ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: III, Stück: 1 (1785)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz,
Professor am Berlinischen Gymnasium.

Dritten Bandes erstes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1785.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Dritten Bandes erstes Stück.

Zur Seelenkrankheitskunde

I.

Eine wahnwitzige Passionspredigt. a

Picht, Johann Gottlieb

Gehalten vom Herrn Präpositus Picht zu Gingst
in Schwedisch-Pommern, Freitags den 5ten März 1784.)

Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes, sei mit uns in dieser Stunde. Amen.

Textus. Maleachi, Cap.2, v.7. (Ohne das Vater Unser zu beten, und ohne Eintheilung der Predigt.)

[2]

Der Prophet Maleachi spricht im 2ten Capitel seiner Weissagung, im 7ten Vers, also: des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth. Allein wie kann der Priester die Lehre bewahren, wenn sie zu ihm kommen und lassen sich Jungfer kündigen und sind Huren? Wie kann denn der Priester die Lehre bewahren, da das Pöbel kömmt und lügt ihm vor, sie sagen, sie sind Jungfern, und sind Huren? Muß denn der Priester nicht zum Lügner werden? Aber ich will noch die Huren und diebischen Weiber aus Gingst herausfegen. Ich darf ja nur an Sr. Durchlaucht schreiben, sonst muß ich ja Lügen an dieser Stätte predigen, und nicht die Wahrheit. Sie meynen, wenn sie nur dort in den verfluchten Beichtstuhl mit ihrem verdammten Groschen kommen, und mir die Beichte vorplappern; dann meynen sie, soll ich ihnen die Sünden vergeben, aber sie kommen mir nur, ich will sie ganz auf eine andere Art kriegen!

Eben so macht es hier der Pöbel in Gingst, da hier nun die Pocken grassiren, so kommen sie nicht zu mir und fragen, was ihren Kindern, die die Pocken haben, gut und nützlich ist; da läßt das Pöbel nur den Schaafmist von mir holen, und den Schaafkoth geben sie ihren Kindern zu fressen. Das soll den Kindern für die Pocken gut seyn; wenn der Gingster Pöbel noch zu mir, oder zu sol-[3]chen Leuten kämen, die es wüßten, was den Kindern bey der Pockenkrankheit gut und nützlich wäre? Es kommt auch keiner, so sich erkundiget, wie ich es mache, daß mein Junge, mit den Pocken im Gesicht, sich auf dem Eise picken kann?

Die Gingster sollten mir nur den Schaafmist auf dem Acker lassen, denn ich kann ja den Schaafdung besser auf dem Acker brauchen, als daß der Pöbel seinen Kindern solchen zu fressen giebt, denn sie wissen es nicht, daß es den Kindern ein Gift ist. (Nun kriegte der Herr Präpositus einen Bogen Papier aus der Tasche, und las davon ab folgendes:)

Weil der Kerl da, in Greifswalde, der Mammonsknecht, sich um sein Amt und um die Schulen gar nicht bekümmert, so entsage ich mich hiermit gänzlich der Bothmäßigkeit des Superintendenten in Greifswalde, eines solchen Geitzhalses, und fordre diese ganze christliche Versammlung zu Zeugen auf, daß ich mit meiner ganzen Diöces unter dem Befehl des Kerls in Greifswalde nicht mehr stehn will. Denn es stehet geschrieben im 132sten Psalm: Deine Priester laß sich kleiden mit Gerechtigkeit — der seinen 15jährigen Sohn zum Edelmann machen läßt und kauft ihm grosse Edelgüther. Ich aber bin hier euer Präpositus, das heißt auf deutsch: ein Vorgesetzter, und ich will hier ein neues Leibregiment Christen anlegen, und dann will ich euer Obrister seyn, und der Durch-[4]lauchtigste Fürst in Stralsund, der edle Mann und Fürst Friedrich Wilhelm von Hessenstein soll Chef seyn; und ich will einen jungen schnellen Boten, noch heute, mit dieser schriftlichen Verordnung an Sr. Durchlaucht nach Stralsund senden, und der soll diesen Brief an den Durchlauchtigsten Fürsten übergeben, und diese Schrift selbst überreichen an Se. Durchl. den Fürsten v. Hessenstein, und das soll der junge Herr Carl von Platen seyn, der diese Schrift noch heute nach Stralsund an den Durchlauchtigsten Fürsten bringen soll.

Es schicket sich aber nicht allzugut, daß ein Prediger einem jungen Edelmann, der nicht seine männlichen Jahre erreicht hat, Befehl gebe; daher sollte der Hochwohlgebohrne Herr Oberforstmeister von Barneckow dem jungen Herrn Carl von Platen diese Sache auftragen, weil aber der Herr Oberforstmeister von Barneckow anjetzt nicht als Zeuge gegenwärtig ist, so soll es der Herr Cornett Sesemann thun.

Denn der König von Schweden, Gustavus der Zweite, b hätte mir ja keine Uhr gegeben, wenn ich nicht als Obrister eines Leibregiments dienen sollte, aber die Uhr ist das Handgeld, und ich will auch, so wahr mir Gott helfen soll! dem König Gustav dem Zweiten, bis auf den letzten Blutstropfen dienen; und denn sollte ich mir von solchem Kerl, als der in Greifswalde ist, befehlen lassen, von solchem Schurken, der seinen Sohn zum Edelmann [5]machen läßt, ich, da ich der Obriste des Leibregiments bin, worüber der Durchlauchtigste Fürst in Stralsund Chef ist, darum so der junge schnelle Bote nicht heute reiten will, so will ich selbst reiten. Ich weiß es schon, daß die Gingster mit mir processiren wollen, aber ich will dem hiesigen Pöbel weisen, daß ich ihr Präpositus und ihr Vorgesetzter bin; aber ich will nicht mit ihnen processiren, denn ich weiß wohl, daß sich hier schon Priester todt geärgert haben, und nun kommen sie mit ihren verdammten Lügen, und ich muß mich noch vor meinem fünfzigsten Jahr hier todt quälen.

