Eindrücke sind, welche sie in dem Gebiete unserer Empfindungen zurücklassen. Das Wunderbare ist aber vornehmlich geschickt, lebhafte Eindrücke auf uns zu machen und unsere Leidenschaften zu erschüttern. Wir fühlen es sehr deutlich, daß unsere Seele in eine heftige Bewegung geräth, [85]wenn uns eine wunderbare Begebenheit erzählt wird; oder wenn wir sie selbst zu sehen Gelegenheit haben. Unser Blut fängt heftiger zu wallen an, unsere Gedanken folgen in einer ungewöhnlichen Schnelligkeit auf einander. Unsere Aufmerksamkeit scheint sich mit jedem Augenblicke zu verdoppeln. Alle unsere Seelenkräfte sind gespannt, um keinen Umstand der sonderbaren Begebenheit ausser Acht zu lassen, und diese Spannung drückt sich sogar in Zügen unseres Gesichts aus. Man hat sogar merkwürdige Beispiele, daß Menschen dabei in Ohnmachten und Wahnsinn gefallen sind. Nichts ist uns unangenehmer, als in diesem Zustande lebhafter Vorstellungen, worein uns das Wunderbare versetzt hat, durch Gegenstände gestört zu werden, welche diese neuen Vorstellungen unterbrechen, und wir wünschen nicht selten — wenn wir auch gleich an die wunderbare Begebenheit selbst nicht glauben können — daß sie wahr seyn möchte. So angenehm ist das Vergnügen, welches wir daraus schöpfen, und so stark der Reiz, welchen die Bewunderung für unsere Vorstellungen und Empfindungen hat.*) 1 Die Wunderthäter älterer und neuerer [86]Zeiten haben hierin die menschliche Seele sehr gut gekannt. Sie haben den erstaunlichen Hang derselben zum Wunderbaren zu nähren, und ihre Phantasie für ihre Plane durch allerlei Kunstgriffe zu erhitzen gewußt, und die Menschen — die so leicht zu täuschenden Menschen — haben ihnen auch bereitwillig die Hände gebothen, sich hintergehen zu lassen. —

Mich dünkt, es giebt noch einen Hauptumstand, wodurch die Neigung der Menschen zum Wunderbaren so stark, und dieses so anziehend für sie ist, ich meine den, daß wir nicht nur mit einer angenehmen Leichtigkeit und Schnelligkeit unseres Geistes jene neuen Ideen, die durch das Wunderbare in uns hervorgebracht werden, auffassen; sondern daß auch jedesmal unsere Einbildungskraft dadurch aufs lebhafteste beschäftigt wird. Alles was diese in uns unaufhörlich thätige Kraft der menschlichen Seele in Bewegung setzt, alles was ihr neue [87]Bilder verschaft, gesetzt daß auch diese Bilder selbst etwas Schreckliches an sich haben sollten, hat einen besonders hohen Grad des Vergnügens für uns, und wir schätzen diese Art des Vergnügens um so viel mehr, weil es unzähliger Abwechselungen fähig ist, und nicht, wenn es lange genossen wird, wie die Ergötzungen der Sinne am Ende Ekel mit sich führt. Es ist bekannt, daß die Bilder unserer Einbildungskraft, welche ohnedem noch den Reiz haben, daß sie sich ohne Anstrengung des Geistes von selbst darbieten, oft so lebhaft und mächtig in uns werden können, daß sie uns nicht selten aus einer würklichen Welt in eine idealische hinausheben, worin es uns denn deswegen gemeiniglich so wohlgefällt, weil wir lauter unbekannte Dinge darin antreffen, die unsere Neugierde beschäftigen. Nichts beschäftigt und unterhält daher unsere Einbildungskraft mehr, als das Wunderbare. Eine natürliche Begebenheit macht darum den lebhaften Eindruck nicht auf uns, weil sie gemeiniglich schon in allen ihren Theilen bestimmt ist, weil sie nichts Besonderes enthält, was unsere Neugierde reitzt, und weil wir dergleichen Begebenheiten schon oft gesehen und gehört haben. Mit dem Wunderbaren verhält sichs ganz anders. Hier bemerken wir lauter neue Gegenstände, eine ganz neue Scene wird auf einmal vor unsern Augen eröfnet, und hundert angenehme Bilder unserer Phantasie schwärmen um uns herum. Die Ideen, womit wir uns so gern beschäftigen, daß gewisse [88]überirrdische Wesen bei einer wundervollen Begebenheit mit im Spiele gewesen seyn müssen; die dunkeln uns in Erstaunen setzenden Begriffe von der ausserordentlichen Kraft, die, um jene Begebenheit zu Stande zu bringen, erfordert wurde; die Wißbegierde, wie doch wohl wunderthätige Menschen in den Umgang mit der Gottheit gekommen seyn mögen, und wie sie sich darin zu erhalten wissen; die äusserst schnelle, ungewöhnliche, uns unbegreifliche Zusammenstellung von Umständen, die eine wunderbare Scene ausmachen — alles dies erhält unsern Geist in einer beständigen Spannung, und weil unsere Wißbegierde dabei eigentlich nie ganz befriedigt wird, weil uns dabei, wenn wir auch einen deutlichen Begrif von dem Zusammenhange der Begebenheit haben, immer die geheime Einwürkung der Gottheit auf Sachen und Personen unbegreiflich bleibt; so verdoppeln jene Umstände unsere Aufmerksamkeit ohngefähr so, wie wir unsere Augen anstrengen, um eine entfernte uns sonderbar vorkommende Sache zu sehen. Unbefriedigte Wißbegierde ist es also vornehmlich, was unsere Seele so geneigt gegen das Wunderbare macht. Ueberhaupt aber reitzt in unzähligen Fällen das Unvollendete, Halbbekannte und Versteckte in Erzählungen sowohl, als Begebenheiten und Gegenstände menschlicher Künste und Wissenschaften unsere Aufmerksamkeit mehr, als das Bestimmte, Vollendete und Bekannte, weil durch jenes nach einem psychologischen Erfah-[89]rungssatze die Lebhaftigkeit unserer Ideen in Bewegung erhalten; durch dieses aber gewissermaßen eingeschränkt wird.

Die Würkungen, welche das Wunderbare in unserer Seele hervorbringt, fangen sich allemal durch jenen Zustand des Gemüths an, den wir Erstaunen, oder wenn wir nicht so lebhaft wie bei diesem afficirt werden, Bewunderung zu nennen pflegen; Gefühle, die sich mehr durch ihre Empfindungen von einander unterscheiden, als sich genau beschreiben lassen. Alles, was sich der menschliche Geist als etwas Großes und Erhabnes, in der Geisterwelt sowohl, als in der Körperwelt vorstellt; wobei er sich die Ueberwindung, oder die Nothwendigkeit der Ueberwindung einer Menge von Hindernissen und Gefahren denkt; wo er sich lebhafte Begriffe von einer ausserordentlichen Kraft macht, die entweder mit einer unerwarteten Schnelligkeit, oder in einem großen Umfange würkt, erregt in uns jenes Gefühl des Erstaunens, welches bisweilen, wenn es zu stark, und durch zu lebhafte Bilder der Phantasie erzeugt wird, in eine Betäubung unserer Sinne ausartet, welche die Folge unserer Vorstellungen unterbricht, und den Gebrauch unserer Sprache aufhebt.