Ich habe nun hier schon funfzehn Jahre die Passionsandachten, so viel mir meine Kräfte zugelassen haben, gehalten, allein die mehreste Zeit vor ein paar alten Weibern predigen müssen, und die leeren Bänke vor mir gesehen, und dabey meine Gesundheit, Leben, Muth und Blut zugesetzet. Wer hat also wohl die Schuld, wenn der Priester Lügen predigen muß?

Aber ich will nun wohl bessere Ordnung halten, und so wahr wie Gott im Himmel lebt! will ich mich der Sachen besser annehmen, die Gingster können mich nur verklagen; aber wo wollen sie mich verklagen? Bei Sr. Durchlaucht, oder bey dem König Gustav dem Zweiten? denn nach dem Königlichen Amtshauptmann können sie nur hingehen, der ist mein guter Freund, und ich will mich doch nicht in einen Proceß geben. (Nun wandte sich [6]der Herr Präpositus mit dem Bogen Papier in der Hand gegen den Küster Westgard, und fing nachfolgendes zu lesen an.)

Weil nun die Küster allenthalben so viel Branntwein saufen, und der hiesige Küster Carl Gustav Westgard, ein rechter aufrichtiger Lehrer und redlicher Mann, ein liebreicher Ehegatte gegen seine Frau, und ein rechtschaffener Vater gegen seine Kinder ist, so will ich ihn, den Küster Westgard hiermit bey dem neuen Leibregiment Christen, zum Obristwachtmeister, verordnen. Ist er gesonnen, das Amt, redlich und getreu als Obristwachtmeister, bei dem neuen Leibregiment, wobei der Fürst in Stralsund Chef ist, anzutreten? (worauf aber nicht geantwortet wurde.) Westgard hört er nicht? kennt er den Fürsten nicht? antwortet er mir nicht? kennet er ihn nicht? (allein es erfolgte gar keine Antwort.)

Ich Picht! bin hier Präpositus, und Obrister des Fürsten, bey seiner Leibcompagnie, und der gute Geist Gottes redet aus mir, denn des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth. Die Zunge des Priesters ist sein Schwerdt. Meine Zunge ist ein scharfes zweischneidiges Schwerdt, und durchdringet Seel und Geist. Amen.

Ich will doch noch Priester hier bleiben, und euer Präpositus, und das heißt auf deutsch: ein [7]Vorgesetzter, und will doch noch Beicht sitzen, und predigen will ich, wenn ich auch auf die Kanzel kriechen soll. Wenn die Kinder sollen eingesegnet werden, denn will ich sie examiniren, da sollen gar keine Einfältige und Unwissende hinzugelassen werden, sondern die nichts wissen, die will ich dort hinaustreiben, und die guten frommen Kinder, die will ich einseegnen, so wie ich den reichen, vornehmen Mann eingeseegnet habe, hier vor dem Altare.

Als wir mit der Leiche in der schönsten Pracht waren, und in bester Majestät daher zogen, die ehrlichen Bauern ritten mit schönster Anstalt beiher, und die hochadelichen Herren des Gefolges waren mit ihren besten Kleidern und Zierde angethan: aber wie wir hier in Gingst in die Kirche kamen, so mußte der Pöbel, hier im öffentlichen Gotteshause, solchen Spectakel und Rumor machen.

Was die vornehmen hochadelichen Herren davon wohl gedacht haben? Ich weiß, daß sie sich alle rechtschaffen geärgert haben, denn ich habe mich zum wenigsten damals aufs äusserste geärgert. Aber sie mögen sagen, was sie wollen, der reiche, vornehme Herr, der damals beerdiget ward, daß der seelig geworden ist, dafür stehe ich ein, denn ich habe ihn ja hier vor dem Altare zur seeligen Ewigkeit und zur freudigen Auferstehung von den Todten eingeseegnet; eine solche Ehre kann nur solchen frommen, reichen und vornehmen Leuten zukom-[8]men, denn das andere Pöbel wird nur so um die Kirche geschleppt, aber den reichen, vornehmen Mann, der damals beerdiget ward, habe ich hier vor dem Altare zur ewigen Seeligkeit eingeseegnet, und der Durchlauchtigste Fürst soll auch noch hier kommen und den Kirchhof besehen.

Auch soll noch am bevorstehenden Sonntage ein feyerliches Dankfest gehalten werden, wegen des seeligen Herrn Cammerherrn v. der Lanken, und Vormittags Gott gelobt und gedankt werden, und Nachmittags können die Leute in ihren Häusern mit ihren Familien tanzen und spielen mit ihren Hausgenossen und sich lustig machen.

Also ist auch eine Sache bekannt von dem Buche des Schuster Friedrich Henning, so er betitelt hat: Reiner Krystallstrom; c welches alle Gingster gelesen, und worinnen er die Priester aufs ärgste heruntermacht und schimpfet sie vor Schalksknechte, Bälge, Lügner und Mammonsknechte; allein sagt nicht der Prophet Maleachi: Die Lippen des Priesters sollen die Lehre bewahren, aber wie ist es möglich, daß die Priester die Lehre bewahren können, wenn sie auf solche Art behandelt werden.

Es ist euch doch noch wohl bekannt, wie ich vor vier Jahren an meinem Verstande verworren war, d und das Blut in mir damals so in Heftigkeit gerathen war, daß ich meine eigne Glieder nicht in meiner Macht hatte, und ich euch selbst bat, daß ihr mich binden mußtet.

[9]

Bat ich euch nicht, daß ihr mich solltet binden? Das kam damals von meinem bösen Gewissen her, und von den Unordnungen, die ich gemacht hatte, und von den Verwirrungen, worin ich mich zu der Zeit befand.