Mich dünkt, daß Erstaunen, es mag nun entweder durch eine wunderbare Begebenheit, oder durch etwas körperlich Erhabenes hervorgebracht werden, überhaupt genommen allemal von einigen [90]dunkeln Begriffen über die Sache begleitet werden muß, wenn unsere Seele in diesem Zustand gerathen soll. Dunkele Vorstellungen haben eine erstaunliche Gewalt über das Gebiete unserer Empfindungen, sonderlich zur Hervorbringung der Furcht, und des damit so nah verwandten Erstaunens. Die Erfahrung ist offenbar für jene Behauptung. Wir fühlen es deutlich, daß ein erhabener Gegenstand, eine wunderbare Begebenheit, welche in uns ein Erstaunen hervorbringt, diese Würkung nicht mehr, wenigstens lange nicht in einem so hohen Grade äussert, wenn jener Gegenstand in seine einzelnen Theile zergliedert, nach den verschiedenen Verhältnissen seiner Größe einzeln betrachtet; und diese Begebenheit nach ihren einzelnen geheimen Triebfedern uns deutlich vor Augen gestellt wird. Unsere Bewunderung hört auf, wenn wir uns das Ding auf einmal deutlich nach seinem ganzen Umfange vorstellen können.

Unter den sinnlichen Gegenständen erregen ein Erstaunen besonders Dinge von einer großen Dimension, vornehmlich einer großen Höhe und Tiefe; oder wo wir uns vermöge unserer Einbildungskraft eine große Dimension hinzudenken, daher Dunkelheit und Finsterniß so leicht ein Erstaunen erzeugt, weil wir uns alles Dunkele von einer ungeheuren Ausdehnung denken, wenn wir seine Gränze nicht überschauen können; Aeusserungen einer sehr großen Kraft, sie mag nun als eine todte, oder lebendige [91]Kraft betrachtet werden; sehr schnelle Bewegung eines Körpers; unerwartete fürchterliche, oder auch angenehme Töne die uns überraschen — alle Gegenstände, wovon wir uns in dem Augenblicke der Ueberraschung und des Erstaunens keine deutlichen, sondern nur dunkele Begriffe machen können.

Bei Vorstellungen von etwas Wunderbarem scheint unsere Seele ohngefähr so afficirt zu werden, als wenn sich ihr Gegenstände von einer sehr großen Dimension darstellen. Nur ist hierbei der Unterschied zu merken, daß das durchs Wunderbare erregte Erstaunen von einer längern Dauer ist, als dasjenige, welches sichtbar erhabene Gegenstände in uns hervorbringen. Der Grund der Dauer einer Empfindung liegt allemal in der längern Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen einer Sache, und diese längere Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen bei dem Wunderbaren hängt gewiß davon ab, daß das Wunderbare in allen seinen Theilen wunderbar und erhaben ist, daß wenn wir es auch Stückweise betrachten wollen, wenn uns nur nicht dadurch die versteckten natürlichen Triebfedern desselben bekannt werden, immer der Zustand der Bewunderung unserer Seele noch fortdauert, weil uns noch viel Unbekanntes davon zu wissen übrig bleibt, und unsere Aufmerksamkeit eben dadurch immer gleich lebhaft erhalten wird.

[92]

Sichtbar erhabene Gegenstände aber hören gemeiniglich auf, unser Erstaunen zu erregen, sobald wir sie in ihre einzelnen Theile zerlegen und uns das Ganze mehr succeßiv als auf einmal und folglich dunkel vorzustellen anfangen. Hierzu kommt noch der besondere Umstand, daß wir uns nach und nach an erhabene sinnliche Gegenstände, wenn wir sie oft sehen, so gewöhnen können, daß sie endlich keinen, oder doch nur einen geringern Grad des Erstaunens in uns erzeugen. Ich gebe zu, daß sich unsere Phantasie endlich auch an das Wunderbare gewöhnen kann; aber dieses Gewöhnen geschieht gewiß bei diesem auf eine weit langsamere Art, als bei sichtbar erhabnen Gegenständen. Wir können eine wunderbare Begebenheit hundertmal erzählen hören, und doch wird sie uns immer neu zu bleiben scheinen. Unsere Einbildungskraft wird bei jeder wiederhohlten Erzählung von neuem mächtig aufleben, unsere Wißbegierde wird uns immer wieder antreiben, die wunderbaren Maschinen zu entdecken, wodurch jene Begebenheit bewürkt wurde, und eine Reihe von Jahrhunderten selbst, die seit geschehenen Wunderwerken bis jetzt verflossen sind, wird uns gegen Dinge nicht gleichgültig machen können, die wir gleichsam noch jetzt vor Augen zu sehen glauben. Wir versetzen uns nur zu gerne in jene Epochen der Geschichte, die sich durch ausserordentliche Begebenheiten und Wunderwerke auszeichnen, wir wünschen zu diesen Zeiten gelebt zu haben, und in dieser [93]Stimmung unseres Gemüths wird es ausserordentlich leicht, alles — ohne Untersuchung zu glauben, was uns aus jenen wundervollen Tagen erzählt wird; aber nicht nur zu glauben, sondern uns auch gegen jeden zu entrüsten, welcher aus Gründen der Vernunft jene wunderbaren Begebenheiten, die sich gemeiniglich unter sehr unwissenden Leuten zugetragen haben, nicht glauben kann.

Doch ich komme wieder zu den Würkungen des Wunderbaren auf die menschliche Seele zurück. Die lebhafte Bewegung, in welche unsere Phantasie allemahl durch ausserordentliche Begebenheiten versetzt wird, theilt sich zugleich einer Menge unserer Leidenschaften mit, die sich bald mit Schrecken und Furcht, bald mit einer überwiegenden Freude, bald in beiden, oder gemischten Empfindungen äußern, je nachdem das Wunderbare einer Begebenheit bald so, bald anders auf unser Herz würkt, und auf dieses würkt es allemal, daher wir auch gemeiniglich einen so lebhaften Antheil an den Schicksalen sogenannter Wunderthäter nehmen, und nicht selten noch eine Hochachtung für sie fühlen, wenn auch ihre Betrügereien schon entdeckt sind.

Nächst dem Erstaunen ist Furcht und Schrecken gemeiniglich mit dem Zustande der Bewunderung verbunden, obgleich jenes von diesen letztern Empfindungen sehr verschieden sein kann. Die Vorstellung von gewissen bei wunderbaren Begebenheiten verborgenen unsichtbaren Kräften und Geistern er-[94]regt nie Empfindung des Erstaunens allein, wie andere erhabene Gegenstände pflegen, sondern wir nehmen zugleich ein Gefühl von Furcht und Schrecken in uns wahr, sobald wir uns das Wunderbarerhabene in Verbindung mit jenen unsichtbaren Wesen denken. Der Grund von dieser besondern Art des Erstaunens liegt ohnstreitig darin, daß wir immer mehr geneigt sind, uns die Gottheit als die unmittelbare Ursach des Wunderbaren, von einer schrecklichen, als liebevollen Seite vorzustellen; weil wir fühlen, daß keine Kraft unserer Natur zureichen würde, die Gewalt eines unsichtbaren Wesens aufzuhalten, wenn sie gegen uns gerichtet würde, und weil wir sogleich immer an andre schreckliche Begebenheiten denken, die ehemals von der Gottheit die Menschen zu bestrafen, veranstaltet wurden, und diese Ideen zusammengenommen zwingen uns die Furcht ab, die wir empfinden, wenn wir die Gottheit gleichsam vor unsern Augen in wunderbaren Begebenheiten handeln sehen. Wenn auch darin der Dichter nicht Recht haben sollte, daß die Furcht zuerst den Glauben an das Dasein der Götter unter den Menschen eingeführt habe; so ist doch nicht zu zweifeln, daß Furcht ihnen zugleich ihre Altäre erbauen, und ihnen Opfer bringen halfen, um ihren Zorn gegen die Menschen zu besänftigen.

Ohnerachtet jener Empfindung der Furcht und des Schreckens, die wir gewöhnlich bei Vorstellung einer wunderbaren Begebenheit in uns wahrneh-[95]men, begleitet uns doch dabei auch oft eine gemischte Empfindung der Freude, die bald allein durch die Neuheit der Sache hervorgebracht, bald durch den Antheil erzeugt wird, den wir an der glücklichen Entwickelung wunderbarer Zufälle nehmen. Auch sind nicht alle Wunderwerke schrecklich, sondern viele stimmen so sehr mit den Wünschen unseres Herzens überein, daß sich nicht selten unsere Freude darüber in ein Entzücken verwandelt, zumal wenn es denjenigen Leuten in einer Wundergeschichte gut geht, für die sich unser Herz gleichsam durch eine zärtliche Sympathie erklärt hat, wenn sie auch gleich seit Jahrhunderten nicht mehr — oder wol gar nicht in der Welt gewesen sind; denn unsere Gefühle täuschen uns oft so sehr, daß wir selbst von Schicksalen solcher Personen gerührt werden, die in der bloßen Einbildungskraft eines Dichters oder Romanschreibers existirt haben.

Es sei mir erlaubt zum Beschlüsse dieses Aufsatzes noch jener besondern Erscheinung der menschlichen Seele zu gedenken, die sich bei Leuten von einer sehr lebhaften Einbildungskraft schon so oft gezeigt hat, und sich in unsern Tagen bei so manchem erhitzten — auch wohl aufgeklärten Kopfe, bis diesen Augenblick zeigt — nehmlich des schwärmerischen Gefühls, welches jene Leute von einer eigenen beiwohnenden Wunderkraft zu empfinden glauben. Man kann alle menschlichen Wunderthäter der alten und neuen Geschichte in zwei Klassen theilen, in sol-[96]che, die nie geglaubt haben, daß sie Wunder thun könnten; aber es doch zur Erreichung gewisser politischen oder moralischen Endzwecke vorgaben, — dieß waren geflissentliche Betrüger, — und in solche, die wirklich glaubten, daß ihnen eine Kraft Wunder zu thun wirklich mitgetheilt sei, ohne daß sie diese Kraft besaßen. Von diesen letztern Wunderthätern, die in sich eine Wunderkraft fühlten, ob sie sie gleich nicht hatten, will ich nur mit Wenigem reden.

Diese sind — und waren meistentheils gutmüthige Schwärmer, welche durch einen eingebildeten Umgang mit der Gottheit, den sie nicht selten im Schlaf und Traum unterhielten; durch allerlei geistliche und strenge Uebungen, vornehmlich durch die sogenannte Kreuzigung des Fleisches, es dahin gebracht zu haben glaubten; daß sich ihnen die Gottheit nicht nur besonders mittheilen könne, sondern auch als Gliedern ihres Wesens mittheilen müsse; (denn fast alle Schwärmer haben sich mit Gott in einer mystischen Vereinigung zu einem Ganzen betrachtet) die aber doch auch auf der andern Seite gemeiniglich Stolz genug besaßen, um sich von andern Menschen auf eine ausserordentliche Art auszeichnen zu wollen. Kein Schwärmer, selbst der berühmte Gaßner nicht, der uns oft als das höchste Muster der Demuth und der sittlichen Einfalt geschildert worden ist, war vom Stolze frei, und man müßte das menschliche Herz nicht kennen, wenn man jene Leute [97]davon freisprechen wollte. Es ist eine sehr richtige Bemerkung eines großen Kenners des menschlichen Herzens, daß sich Stolz, wenn er kein anderes Mittel mehr wisse, um sich der Welt zu zeigen, in freiwilliger Erniedrigung und Demüthigung nähre. Bemühen, keinen Stolz zu zeigen, ist also an sich schon ein sehr hoher Grad von Ruhmsucht, indem man die Welt überreden will, daß man — was unter tausenden so wenige können, — über die mächtigste Neigung des menschlichen Herzens Herr werden kann, und ich nehme mir die Freiheit zu behaupten, daß geheimer geistlicher Stolz, um das Ding bei seinem rechten Namen zu nennen, die meisten Wunderthäter zu Wunderthätern gemacht habe, und daß der stolze Gedanke, besondere Vertraute der Gottheit zu seyn, ihrer Einbildungskraft alle die listigen Kunstgriffe erfinden half, wodurch sie sich so glücklich in ihrem Ansehn, wenigstens bei der größern Menge zu erhalten gewußt haben.

Aber wie mögen die Schwärmer auf die Idee einer ihnen beiwohnenden Wunderkraft gekommen seyn? Auf eine sehr natürliche Art, und gewissermaßen auch auf einerlei Wege ihrer Vorstellungen. Unsere Phantasie kann mit uns machen was sie will, wenn der ihr so nöthige Führer, die gesunde Vernunft, erst von seinem Posten vertrieben worden ist. Ihre Gefühle können leicht eine solche Gewalt über uns bekommen, daß sie die Empfindungen der [98]Sinne verdunkeln, und uns Dinge als gegenwärtig darstellen, die nie existirt haben. Was sieht nicht alles der im hitzigen Fieber Liegende, und der Wahnwitzige in seiner Phantasie! Der Schwärmer liegt gewissermaßen auch an einem dieser Uebel krank, ohne daß er es weiß und glaubt. Die so lebhafte Art zu denken und zu empfinden, die allen Schwärmern eigen ist; das immerwährende Bemühen, die Seele mit Bildern aus der Geisterwelt zu unterhalten, und geflissentlich von der äußern Welt zurück, und in sich selbst zu kehren; das ängstliche Auflauren auf den Kampf unserer sinnlichen Natur mit göttlichen sich eingebildeten in uns wohnenden Kräften; die seltsame Anstrengung unserer Natur, unsere Sinnlichkeit durch fromme Bilder der Phantasie zu verscheuchen — alles dies muß über kurz oder lang in der Seele des Schwärmers Gefühle erzeugen, die er in dem noch gesunden Zustande seiner Seele nie gehabt hat; die er nun aber, da sie ihm unmittelbar in den Augenblicken, wenn er sich mit der Gottheit beschäftigt, aus dieser Beschäftigung zu entstehen scheinen, wegen ihrer ganz besondern Lebhaftigkeit für Eingebungen der Gottheit hält, so leicht sie sich auch aus der Natur der menschlichen Seele und des Körpers — freilich als Krankheiten und Auswüchse unserer Phantasie, mögen erklären lassen. Wer erst glauben kann, daß die Gottheit mit ihm in einem so genauen Umgange stehe, daß sie auf ihn besonders influire, [99]der hat nur noch einen Schritt zu thun, zu glauben, daß man durch jene Influenz auch Wunder verrichten könne. Dieser Glaube ist gleichsam das non plus ultra aller Schwärmer gewesen; bis hierher haben sie nur zu kommen gesucht — und konnte wohl etwas in der Welt mehr ihrem Stolz schmeicheln, als eben dieser Glaube! Was ging es übrigens den Schwärmer an, ob er auf Kosten der gesunden Vernunft geglaubt wurde, da ohnehin von jeher die Schwärmerei alles angewandt hat, um die gesunde Vernunft zu unterdrücken, und sie als eine armselige Führerin der Wahrheit auszuschreien.