Ich weiß es auch wohl, daß ihr nun wieder hingeht, wenn ihr aus der Kirche kommt, und sagt: unser Priester ist nun wieder närrisch worden, das weiß ich alles recht sehr wohl, aber ihr mögt nur hingehen und sagen, was ihr wollt, ich weiß doch wohl, daß ich ein getreuer Obrister bin unter den acht Compagnien des Leibregiments unsers Fürsten und dabey will ich auch bleiben, so wahr Gott im Himmel lebt! und will dem König dienen als ein getreuer Deutscher und Schwede zusammen, und will mich davon nichts abbringen lassen, noch mich davon abwenden, so lange ich das Leben habe, etc.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag s. Goldmann 2015, S. 143-147, 152-156.

b: Eigtl. Gustav III.

c: Henning 1781/1782.

d: Vgl. Goldmann 2015, S. 155f.

II.

Beschluß des Aufsatzes: Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** in H***.

Probst, Johann Gotthilf

Unter der Hand bewarb ich mich nun wieder um Kollegien-Abschreiben. Dadurch bekam ich wieder Zutritt, und manches gute Buch geliehen. Jetzt las ich nicht mehr bloß Romane (am allerwenigsten [10]mehr empfindsame —) Ich las alte und neue Dichter, Lust- und Trauerspiele, besonders letztere am liebsten, so wie ich überhaupt mehr Gefühl fürs Ernste, Rührende als fürs Komische, Tändelnde habe. Ich suchte meine Sprache zu bilden, indem ich mir das Eigenthümliche eines Verfassers dadurch deutlich machte, daß ich ihn mit andern verglich; ihre Wortfügung, ihren Periodenbau bemerkte. Ich fing an, mir selbst kleine Aufsätze zu machen; mir ein gewisses Thema aufzugeben, worüber ich schon viel gelesen. Das brachte ich nun nach meiner Art zu Papier; nur schade! daß ich keinen Freund hatte, der meine Gedanken recensirt hätte. Ich machte mir Auszüge aus Büchern über Gegenstände der Religion, Philosophie, Naturgeschichte und Naturlehre. Besonders fand ich viel Vergnügen in Büchern, worinnen ich Bemerkungen übers menschliche Herz fand. In diesen habe ich viel und fleißig gelesen. Niemeiers Charakteristik der Bibel; a die Faramondsche Familiengeschichte; b Franz von Kronenburgs und Ernst Grato's Briefe zur Beförderung der Menschenkenntniß. c Wagenseils Beiträge zur Weisheit und Menschenkenntniß; d Tagebücher über sich selbst u.a.m. Auch über Erziehung habe ich viel gelesen, und sie wurde, da sie so genau mit der Menschenkenntniß verwandt ist, bald mein Lieblingsstudium. Auch fing ich einmal Bemerkungen über mich selbst aufzusetzen; allein die anhaltenden Unruhen meiner Seele mach-[11]ten mich zum Beobachten unfähig. — Zudem hatte ich nicht Selbstüberwindung genug; vielleicht fehlte es mir auch noch an Wahrheitsliebe — und so blieb es wieder liegen.

Aber diese neue Wendung meiner Fähigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Ich kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden können, als man gewöhnlich glaubt. Wie vieles hängt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufälligen Dingen ab, wofür er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen überhaupt die Unzulänglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine äußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. — Mich kränkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und über menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile überschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spätern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. — Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektüre dieser Art ähnliche Wirkung gehabt.

Gutes und böses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht läugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die-[12]ses gute und böse Herz aus; wer ließ solche Eräugnisse zu, daß der Mensch mit wenigerer Anlage des Herzens — nothwendig noch schlimmer werden mußte? Sehen Sie hier die Klippe, woran ich scheitere; die mich mit Zweifel gegen die allgemeine Güte Gottes erfüllt. »Sie gehören zum Ganzen« sagt der Philosoph. Gut! so sind sie nöthig und können also unmöglich ganz verworfen werden. — Aber auch dieß ist ja schon Unglück für sie, und scheint es nicht eine gewisse Partheilichkeit in der freien Willkühr Gottes anzukündigen? Wer befreiet mich von diesem Zweifel? Und selbst die Erfahrung scheint zu bestätigen, daß das gute, so wie das böse Herz angeboren wird; denn wird nicht das gute Herz auch bei seinen gröbsten Vergehungen einen Schimmer desselben blicken lassen? Wird es so tief sinken, daß es so wie das böse, einen wirklichen Wohlgefallen an seinen Lastern, eine gewisse Schadenfreude dabei empfinden wird? Menschen zu quälen; aus Lust sie zu quälen, dazu gehört der größte Grad von Bosheit, deren ein gutes Herz nicht fähig ist. Obiger Zweifel hat vielen Einfluß in mein künftiges Leben gehabt: denn ich habe mich nie zu demjenigen Vertrauen auf die göttliche Güte und ihre allgemeine Vorsorge erheben können, welches die Religion verlangt. Meine besondern Schicksaale, meine so vielfältig fehlgeschlagenen Hofnungen, und mein anhaltendes Elend haben auch viel dazu beigetragen.

[13]

Unter diesen Beschäftigungen vergingen wieder zwei Jahr. Ich sahe mich überall nach Hülfe um; nach einem zweckmäßigern Leben, denn ich wurde ja immer älter. Durch Zufall erhielt ich eine gedruckte Nachricht von einem neu errichteten Schulmeister-Seminario zu H***. Ich las es mit innigem Vergnügen: denn mein Herz wird bei jedem Schritt, welchen die Menschheit zu ihrer Vervollkommung thut, empfindlich gerührt. In mir entstand der Wunsch, darinnen aufgenommen zu werden. Ich schrieb an den Aufseher desselben, schilderte ihm meine Lage und bat um Aufnahme. Ich erhielt bald Antwort. »Wenn Sie der sind, welchen ich aus Ihrem Briefe haben kennen lernen, so eilen Sie zu mir,« hieß es darinn. Allein mir fehlte Equipage. Das erstemal in meinem Leben überwand ich mich, und schrieb an einige würdige Männer meiner Vaterstadt und bat um Unterstützung bei meinem Vorhaben. Ich erhielt sie, und — dürfte ich sie doch nennen, diese Redlichen — aber gewisse Umstände verbieten mirs. Aber meinen heißen innigen Dank nehmt hin Ihr Edle! In meinem Herzen wohnt Euer Andenken und Gott wirds Euch längst vergolten haben: denn durch Euch erhielt ich doch wieder auf einige Zeit, wenns weiter nichts war, die nöthigsten Bedürfnisse des Lebens: Kleidung und Wäsche.