C. F. Pockels.

Fußnoten:

1: *) Hume — der unsterbliche Hume, hat sehr Recht. Die Leidenschaft des Erstaunens und des Bewunderns, sagt er, die durch die Wunderwerke erregt wird, ist eine angenehme Bewegung und Aufwallung des Gemüths, und lenket uns deswegen auf eine merkliche Weise diejenigen Begebenheiten zu glauben, durch welche sie erregt wird. Und dieses geht so weit, daß selbst diejenigen, welche dieses Vergnügen nicht unmittelbar geniessen, noch diejenigen wunderbaren Begebenheiten glauben können, von denen sie berichtet werden, dennoch dieses Vergnügens von der andern Hand, und gleichsam durch eine Zurückprallung theilhaftig werden wollen, und einen Stolz und eine Belustigung darin suchen, die Bewunderung anderer zu erwecken. Siehe Humes Versuch von den Wunderwerken. a

Erläuterungen:

a: Hume 1748, 'Of Miracles', S. 173-203, hier S. 184-186.

[100]

Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.

I.

Umriß der Krankheitsgeschichte eines zwölfjährigen Knaben.

Anonym

Ich halte es für nöthig, dieser Geschichte einige Bemerkungen über den wahrgenommenen Charakter dieses Knabens voranzuschicken, weil von diesem vielleicht auf die Krankheit selbst könnte geschlossen werden. Der Knabe ist von kleinem Wuchs und sehr dicke, zum Nachdenken und zum Mitleid sehr geneigt. Er entwirft oft Plane auf sein zukünftiges Leben, die von Einsicht zeugen und einem Jüngling Ehre machen würden. Bei Unglücksfällen der Seinigen so wie bei fremder Noth wird er ausserordentlich gerührt und scheint heimlich auf Mittel zu denken, womit er solcher abhelfen könne. Daher ist er auch überaus bestrebsam und verräth bei keiner Arbeit die ihm nutzbar dünkt, einige Ermüdung. Oft hat er sich schon über Vermögen angestrengt und vielleicht haben die bisherigen Strapazen nicht wenig Einfluß auf die jetzige Zerrüttung seiner Gesundheit gehabt. So hat er z.B. einen [101]Weg von 3 Meilen zurückgelegt, 12 Schornsteine für seinen Vater gefegt und gleich darauf ist er eben diesen Weg nach Haus gegangen.

Einige Tage vor Ostern dieses Jahres, da dieser Knabe mit seiner Mutter allein ist, kommt eine Nachbarin und erzählt der Mutter, wie eine dritte Frau in der Nachbarschaft Gott gelästert habe. Sie wiederholt nicht nur die abscheulichen Reden selbst, sondern bespricht sich auch mit der Mutter des Knabens über die schrecklichen Strafen, welche die Gotteslästerin einst in der Hölle werde auszustehen haben. Der Knabe hört ganz stille und nachdenkend zu. Des andern Tags früh erwacht er mit Weinen und Klagen und erzählt, daß ihn im Traume der Teufel verfolgt habe. Er selbst hält diesen Traum für bedeutungsvoll und die Mutter nimmt ihn zur Gelegenheit, sich mit dem Träumer über Religionswahrheiten, besonders über die Sünde und deren Strafen, zu unterhalten. Dieses Gespräch macht so großen Eindruck auf ihn, daß er die Mutter flehentlich bittet, sie möchte doch bei Gott für ihn bitten. Ja, sagt die Mutter, lieber Sohn, fremdes Gebet hilft nichts, du mußt selbst beten; darauf giebt sie ihm ein Gesangbuch und schlägt ihm ein Lied auf, dessen Anfang ich nicht behalten habe, dessen Inhalt aber auf die letzten Dinge ging. Der Knabe befindet sich zu matt zum Aufbleiben und setzt sich ins Bette, liest da das Lied, wird sprachlos und verlangt durch Zeichen Pa-[102]pier, Dinte und Feder. Als ihm dieses gereicht wird, schreibt er auf ein Zeddelchen:

»Christus ist für mich gestorben und mein Erlöser worden.«

Darauf legt er sich nieder, wird immer kränker und matter und verlangt nur bisweilen durch Zeichen etwas zu essen. Doch kann er nur wenig und nichts als Suppen zu sich nehmen, denn die Kinnladen waren zusammengeschlossen.*) 1 Nach einigen Tagen kann er auf dem einen Auge nicht mehr sehen und den folgenden ist er ganz blind. So liegt er einige Tage, nimmt wenig zu sich und wird so schwach, daß jedermann, auch sogar die Aerzte an seinem Aufkommen zweifelten. Mit einemmal aber erholt er sich durch den sich wiederfindenden Stuhlgang, der einige Tage ausgeblieben war. Er fängt an mit dem einen Auge zu sehen und nach einigen Tagen erhält er wieder den vollkommenen Gebrauch seines Gesichts. Er nimmt mehr Speisen zu sich, die er mit den Fingern an den Zähnen zerreibt. Die verlohrnen Kräfte sammeln sich wieder und nach und nach wird er wieder so stark, daß er mit seiner Mutter 7 Stunden weit hieher gehen kann. Hier habe ich ihn selbst gesehen, da er noch stumm war, und seine Gedanken durch Händezeichen mittheilte auch ziemlich unwillig ward, wenn man ihn nicht [103]verstehen konnte. Seine Mutter, die gar keine Ursach hat, die Geschichte anders zu erzählen, hat mir sie so mitgetheilt, wie ich sie hier vortrage. Von seiner weitern Genesung und der Wiedererlangung der Sprache hat mir seine Mutter folgendes erzählt.

Als er von dieser Reise 7 Stunden nach Hause kam und er immer die Aerzte sowohl als andere Leute sagen hörte, daß er würde sprechen können, sobald seine Zähne von einander gehen würden, gab er sich in der Stille alle ersinnliche Mühe, es so weit zu bringen. Einst geht er in Garten und hebt mit einem Hölzchen die Zähne von einander, so daß dieses dazwischen stecken bleibt. Voll Freuden läuft er zu seiner Mutter und zeigt ihr mit frohen Geberden den glücklichen Erfolg seines Versuchs, diese nimmt sogleich die consulirten Aerzte zu Hülfe, welche die kleine Oefnung mehr erweitern; so daß er den dritten Tag vollkommen sprechen kann. Seit der Zeit habe ich ihn einigemal gesehen und gesprochen, und man merkt keine Veränderung, nichts von seiner Krankheit übergebliebenes an ihm. Von dem Traum bis zu Ende der Sprachlosigkeit mögen ohngefähr 5 Wochen vergangen seyn.

Fußnoten:

1: *) Ein Arzt, mit dem ich mich hierüber besprach, nennte mir diese Krankheit, und sagte, daß es eben das sey, was man bei den Pferden Maulsperre zu nennen pflege.

[104]

II.