Der Aufseher des Instituts schrieb mir wieder, und diesen Brief erhielt ich durch dessen Bruder; [14]vermuthlich in der Absicht, mich auch persönlich kennen zu lernen. Er mochte nun meinen körperlichen Fehler gesehen, und es seinem Bruder gemeldet haben; kurz darauf erhielt ich die Nachricht: »er könne mich wegen meines körperlichen Fehlers unmöglich annehmen; weil es die Grundsätze des Instituts keinesweges gestatteten; er bedaure übrigens, daß ich meine neue Aussicht wieder verschwinden sehen mußte.« Und so war ich wieder der Elende, Verlassene, dessen körperlicher Fehler ihn nun zum zweitenmale an seinem Glücke hinderte. —

Um aber das Kränkende einer fehlgeschlagenen Hofnung bei einem so äusserst Unglücklichen einigermassen zu mildern, so meldete mir der Herr Aufseher, der Hr. Domh. v. R** würde mich in meinen elenden Umständen einigermassen unterstützen. Ich erhielt kurz darauf einen Dukaten. Mir war diese Hülfe dazumal um so nöthiger: da mich der Gedanke: »so nimmt doch noch Ein Mensch Antheil an deinem Leiden,« von der gänzlichen Muthlosigkeit und Verzweiflung, die ich schon mit raschen Schritten sich mir nähern sahe, einigermaßen befreite. Denn ich habs mehr als einmal empfunden, wie leicht sich das gepreßte Herz wieder auf den reizenden Hügel der Hofnung erhebt, wovon es fehlgeschlagene Erwartung verdrängt hat. Und ich glaube, mancher Unglückliche würde nicht ein Raub der Verzweiflung ge-[15]worden seyn, wenn seine Brüder nicht ihre Herzen vor ihm verschlossen gehalten, und den sanften Trieben des Mitleids Gehör gegeben hätten, wenn sie ihm auch keinesweges thätige Hülfe leisten könnten.

Nein, nie will ich dir, du Unglücklicher! der du vom Schicksaal verfolgt nirgends keine Rettung mehr siehst, wenn du mir im Gange des Lebens aufstößest, (wenn ich weiter auch nichts für dich thun kann) dir mein Mitleid versagen. Und wenn ich dir auch nur auf einige Augenblicke den Standpunkt verrückte, aus welchem deine geschwärzte Phantasie dein Loos ansieht — so hab ich schon gewonnen, und vielleicht hebt ein künftig günstiger Augenblick dein niedergedrücktes Herz vollends wieder empor.

Kurz darauf erhielt ich wieder einen Dukaten. Dieß steigerte meine Hofnung noch höher. Und da der Geber desselben (wie vielleicht jedem bekannt ist) ein Mann von dem besten Herzen und ausgebreitetsten Wirkungskreise ist, so erhielt ich denjenigen hohen Grad von Zutrauen zu ihm, welchen wir nur erhalten, wenn wir genau wissen, daß der, an welchen wir uns wenden wollen, Kraft genug hat, seinen Willen in That zu verwandeln, — und wozu noch kam, daß er selbst ein grosser Beförderer der von mir einmal erwählten Laufbahn (die ich immer noch nicht aufgegeben hatte) ist. Aber ich wollte mir seine Fürsorge nicht erschleichen; noch weniger ihm vorschreiben, wozu ich mich wünschte emploirt zu sehen. Deswegen schrieb [16]ich einen ziemlich langen Brief und schilderte ihm meinen ganzen Charakter, so weit ich mich selbst kenne. Ich verschwieg keine meiner Schwächen. Ich bekannte, daß ich stolz, leichtsinnig und sehr empfindlich sei. Daß ich mir einen Weg wünschte angewiesen zu sehen, auf welchem ich meine guten Anlagen ausbilden, und die Fehler meines Temperaments und meiner Erziehung unschädlicher machen könnte. Ich schloß so, wenn er dich ganz kennt, so weiß er am besten, wozu du taugst, und wenn du sonst wozu zu gebrauchen bist, so ist in ihm so viel Willen mit That vereinigt, daß er dir helfen wird.

Die Antwort blieb außen. Ich schrieb wieder und bat um gütige Antwort, und — ich erhielt sie mit einem Louisd'or und der Erklärung: er verbäte sich fernere Correspondenz und er würde mir, sobald sich Aussichten für mich zeigten, es selbst melden.

Ich weiß es nicht, war ich zu zudringlich; hatte ihm etwas in meinem Briefe mißfallen; genug ich nahm, da ich zumal just in einer üblen Laune war, als ich den Brief erhielt, dieses Verbitten fernerer Correspondenz als ein Zeichen der Verachtung an. Mein Stolz fühlte sich erschrecklich gedemüthiget. Man nehme noch dazu: wieder vereitelte Hofnung, und man wird mirs verzeihen, wenn ich schief sahe. War es denn sehr zu verwundern, daß ein Mann, wie er, der gewiß einen [17]sehr weitläuftigen Briefwechsel hat, meine Briefe verbat? Ich glaubte Zorn in seinem Briefe zu sehen; da es doch weiter nichts als die Sprache des Wohlthäters gegen den Dürftigen war; die Sprache eines Vornehmen, der sich seiner Grösse bewußt ist — gegen einen stolzen Armen, den herablassender Ton von einem höhern, nur Nahrung seines Stolzes würde gewesen seyn. So suchte ich mirs bei kälterm Blute zu erklären, und man wird sehen, daß auch hieran mein Stolz wieder grossen Antheil hatte: denn ich suchte bald den Gedanken von Verachtung wieder zu verscheuchen.