<Liebeskrankheit.>

Anonym

Ich war ein Jüngling von ** Jahren. In meinem **ten verliebte ich mich in ein reizendes, tugendhaftes und äusserst verständiges Frauenzimmer. Nur sechs Monate sah ich sie, dann ward sie wieder 50 Stunden von mir entfernt und ich bekam aus Betrübniß ein hitziges Gallenfieber. Nach meiner Genesung blieb meine Liebe, sie wurde sogar täglich stärker. Noch ein halbes Jahr war ich an dem Orte und dann zog ich auf die Akademie. Auch hier blieb mein Mädchen in meinem Herzen ein ganzes Jahr und etwas drüber. Ohnerachtet ich von Natur sehr stark zur Wollust geneigt war und jeder volle Busen mich in Wallung brachte, so ließ ich mich doch nie hinreissen, aus Liebe zu meinem Mädchen. Einmal hatte ich sie fast auf etliche Stunden vergessen, da ich mit einem Frauenzimmer Abends allein in einer Laube war. Unsre Vertraulichkeit war stark gestiegen und eben sollte sie den höchsten Grad erreichen, als das Mädchen, das ich im Arme hatte und die um meine Liebschaft wuste, ausrief, nun gute Nacht Louise! Das alberne Ding! unpolitischer hätte sie nicht verfahren können, denn ich kam in den größten Affekt, stieß sie zurück, und entfernte mich eilends. Ich war äusserst aufgebracht über mich selbst, und hätte fast den größten Narrenstreich, den ein Mensch begehen kann, begangen. — Meine Liebe wurde jetzt nur stärker. [105]Zwar war ich in Gesellschaft und zu Hause meist munter und lustig, aber doch hatte ich auch oft Stunden, wo ich vor Sehnsucht nach meinem Mädchen fast verging. Den 18ten März eben dieses Jahrs fiel eigentlich die Begebenheit, die ich für merkwürdig halte, vor. Ich war ausgelassen lustig — so daß sich auch meine Freunde, die mich nie so gesehen hatten, äußerst verwunderten. Um 5 Uhr Abends war mirs, als zupfte mich was, ich sah herum; in der Stube war nichts, aber in meiner Seele stund mein Mädchen vor mir, halb nackt, lachte und schabte mir, wie man zu sagen pflegt, ein Rübchen. Nun weiß ich fast gar nicht, was eine halbe Stunde lang um mich vorging! Hernach fiel ich in die tieffste Traurigkeit — alles war mir verhaßt — auf einmal wurde mirs leicht, und ich konnte weinen, wuste aber nicht warum. — Drauf kam wieder ein Schauer — und der Gedanke — sie ist gefallen! — Ich setzte mich hin und schrieb —

Den 18ten März!

Ahndung — schauerliche fürchterliche Ahndung! heute nach fünf Uhr ist Louise gestorben — tod für mich! — bald kommt die Todtenpost —

Hierauf ward ich ruhig. — Am andern Tag kam meine vorige Heiterkeit wieder — ich las den Zettel und lachte darüber. Aber — das Mädchen [106]war aus meiner Seele — ich konnte, ich mochte nicht an sie denken!

Ich bekomm einen Brief von einem Freunde! Siehe da, meine Ahndung ist eingetroffen. Und grade als wenn mein Freund gewust hätte, daß ich so eine Ahndung hatte. Er detaillirte alles. Tag und sogar Nachmittags —— jetzt ist das Mädchen ganz aus meiner

Seele. — Ich, der ich sie so zärtlich, ich möchte sagen 1 1/2 Jahr ganz rasend liebte, trauerte gar nicht, ärgerte mich gar nicht? — Gern wolt' ich Ihnen den Ort meines Aufenthalts und meinen Namen beisetzen aber —

III.

<Anekdote über Pfeffel.>

Anonym

Der blinde Pfeffel und sein Bruder gingen mit einem Freunde, der ein rechtschaffner und augeklärter Geistlicher ist, auf einem mit Bäumen besetzten Platze öfters spazieren. Sie bemerkten, daß der Geistliche, wenn sie auch noch so stark im Gespräche waren, immer nur bis auf einen gewissen Fleck ging und dann wieder umkehrte. Sie gingen weiter, er nie. Auch sah er in der Ferne oft schon nach dem Orte hin, wo er umzukehren pflegte. Dies schien den beiden Brüdern sonderbar, und sie befragten ihn um die Ursach. Er weigerte sich lange herauszurücken, aber eben dies Weigern und die Einwendung, sie würden ihn auslachen, reizte [107]nur mehr zum Aufschluß — sie drangen stärker in ihn, und endlich sagte er: Auf dem Flecke, wo er umkehrte, stände eine weiße lange hagere Menschenfigur, die ihn verhinderte, weiter zu gehen. Die Brüder schwiegen, den andern Tag aber, als sie wieder hier mit ihm spazierten, nahm ihn unvermerkt jeder beim Arme, und als sie an die benannte Stelle kamen, rissen sie ihn nach ihrer Verabredung mitten durch. Er war in der stärksten Erschütterung, und wurde fast böse auf die Pfeffels. Die Figur stand nach seiner Aussage an der vorigen Stelle. Nun merkten die Brüder den Ort. Sie gruben Abends nach, und fanden etliche Fuß tief im Boden ein Todtengeripp. Sie scharrten das Loch wieder zu, thaten das Gerippe in einen Sack, und befahlen einem Tagelöhner, es aufs Feld zu vergraben. Der Kerl ging mit fort, als er aber über einen Bach mußte, kam ihm eine Furcht an, und er schmiß den Sack ins Wasser. Dies hat Pfeffeln sehr leid gethan. Als der Pfarrer wieder mit ihm spazieren ging, und an die Stelle kam, wunderte er sich sehr, denn — die Gestalt war nicht mehr da. — Diese Geschichte kommt aus Pfeffels eignem Munde.

[108]

IV.

<Anekdote über Prof. Reusch.>

Anonym

Indem ich im zweyten Stück des zweyten Bandes der Erfahrungs-Seelenkunde die Erzählung des Hrn. Prof. Wenert las, erwachte in mir die Erinnerung einer ganz ähnlichen Begebenheit, die sich mit dem verstorbenen Prof. Reusch zu Jena zugetragen haben soll, dessen Schriften untrügliche Beweise eines tiefen Nachdenkens und einer scharfsichtigen Beurtheilung haben, ob er gleich auch manche Meinungen hat, denen wohl nicht jeder Beyfall geben wird.

Ein würdiger Prediger, Namens Hellering,*) 1 zu Geschwalde in der Ukermark, dessen Herz und Verstand gleiche Achtung verdienten, und ihn allen denen, die ihn kannten, ehrwürdig machte, erzählte an einem schönen Winterabende noch mancherley Bemerkungen über die Kräfte der menschlichen Seele. Er habe zu Jena studiert, und vorzüglich den Vorlesungen des Prof. Reusch beygewohnt, mit diesem würdigen Mann habe sich folgendes zugetragen. Nach der Reihe philosophischer Materien wolte Reusch die Gründe für die Unsterblichkeit der Seele vortragen, hatte aber so unvermeidliche Hindernisse, die ihn von der gehörigen Vorbereitung zu diesem wichtigen Vortrag abhielten, [109]so daß er die Vorlesung bis auf den künftigen Tag verschob. Gegen Abend sucht er nun mit allem angestrengten Nachdenken seinen Gegenstand zu prüfen und hängt mit ganzer Seele über der Würdigung der Gründe, kann aber zu keiner Berichtigung mit sich selbst kommen, verschiebt daher den schriftlichen Aufsatz bis auf den künftigen Morgen, zu welchem Ende er früher als sonst aufgeweckt zu werden verlangt. In der Mitternacht steht Reusch auf, geht zum Schreibepulte, nimmt Papier, Feder, Tinte, schreibt seinen Aufsatz über die Unsterblichkeit der Seele, und legt sich wieder zu Bette.