Indessen bewieß es die Folge, daß der Herr v. R.** keinesweges zornig auf mich war. Ehe ich aber dieß beweise, muß ich mehrere Vorfälle nachholen.

Ich wurde mit einem jungen B** bekannt, mit dem ich bald sehr vertraut wurde. Er beredete mich mit ihm zu seinem Vater zu reisen, der in der Altmark auf einem Dorfe Kantor war, und da ich wenig zu versäumen hatte, auch wirklich in meiner Lage Zerstreuung bedurfte, und auf einige Tage ohne Nahrungssorge seyn sollte, so ergrif ichs mit beiden Händen — Wir hielten uns vierzehn Tage auf. Sein Vater, ein alter würdiger Mann, dem ich gefallen mochte, frug mich einst im Scherz, ob ich sein Substitut werden wollte? Ich sagte mit Freuden: Ja! Es ist keine Orgel hier, fuhr er fort, allein der Edelmann hat ein [18]Positiv stehen, welches er nach meinem Tode, da ich nicht musikalisch bin, oder wenn ich Alters wegen den Dienst nicht mehr versehen kann, will in die Kirche setzen lassen. Wenn Sie daher Musik verstünden, so glaubte ichs wohl dahin zu bringen, daß Sie mein Nachfolger würden. Schon wieder eine neue Hofnung! dachte ich, aber wenig Aussichten dazu, (denn wo sollte ich die Kenntniß des Klaviers hernehmen) und reißte mit meinem Freund wieder ab.

Ich kehrte nun zu meinem alten Elende wieder zurück. Meine Bedürfnisse waren zwar wenig; allein auch diese wenigen konnte ich mir nicht verschaffen. Bange Sorgen der Zukunft — Mangel an Unterhalt, keine Beschäftigung, nichts, das meine Seele in Thätigkeit setzen konnte; mein Leben war sehr einförmig. Es wurde mir eine Information angetragen bei einem hiesigen Bürger, der in einer angenehmen Gegend ein Gasthaus hielt. Ich hielt meine Stunde des Nachmittags, weil da immer Gesellschaft war, und ich das gesellschaftliche Leben liebe. Nach der Stunde unterhielt ich mich denn mit diesem und jenen; um auf eine Zeitlang mein Elend zu vergessen. Ich blieb da gewöhnlich bis 10 Uhr Abends. Ich ließ nicht leicht einen unangeredet weggehen, und da ich von allem möglichen sprechen konnte, so hatte ich immer Stoff zur Unterredung. Meine Lern- und Forschbegierde war beinahe zur Leidenschaft geworden. [19]Ich beobachtete genau die Reden und Handlungen andrer, und verglich sie oft zusammen. Da bekam ich denn manchen Aufschluß übers menschliche Herz, das ich mir dann aufzeichnete, und dann nicht selten bei ähnlichen Eräugnissen wieder richtig anwenden konnte! Allein eben diese große Forschbegierde verursachte bei mir oft den Fehler der Zudringlichkeit; gute Menschen besonders ziehen mich unaufhaltsam an sich. Haben sie noch überdem den Vortheil, daß sie Leidende sind, so bin ich nicht abzuhalten: ich suche mich ihnen verbindlich zu machen. Hätte ich denn nur Kräfte genug, um ihnen zu dienen; ihrer Leiden weniger zu machen, aber leider! ich bin selbst unglücklich, und da ich denn doch etwas für sie thun will, so nimmt dieser Trieb eine falsche Richtung, und ich opfere dann in meiner Begeisterung grosse Pflichten kleinern auf.

Man wird diese Anmerkung, (die man mir erlauben wird, weil doch nur jeder selbst im Stande ist, die alleinigen Bewegungsgründe seiner Handlungen anzugeben) in der Folge bestätiget finden.

Unter andern Gästen, die da hinkamen, um sich zu vergnügen, zog besonders ein junges aber ganz ungleiches Paar meine ganze Aufmerksamkeit an sich. Stellen Sie sich einen Mann vor, von ungefähr 28 bis 30 Jahren, mit einer bleichen Gesichtsfarbe, eingefallenen Augen und Schläfen mit einem engbrüstigen Odem, den ein nicht seltener [20]heftiger Husten ganz ausser aller Lebenskraft setzte. Mit langen Fingern, daran die Nägel blau und weit über das Fleisch überstunden, und Füssen, die die stillen Zeugen einer übel vollbrachten Jugend waren. — Kurz ein Mann, dessen Aeusseres seinem Alter die ärgste Satire war. Seine Frau, ein junges feuriges Weib von einigen 20 Jahren, von starken robusten Körper, der von Gesundheit glühte. Mit einer recht ehrlichen Miene und einem ganz hübschen blauen Auge, das aber etwas schwermüthiges und unzufriednes verrieth. Uebrigens einen guten Wuchs und einen ausserordentlich schönen Fuß. Wie abstechend gegen ihren Gatten! Und wie ganz dazu geschaffen, meine ganze Aufmerksamkeit und mein Mitleid rege zu machen. Ich ließ mich mit beiden in Gespräch ein, und da die Gesellschaft zahlreich war, so wußte ich bald das Gespräch auf die Ehen zu lenken. Ich thats aus der Absicht, um zu sehen, wie sie sich dabei nehmen würde, weil ich gleich beim ersten Anblick — das Urtheil gefällt hatte, daß ihre Ehe eben nicht die glücklichste seyn könnte. Ich sahe sie seufzen und ihren Gatten eine mürrische Miene annehmen — dieß war Wink genug für mich und ich brach ab. Unterdessen zerstreute sich die Gesellschaft, und ihr Gatte entfernte sich zu einer Spielparthie. Jetzt waren wir allein. Meine Neugierde, vielleicht auch eine dunkele Empfindung — und mein Mitleid, das schon rege gemacht war, [21]trieben mich an, sie zu fragen: was ihr fehle? Sie schlug die Augen nieder und schwieg. Dadurch noch mehr angefrischt (wars nicht unverschämt?) drang ich weiter in sie. Endlich sagte sie: Sie können mir doch nicht helfen. »Aber doch vielleicht einen guten Rath ertheilen, liebes Weibchen!« und indem ich ihre Hand ergriff, »ich sehe, Sie haben Kummer; entdecken Sie sich mir.« Sie sah mich hierauf starr an. Der Ton, mit welchem ich das sagte, mochte Eingang in ihr Herz gefunden haben. Sie wollte eben ihren Mund öfnen, als sie ihr Gatte hinausrief, und mir schien es, als wenn seine Augen mich durchforschten — doch die Folge bewieß, daß ich mich geirrt hatte.