Den folgenden Morgen weckt man ihn aus einem tiefen Schlafe, er eilt an seine vorhabende Arbeit zu gehn. Indem er Papier nehmen will, sieht er einen Aufsatz von seiner eigenen Hand, und die völlige Ausführung seines Vorhabens zu seiner größten Zufriedenheit. Voll Erstaunen weiß er sich nicht zu fassen, und niemand kann ihm über die Ereigniß der Sache selbst einen Aufschluß geben. Daß es seine Arbeit war, konnte er nicht leugnen, wie, und wann er es aber geschrieben, davon wuste er sich auch nicht das mindeste zu erinnern. So hat es selbst der verstorbene Reusch oftmals erzählt.

Fußnoten:

1: *) Er ist der Verfasser einer Flora Borußica, die auch unter seinem Namen gedruckt worden zu Königsberg.

[110]

Sprache in psychologischer Rücksicht.

<Sprachpsychologie.>

Moritz, Karl Philipp

Treffende Gemählde von den mannichfaltigen Tönen in der Natur zu liefern, scheint zwar das Ziel zu seyn, wohin sich die einfachen Laute zu ganzen Wörtern in der Sprache vereinigten.

Allein wie wenige hörbare Gegenstände werden verhältnismäßig durch die Wörter bezeichnet? Und nach was für einen Gesetz sollen sich also die einfachen Laute z.B. in den Wörtern Keller, Küche, Kasten, Licht, Luft u.s.w. zu diesen Worten vereinigen, da alle diese Gegenstände mit keinem Schalle in der Natur können verglichen werden? — Sie können freilich mit keinem Schall verglichen werden, den wir bloß hören.

Allein zwischen dem Schalle, den wir selber hervorbringen, und zwischen den sichtbaren Gegenständen läßt sich ehr eine Aehnlichkeit gedenken. Wir empfinden nemlich in unserm Munde die jedesmalige Gestalt der Sprachwerkzeuge, wodurch wir irgend einen Schall hervorbringen. Doch diese Empfindung, welche vielleicht im Anfange nur äusserst dunkel seyn mochte, veranlaßte den Menschen, die Gestalt eines sichtbaren Gegenstandes in seine Sprachwerkzeuge überzutragen, und sie mit dem Ton zu benennen, den dieselben in dieser Lage hervorbrachten.

[111]

Die innre dunkle Empfindung von der jedesmaligen Gestalt, und von der leichtern oder schwerern, geschwindern oder langsamern Bewegung der Sprachwerkzeuge ist es also, welche das geheime Band zwischen dem Sichtbaren und Hörbaren geknüpft hat. Daher kömmt es auch, daß wir der ganzen Schöpfung um uns nur durch den Stempel der Sprache, ein unverkennbares Bild von uns selber aufgedrückt haben; daher ist das K, z.B. womit die Zunge die tiefste Wölbung des Gaumens bezeichnet, ein Ausdruck des Tiefen und Ausgehöhlten.

Läßt es sich also beweisen, daß z.B. in unsrer deutschen Sprache, nicht sowohl wie wir dieselbe zur Zeit reden, und wie sie durch ihre Verfeinerung sich immer weiter von ihrem ersten natürlichen Ursprung entfernt hat, sondern in den Ueberbleibseln aus dem Alterthum, und den hin und her zerstreuten Mundarten, die noch am wenigsten von der Verfeinerung gelitten haben, das Hohle und Tiefe beständig durch einen Gaumenlaut bezeichnet wird, und läßt sich die Aehnlichkeit mehrerer sichtbarer Gegenstände mit der Gestalt der Sprachwerkzeuge, vermöge derer sie benannt werden, würklich entdecken, so ist es offenbar, daß sich nach den Hauptgesetze, die Sprachwerkzeuge den äußern Gegenständen ähnlich zu bilden, die einzelnen Laute zu ganzen Wörtern vereinigen. Und so wie bei den Wörtern, die aus mehrern Sylben bestehen, eine Sylbe die herrschende ist, welcher die übrigen untergeordnet sind, so ist auch bei diesen sowohl als [112]bei den einsylbigen Wörtern, ein einfacher Laut der herrschende, welchem sich die übrigen nach ihrem Range, und nach ihrer Nebenbedeutung unterordnen müssen.

Der herrschende einfache Laut ist also in jedem Worte nur ein einziger, allein durch die Laute, welche sich entweder von selber an ihn anschmiegen, als das b in blöcken, oder welche durch einen Vokal an ihn geknüpft werden, als das ch in lachen, wird dieser herrschende Laut auf mannichfaltige Weise modificirt, und verändert mit seiner Bekleidung auch seine zufällige Bedeutung, obgleich seine wesentliche Bedeutung beständig zum Grunde liegt, und unerschütterlich ist.

Das l z.B. zeigt einen jeden Laut überhaupt an, weil es sich in der Zunge als dem Sprachwerkzeuge bildet, wodurch wir unsere Laute hervorbringen, und in deren Ermangelung uns diese Hervorbringung irgend eines Lauts unmöglich seyn würde. Sobald aber ein Laut von Menschen oder Thieren hervorgebracht wird, so fügt sich dem herrschenden Laut l von vorne ein b oder p hinan, als in den Wörtern, plappern, plaudern, blarren, plerren, von Thieren: blaffen, blöcken, bellen, brüllen, u.s.w. Wird hingegen ein Laut vermittelst lebloser unorganischer Körper hervorgebracht, so wird der herrschende Laut l gemeiniglich durch den hinangesetzten Gaumenlaut näher bestimmt, als in [113]den Wörtern, klappern, klimpern, klopfen, klingen, Glocke, u.s.w. Wird der Laut in den Mund zurückgezogen, so wird dem l vermittelst eines Vokals von vorne ein Gaumenlaut zugefügt, wie dem Worte lachen, wo das l den Laut überhaupt, und das ch die besondere Bildung dieses Lauts im Munde oder in der Gurgel bezeichnet.

Merkwürdig ist es immer, daß die Sprachwerkzeuge größtentheils mit dem Laute bezeichnet werden, welchen sie vorzüglich hervorbringen, als die Nase, der Mund, der Gaumen, die Lippen, die Zunge, welche in der lateinischen Sprache mit noch mehr Ausdruck Lingua heißt, die Zähne, u.s.w. Fast in allen Sprachen wird das Ohr, ohngeachtet der Veränderung der übrigen Buchstaben und des Vokals mit r bezeichnet, und was war natürlicher, als dasselbe vermittelst des Buchstaben, welcher das stärkste Geräusch anzeigt, zu beschreiben.

Vom l wollen wir noch bemerken, daß es vorzüglich das schnelle und flüchtige sowohl ausser uns in der Natur, als den schnellen und flüchtigen Uebergang der Zunge zur Bezeichnung des An- oder Unangenehmen in unsrer Seele anzeigt. Was in der Natur ist schneller und flüchtiger, als der Schall, diese schnell sich verlierende Bewegung der Luft? Was ist schneller und flüchtiger, als das fließende Wasser, die schwellende Fluth, der fliegende Pfeil, das blendende Licht, und der zu-[114]ckende Blitz? Was ist leichter und daher auch zu jeder schnellen und flüchtigen Bewegung geschickter, als das zitternde Blatt am Baume. Die leichtherniederfallende Flocke, und die weiche gekräuselte Wolle.