Ich konnte sie nun diesen Tag nicht wieder allein sprechen, denn sie gingen kurz darauf nach Hause.

Ein gewisser H***, der sich auch immer an diesem Orte befand, und mit welchem ich eine Art von Freundschaft errichtet hatte, weil er ein offner Kopf war und kein schlechtes Herz hatte, hatte auch seine Bemerkungen über dieses Paar gemacht und theilte sie mir mit. Er war ein Naturalist und hatte den Grundsatz: die Natur ließe sich nicht zwingen. Ich mochte ihm diesen Satz bestreiten, wie ich wollte, so blieb er bei seinem Kopf. »Sehen Sie nur, sagte er, dieses gute Weib ist unglücklich in der Ehe; ihr Mann ist ihr zu wenig, [22](Sie müssen sich an seine Ausdrücke nicht stoßen) daher entsteht ihre Traurigkeit.« Aber woher weiß er denn das so gewiß? sagte ich. »Ei nun, sehen Sie nur, fuhr er fort, seinen und ihren Körper an; wie will ein solcher ausgemergelter Körper (ich muß seinen Ausdruck ändern) dem ihrigen Freuden gewähren?« Und warum, muß es denn just thierischer Trieb seyn? Können nicht noch andere Ursachen ihrer Traurigkeit da seyn? Ihr Charakter stimmt vielleicht mit dem Seinigen nicht; sie hat vielleicht einen andern geliebt; und hat diesen aus Privatabsichten nehmen müssen. »Es wird sich ausweisen, sagte er, wer recht hat.«

Nun konnte ich nicht ruhen noch rasten: ich mußte ihre geheime Geschichte wissen. Und da ich einige Tage wegen anderer Abhaltungen nicht hinauskommen konnte, so schrieb ich ein Billet, gab es meinem Naturalisten, und bat ihn, er möchte es ihr heimlich zustellen. Dieses Billet enthielt nichts als: Bedauerungen, Anerbietung meiner Freundschaft (was konnte ihr diese in meinem eingeschränkten Kreise wohl helfen!) und Angelobung völliger Verschwiegenheit, im Fall sie mich zu ihrem Vertrauten machen wollte. Am Ende bat ich sie, mir einen Ort zu bestimmen, wo ich sie ohne Zeugen sprechen konnte.

Als ich wieder hinkam, so war der Brief schon den Tag vorher übergeben worden. »Sie hätten nur sehen sollen, sagte mein Abgeordneter, wie [23]sie so begierig darnach griff, und mit welcher Freude sie ihn an einem unbemerkten Orte las. Tausendmal frug sie mich: ob Sie nicht selbst herauskämen. Sehen Sie, daß ich recht habe.« Ich hatte genug zu thun, um ihm Einhalt zu thun, denn mir wollte es immer noch nicht recht im Kopf, daß eine Frau sich so leicht einem anderen überlassen sollte, von dem sie glauben könnte, daß er sie auf bloß physische Art schadlos halten würde. — Freilich ich gestehe es gern, war ich zu einer andern Zeit — wieder geneigter es zu glauben; es entstanden in mir gewisse Empfindungen, die michs wahrscheinlich vermuthen liessen: denn man schließt immer von sich gern auf Andre; — allein ich rechnete auch wirklich viel auf weibliche Schaam, und die Folge bewieß, daß dieser Schutzengel weiblicher Tugend auch durch die nachläßigste Erziehung nicht, und nur durch böses Beispiel verdrängt wird.

Auf den Tag harrte ich sehnlich, wenn ich sie selbst sehen würde; denn da hofte ich auf Antwort. Der Tag erschien, und mein Herz klopfte wie ein Hammer, als ich sie sahe ankommen. Sie wurde roth, als sie mich ansahe, und da wir nicht bemerkt wurden, so lispelte sie mir zu: kommen Sie künftigen Sonntag früh um acht Uhr zu mir. Ueber diese Einladung erschrack ich herzlich; denn die hatt' ich mir gar nicht vermuthet. Doch faßte ich mich; nur hütete ich mich, ihr in die Augen zu sehen, denn ich fühlte, daß mein Gesicht [24]glühte. — Auch sahe ich jetzt nicht mehr das leidende — sondern das willige, ausschweifende Weib. Aber diese Denkungsart verschwand bald, nachdem ich näher von ihrer schlimmen Lage unterrichtet war, und mein Mitleid wuchs bis zu einer erstaunenden Höhe.

O wie oft ist mir aus Meißners Gedicht: Noch hab' ich nie gefunden, die meine Seele sucht, die Stelle daraus eingefallen, die so ganz für mich paßte: e

Sah' manches holde Weibchen

verknüpft mit Alberts Hand;

beseufzte sie und bebte

für meine Ruh und schwand.

Schwand hin, wie Frühlings Wölkchen

am Himmel leis' entfliehn;

denn in des Mitleids Nähe

sah' ich die Liebe glühn —

Wie wahr die letzten Strophen, und wie treffend für mich. Ja, fliehn hätte ich sollen, aber ich blieb — und mein weiches Herz riß mich hin und jetzt seh' ichs erst ein, wie wahr Gellert geschrieben: f

Oft kleiden sich des Lasters Triebe,

in die Gestalt erlaubter Liebe

und du erblickst nicht die Gefahr?

Ein langer Umgang macht uns freier,

und oft wird ein verborgnes Feuer,

aus dem, was anfangs Freundschaft war.

[25]Der Sonntag kam, und mit klopfendem Herzen ging ich hin. Sie empfing mich mit einer sehr guten Art und nach einigen gewechselten Höflichkeiten fing sie ihre Erzählung an: Um das schwerfällige in der Erzählung zu meiden, will ich sie selbst reden lassen:

Ich habe, fing sie an, meinen Mann bloß aus Verzweiflung geheirathet, um der üblen Begegnung meines schlechten Bruders zu entgehen. Ich habe viel gute Vorschläge gehabt, aber mein Bruder, der lieber gesehen hätte, wenn ich gestorben wäre, damit sein Erbtheil desto grösser geworden, wußte sie alle zu hintertreiben. Ich wurde mit meinem jetzigen Manne bei einer Hochzeit bekannt, und da seine Brust dazumal noch nicht so übel war, als jetzt, so ließ ich mir seine Anträge, mich zu heirathen, gefallen. Ich konnte, wenn ich heirathete, auf 70 Rthlr. Rechnung machen, denn von meinen Eltern hatte ich wenig zu hoffen. Er hatte kein Vermögen, und da er sich sehr gut stellte, so beschloß ich, das Geld zu seiner Etablirung und zur Erlegung der gewöhnlichen Gebühren zu seiner Aufnahme ins Metier herzugeben. Man verwarf sein erstes Meisterstück, und da ich schon 40 Rthlr. darzu geliehen hatte, so mußte ich mich zu einem zweiten entschließen. Mein Bruder wendete nun alles an, um unsere Verbindung zu hintertreiben und suchte mir ihn auf alle mögliche Art verhaßt zu machen; allein ich war hart-[26]näckig und setzte es durch. Schuldig war ich einmal; wie wollte ich das Geld bezahlen, wenn ich ihn nicht nahm? Ich fing also meinen Ehestand mit Schulden an. Wir lebten so einige Jahre, ohne hinlängliche Arbeit zu haben; wir mußten also noch immer zusetzen, und also immer tiefer in Schulden gerathen. Unter der Zeit gerieth seine Gesundheit immer mehr in Abnahme, und er wurde von Tage zu Tage eigensinniger, so wie er es auch noch jetzt ist. Nichts kann ich ihm mehr recht machen; alles tadelt er, ist ihm verdrießlich, und da ich von meinen Eltern eben nicht zu großen Geschicklichkeiten bin angehalten worden, so hat er zwar freilich in manchen Stücken recht; allein er hat ja dieß gewußt, denn ich hab' ihm kein Geheimniß daraus gemacht. Jetzt anstatt mir meine Fehler in Güte zu sagen, thut ers mit den härtesten Worten, wirft mir meine Unwissenheit in vielen häußlichen Dingen des Tages zwanzigmal vor, und nie wird er wieder gut, als wenns Abend werden will. — Also liebt er mich nur, wie man eine H** liebt; so lange er seine Triebe befriedigen kann, so ist er ruhig und gelassen, und des Morgens geht meine Qual von neuem an. Am Tage verlangt er die strengste Unterwürfigkeit und auch wohl Ehrerbietung — und des Nachts erzählt er mir seine vorigen Liebschaften; nennt sie alle nach der Reihe her, und hat mir sogar gestanden, daß er schon einmal sei angelaufen. — Wie [27]kann ich, fuhr sie fort, Liebe und Hochachtung haben, da er mich wie seine Sclavin behandelt, mir seine Ausschweifungen entdeckt, und sich damit groß macht, und ich nun die Folgen seiner ausschweifenden Lebensart durch seinen Eigensinn und mürrische Laune büssen muß? — (Hier konnte sie sich der Thränen nicht mehr enthalten.) Er hat mich, fuhr sie fort, als ein reines unschuldiges Mädchen erhalten; denn ich bin fast zu einfältig erzogen worden. Durch ihn hab' ich meine Unschuld verloren. Wenn ich jetzt an diejenigen denke, die ich geliebt habe, ordentliche, gesunde und bemittelte Leute, und denke dann an meinen Mann, können Sie sich da wundern, wenn der Gram tief in meinem Herzen steckte. Jetzt haben wir nun zwar hübsche Arbeit, allein wir stecken noch tief in Schulden, und wenn wir auch einige Thaler beisammen haben und ich dringe darauf, Schulden zu bezahlen, so will er nicht daran und wirft mir bei jedem Bissen Brod, den ich genieße, vor: ich koste ihm so viel. Oft läßt er mich mit meinem Kinde halbe Tage allein, läßt mir 6 Pf. zurück, und er verzehrt 3 bis 4 Gr. Dadurch hat er mich zur Diebin gemacht, weil ich mein Kind unmöglich Noth leiden lassen kann. Ich schlage ihm daher, wo ich es möglich machen kann, alles etwas höher an, und wenn ich hieran Unrecht thue, so verzeihe mir's Gott! (Hier weinte sie wieder.) Kommt er denn einmal dahinter, so können Sie sich leicht [28]vorstellen, wie er mit mir verfährt. Indessen hat er mich noch nie geschlagen, weil ich ihm geschworen habe, gleich von ihm zu gehen, sobald er eine Hand an mich legt; auch mag er sich wohl vor mir fürchten. Keinen Freund hab' ich, dem ich meine Noth klagen kann, und meine Blutsverwandte gönnen mirs. Kurz, mein Leben ist das unglücklichste, was man sich nur denken kann. Jetzt schwieg sie stille.