Was ist in unsrer eignen Seele, das die Zunge leichter zum Ausdruck hinüber lockt, als die angenehmen Empfindungen des Glücks, der Liebe, des Lobens, des Gefallens und des Billigens? Welches Gefühl in unserm Körper ist lockender zum leichten und schnellen Ausdruck, als das Gefühl des Lebens, des Leibes, und der Glieder?

So wie aber die Zunge beim Gefühl des Angenehmen sich schnell und leicht im Munde bewegt, eben so unwillkürlich bewegt sie sich auch obgleich langsamer und schwerer beim Gefühl des Unangenehmen, wie ein jeder aus der Erfahrung wissen kann, wenn er sich an die Bewegung der Zunge bei der Vorstellung von einer übelschmeckenden Arznei erinnert. Daher kömmt es auch, daß gerade das Gegentheil vom Angenehmen, ebenfalls durch den sonst so schnell und flüchtig nur zum Angenehmen übergehenden Buchstaben l ausgedrückt wird. Daher bezeichnet das l auch die Unmuth und Leiden erweckende Leerheit, es bezeichnet die das Leere hervorbringende Kleinheit, das durch die Leere und Kleinheit hervorgebrachte Leiden und das dem Anschein nach traurige dem Tode ähnliche Liegen und Schlafen.

[115]

So wie der Gaumenlaut k mehr die Gestalten der Dinge zu umfassen scheint, so scheint der Zungenlaut l vermittelst seiner untergeordneten Laute die verschiednen Bewegungen der Dinge außer uns, und der Empfindungen in uns nachzubilden. Ist es also wohl eine thörichte Mühe, die Wörter in ihre einzelnen Bestandtheile aufzulösen, und den herrschenden Hauptlaut in denselben zu suchen? Kann uns dieß nicht große Aufschlüsse über die erste Entstehung der menschlichen Begriffe geben, die damals freilich nicht so fein, aber vielleicht wahrer gewesen sind, als sie es jetzt bei ihrer höchsten Verfeinerung noch seyn können?

[116]

Auszug aus einem Sendschreiben des Herrn Präpositus Picht in Gingst an den Herausgeber. a

Picht, Johann Gottlieb

Gingst, den 26. April, 1785.

Dank sey Ihnen, daß Sie es wagten, ein eignes Magazin für Kranke anzulegen, aus welchem diejenigen, denen das Erforschen ihres Ichs eine angelegentliche und ernsthafte Sache ist, Rath und Trost sich herhohlen können, wenn sie bey dem schweren Geschäfte der Selbstprüfung auf solche gefährliche Pfade gerathen, wo ohne Leitung ihr Untergang mehr als wahrscheinlich seyn würde. So habe ich Ihr Magazin in einer sehr schweren Krankheit angesehen; und in wie ferne ich es für meinen Zustand genutzet habe, werden Sie am besten daraus abnehmen können, wenn ich Ihnen meinen aufrichtigsten und wärmsten Dank für meine daraus gehohlte Nahrung zolle, und Ihnen versichere, daß es Aufrichtigkeit ist, mit der ich es thue.

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[117]

Und nun, Freund, lassen Sie uns untersuchen! — So lange wir denjenigen Zustand des Menschen, in welchem er wahnwitzig genannt wird, noch nicht deutlich und vollständig erkennen, müssen wir uns mit Hypothesen, und um die Sache doch etwas begreiflich zu machen, allenfalls mit Gleichnissen behelfen. Haben Sie nicht je einmal gesehen, wenn eine Uhr so schadhaft wird, daß die zurück- und in Ordnung haltende Kraft der Last der Gewichte oder der Spannkraft der Feder nicht mehr Widerstand thun kann, wie denn die Maschine schnell und mit einem regellosen Gerassel abläuft — Aber es ist denn doch das Räderwerk einer Uhr, was mit ungestümer Heftigkeit abgerollt wird. Nehmen Sie hingegen an, der Sturmwind faßt plötzlich die Segel einer Mühle, und zerstöret durch übermäßige Kraft das ganze Werk; so müsten Sie doch hier die zerstörende Ursache ganz anders finden und auch leicht genug aus ihren Wirkungen erkennen können.

Wenn nun der Mensch in den Zustand geräth, den wir Wahnwitz nennen; so ist sein Gehirn ohnstreitig einer Maschine gleich, in welcher ähnliche Ursachen, wie in den vorigen Gleichnissen, auch ähnliche Wirkungen hervorbringen, wo denn auch insonderheit die zurückhaltende, ordnende und regierende Kraft, welche die Vibrationen des Gehirns unter ihrer völligen Gewalt haben, und der Einbildungskraft in ihrem Lauf Grenzen setzen, und über-[118]dachte Gesetze geben sollte, wo der die Zeit dazu abgeschnitten ist, wo die außer Stand gesetzet ist, die ihr untergebenen Fibern, Nerven, Blutgefäße und dgl. jede zu dem Dienste anzuhalten, dessen regelmäßige Verrichtungen den Zustand unserer Gesundheit ausmachen.

Lassen Sie also Wahnwitzige sprechen, so wird in diesem Zustande der Unordnung jeder nur die Sprache reden, die er gelernt hat, — jeder wird Gedanken auskramen, die er an seinem Theil sonst jemals gedacht — vielleicht nur einmal — aber gleich verworfen hat.

Der wahnwitzige Franzose wird nicht deutsch sprechen, und der wahnwitzige Deutsche, der beständig gewohnt ist, hochdeutsch zu reden, wird sich nicht in der platten Mundart ausdrücken — Wenn dies, wie Sie mir zugeben werden, richtig ist, so folgt auch, ein Deutscher, der sonst gewohnt ist, reines gutes Deutsch zu sprechen, wird darum so fieberhafte Reden nicht in der niedrigen Sprache des schlechtesten Theils der Menschen hören lassen, weil er etwa in dem Zustande des Wahnwitzes ist, sondern er bringet als Maschine zu der Zeit die ihm sonst geläufigen Töne und Ausdrücke hervor.

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Mit dem lebhaftesten und deutlichsten Bewußtseyn, weiß ich mich noch zu erinnern, wie ich am [119]5. März 1784. von der Kanzel in der Kirche zu Gingst eine Schrift von Wort zu Wort ablas, in welcher unter andern sonderbaren Dingen auch etliche Beleidigungen gegen den Herrn General-Superintendenten Doctor Quistorp befindlich waren. Damit nun Niemand etwas anders irgendwo vorbringen möchte, rief ich sogleich nach Vorlesung derselben den Küster Westgard zu mir nach der Kanzel zu kommen, diese meine eigenhändige Schrift von mir entgegen zu nehmen, und sie unverzüglich nach Stralsund an die hohe Landes-Obrigkeit zu überbringen. Allein Westgard verließ seine Bank nicht. Hierauf forderte ich einen andern Einwohner in Gingst, den Herrn Cornet Sesemann, auf, die Schrift zu nehmen, und sie an die Behörde einzuschicken: allein auch dieser regte sich nicht. Ich legte darauf mein Manuscript in die Bibel, schloß mit dem gewöhnlichen Kirchengebete — und wankte in einem so kranken, schwachen und elenden Gesundheitszustande nach dem Pfarrhause, daß ich im eigentlichen Verstande einer Leiche ähnlicher als einem Menschen war. Doch wer sich nur der Leitung irgend eines guten Dämons erfreuen darf, der ist nie ganz verlassen, wenn er auch den Giftbecher trinken muß.

Schon auf der Kanzel warnte mein guter Dämon mich. Ich sagte es daher öffentlich, da die beiden Männer sich weigerten, das ihnen angebo-[120]tene Manuscript anzunehmen, und sonsten Niemand, so weit ich absehen konnte, in der Kirche zugegen war, dem es hätte anvertrauet werden können, ich würde nach geendigtem Gottesdienste sogleich nach Gurtitz reisen, und es dem Herrn von Platen übergeben.

Da ahndete mich nun das Unglück, das hieraus entstehen konnte, wenn meine Predigt verfälscht, mit Bosheit verdrehet, und so kund gemacht würde. Um diesem zuvor zu kommen, hatte ich nicht eher Ruhe, als bis ich meine eigene Handschrift in die Hände eines rechtschaffenen Mannes abgeliefert hatte, so äußerst schwach auch mein Gesundheitszustand war. Ich fuhr nach Gurtitz zu einem meiner nächsten adelichen Herren Eingepfarrten, erzählte ihm, was ich gethan hatte, mit der flehentlichen Bitte, diese Schrift mit seinem Pettschaft zu versiegeln, fiel seinem Herrn Sohn, der eben in die Stube trat, um den Hals, und ersuchte ihn um den größten Freundschaftsdienst, der mir unter diesen Umständen erzeigt werden konnte, diesen mit seines Herrn Vaters Pettschaft versiegelten Brief eiligst nach Stralsund an den Lehn-Secretair bey unserer hohen Landes- Regierung, den Herrn Tetzloff zu überbringen. Nie werde ich die herzliche Freundschaft und Bereitwilligkeit vergessen, mit welcher diese Herren sich meines in der That jammervollen Zustandes an-[121]nahmen — Es ist rührend, bis in die Tiefen der Seele rührend, einen alten selbst kranken Mann über sich weinen und seinen edlen Sohn auf Leben und Tod reiten zu sehen, um mich so bald als möglich aus der Bangigkeit, die mich ängstigte, zu retten! Nun ward ich ruhiger — und froh ward ich, als nach wenigen Stunden der junge Herr zurückkam, und mir (denn ich blieb so lange zu Gurtitz) die Nachricht brachte, daß der Brief richtig abgeliefert wäre. b

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Johann Gottlieb Picht.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag s. Goldmann 2015, S. 149-157.

b: Vgl. Goldmann 2015, S. 156.

[122]

Auszug aus einem Briefe von dem Verfasser der Geschichte meiner Verirrungen.

Probst, Johann Gotthilf

Halle, den 17ten Sept. 1785.

Schon aus meiner Geschichte werden Sie beurtheilen, in welchem Grade ich fähig sey, den Menschen zu beobachten. Mir fehlt es noch an manchen philosophischen Kenntnissen; ich möchte mich daher mannigmahl zu weit in das eigentliche gelehrte Studium der Seelenlehre verirren, wozu ich doch in mancherley Rücksicht mich zu schwach fühle.

Ich habe mir indessen eine Bahn gewählt, von welcher ich wünschte, daß sie Ihren Beyfall haben möchte. Ich habe angefangen, mich auf die äußern Kennzeichen der Menschenkenntniß zu legen. Daß es deren giebt, werden Sie um so weniger in Zweifel ziehen, da die mehresten Dinge in der Natur (und vielleicht alle) das Zeichen ihres Innern an sich tragen — Sollte der Mensch allein davon ausgeschlossen seyn, der auf der obersten Stuffe der kör-[123]perlichen Dinge steht? Sollte es nicht möglich seyn, die Hauptzüge in den Charakter der Menschen nach dem Temperamente zu bestimmen? Sollte sich nicht jedes prädominirende Temperament durch gewisse Handlungen verrathen, und sollte dasselbe nicht auch äußere Kennzeichen haben? Sollte die Lehre von dem Einfluß der Temperamente in die Handlungen der Menschen so unwichtig seyn, daß daraus nicht auch so ziemlich richtig der Antheil oder die moralische Zurechnung bestimmt werden könnte, die der Mensch an einer Handlung hat? Würde dann nicht Billigkeit und mehrere Untrüglichkeit in unserm Urtheil eine der ersten und wohlthätigsten Folgen der Temperamentskunde seyn?

Und, sollte man auf diesem Wege die Menschen nicht eben sowohl klaßificiren können, wie man die übrigen Produkte in den drei Reichen der Natur klaßificirt hat? Würde man so weit in der Kenntniß der Natur seyn, wenn man nicht jedes Ding nach gewissen Maaßstäben zu messen, und dasselbe auf seine eigentliche Stelle hinzusetzen gewußt hätte? Ich bin nicht belesen genug, um zu sagen, ob ich der erste sey, der auf diese Hypothese gefallen ist. Ich finde viel Wahrheit in ihr, und deswegen wünsche ich um so eifriger, auch Ihre Gedanken darüber zu lesen.

[<124>]

Inhalt.

Seite
Zur Seelenkrankheitskunde.
1. Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit. 1.
2. Sonderbare Gemüthsbeschaffenheit eines alten Mannes, der sich einbildet, daß er geschlachtet werden solle. 14.
3. Ahndendes Vorgefühl der Krankheit. 20.
Zur Seelenheilkunde.
1. Heilung des Wahnwitzes durch Erweckung neuer Ideen, in zwei Beispielen. 27.
2. Einfluß äußerer Umstände auf die Krankheit der Seele. 33.
3. Parallel zu der Selbstbeobachtung des Hrn. O. C. R. Spalding im 2ten Stück des ersten Bandes. 36.
[<125>]

Inhalt.

Seite
Zur Seelennaturkunde.
1. Moralität eines Taubstummen. 39.
2. Erinnerungen, aus den ersten Jahren der Kindheit. 42.
3. Beyspiel eines sehr empfindsamen Nervensystems. 46.
4. Nachtrag zur Seelenkrankheitsgeschichte Johann Christoph Beckers. 47.
5. Von der Beschaffenheit einiger unsrer Gesichtsbegriffe. 48.
6. Ueber meinen unwillkürlichen Mordentschluß. 61.
7. Ueber die Neigung der Menschen zum Wunderbaren. 81.
Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.
1. Umriß der Krankheitsgeschichte eines zwölfjährigen Knaben. 100.
2. 104.
3. 106.
4. 108.
Sprache in psychologischer Rücksicht. 110.
[<126>]

Inhalt.

Auszug aus einem Sendschreiben des Hrn. Präpositus Picht in Gingst an den Herausgeber. 116.
Auszug aus einem Briefe von dem Verfasser der Geschichte meiner Verirrungen. 122.
[<127>]

<Verlagsankündigungen.>

Neue Verlagsbücher.

Leipz. Michaelis-Messe 1785.

Bahrdt, D. E. F. Ausführung des Plans und Zwecks Jesu, in Briefen an Wahrheit suchende Leser, 7tes und 8tes Bändchen, 8. 1 Rthlr.

— — über das theologische Studium auf Universitäten, an Sr. Excellenz den Königl. Staatsminister Freyherrn von Zedlitz. 8.

Moritz, C. P. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 3ten B. 3tes St. gr. 8. 10 Gr. wird fortgesetzt.