Meine ganze Seele war erschüttert und mein Haß und meine Verachtung stieg in eben demselben Augenblick gegen dem Urheber ihrer Leiden so hoch, als das Mitleid gegen sie. Ich tröstete sie so gut ich konnte; ermahnte sie zur Geduld, als ihrer vornehmsten Pflicht, und ich kann sagen, daß ich dazumal noch keinen Funken von Anspruch empfand. Mitleid war jetzt die herrschende Empfindung meiner Seele und durch meinem Kopf fuhr eine Menge Projekte, die alle für ihr Wohl abzweckten. Aber —

Vielleicht, sagte ich zu ihr, warten noch künftig Freuden auf sie. Nein, war ihre Antwort, darauf warte ich nicht, denn stirbt er über lang oder kurz, so hinterläßt er mir Schulden, und wer wird sich heut zu Tage an eine arme Wittwe machen, die im Ruf steht, als habe sie sich in ihrer Ehe nicht gut vertragen? Stirbt er bald (und wie kann ich ihm ein langes Leben zutrauen, da sein Blutspeien und Husten täglich zunimmt) so [29]ists mir wohl, (denn ich läugne es nicht, daß ich es wünsche) so verkauf ich, was ich habe, bezahle meine Schulden und gehe mit meinem Kinde in die weite Welt hinein. Ich bin noch jung, stark, und wovor ich Gott vorzüglich danken muß, bei allen meinem Kummer und Gram immer gesund. Ich kann mich also wohl noch mit meiner Hände Arbeit ernähren; Ich bete dann fleißig (denn auf Gott hab' ich mein ganzes Vertrauen gesetzt) und dann gehe es, wie es will. Daß ists eben, fuhr sie fort, daß kein Seegen bei uns ist. Denn den ganzen Tag wird geflucht und gezankt! kein Buch, keine Bibel nimmt er in die Hand. Will ich vor oder nach Tische beten, so will er nicht. Bete ich Morgens und Abends, so spricht er: Bete lange, Gott wird Dir nichts vom Himmel werfen, arbeite, verdiene etwas. Sage ich dann: womit soll ich was verdienen; soll ich denen Gehör geben, die mir so oft Anleitung gegeben haben, Dir untreu zu werden, so kann ich Geld verdienen — Hier schweigt er still, und ich glaube immer, er nähme es stillschweigend mit an, wenn ich ihm nur viel erwürbe. Diese Anmerkung ist mir in der Folge auch wahrscheinlich geworden. Singe ich ein Lied, so sagt er: sing nur nicht immer, wenn ich komme oder zu Hause bin, und so geht das beständig. Wunder war es nicht, ich hätte schon oft verzweiflende Mittel ergriffen.

[30]

Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Ich that es, nachdem ich ihr noch einmal völlige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden für sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. — Und endlich verdrängte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Ich habe das überhaupt oft bei mir bestätiget gefunden, daß mich eine verübte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen überzeugt war; je weniger war mir's möglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niederträchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto stärker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen [31]dieses Mannes, anschaulich machte. Eine gewisse Rachbegierde, die aus dem Zorn herkam, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte — flammte die glimmende Asche zum Feuer an. Diese vergesellschaftete sich mit den sinnlichen Empfindungen, und nun war es möglich, daß ich mich ganz leicht überredete: es würde keine so grosse Sünde seyn, wenn man einem Menschen ein Gut entriß, der es nicht zu schätzen wüßte.

Indessen kann ich auch zu meiner eignen Rechtfertigung sagen: Nie hab' ich den Zwiespalt zwischen beiden, unterhalten, genährt, zu meinem Nutzen angewendet. Nein, dieß Zeugniß giebt mir mein Herz: ich habe immer zum Frieden geredet. Ich sagte ihr oft: daß sein Eigensinn eine Folge seiner geschwächten Gesundheit sei, daß er keinesweges so Herr seiner Leidenschaften seyn könnte, als ein Gesunder, dessen Nerven nicht geschwächt, und also nicht solcher schnellen Erschütterungen fähig sei. Vieles müsse sie also übersehen, und sobald sie sich gewöhnte, manches zuzudecken, manches gelinder zu erklären, so bliebe nur noch ein kleiner Theil zu tragen übrig. — Er, der es ihr aufgelegt hätte, würde es erleichtern helfen.

Freilich war eine vernünftige Vorstellung auch ein kleines Mittel, daß er etwas besser mit ihr umgegangen wäre, allein da ich wußte, wo der Grund lag, daß das Uebel bereits unheilbar sei, zudem [32]sich zwischen Eheleute zu mischen, ohne eine gewisse Verbindlichkeit zu reden zu haben, auch eine sehr delikate Sache ist, und überdem von seinem Charakter wahrscheinlich urtheilen konnte, daß er wenig Widerspruch vertragen würde, so ließ ichs dabei bewenden, bloß ihr willige Ertragung ihrer Leiden anzurathen.

Man erlaube mir, ehe ich meine Geschichte weiter fortsetze, daß ich einige Zweifel gegen die allgemeine Güte und Vorsehung Gottes, worauf ich durch das Schicksaal dieser Unglücklichen gebracht wurde, darlege. Zuerst fiel ich auf das gewöhnliche Sprichwort: die Ehen werden im Himmel geschlossen. Ist dieses ohne die geringste Einschränkung wahr, so findet eine Vorherbestimmung statt; so mußte der Bruder just immer das Werkzeug werden, wodurch eine vielleicht glückliche Verbindung nicht an sie kommen durfte; so mußte sie am Ende aus Verzweiflung diesen Menschen heirathen. Und das ist die sogenannte Freiheit des Menschen? Es scheint ja wirklich, als wenn die Freiheit zu handeln, nur so lange statt fände, als sie dem Laufe des Ganzen nicht hinderlich fällt. Also eine Vorsehung übers Ganze und nicht über jeden einzeln Theil? O du Unglücklicher! so ist dein Vertrauen auf Gott in den unglücklichsten Lagen deines Lebens nur so lange anwendbar, als deine Hülfe, oder die Aendrung deines Schicksaals, das du erwartest; oft unter Gebet und Thränen [33]von Gott zu erringen glaubst, dem Ganzen nicht hindert. — Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zuläßt, daß durch Aufopferung vieler Tausende, dein Gebet erhöret werden kann. Unglücklicher Vorzug! auf die Glückstrümmer meiner Brüder, mein eignes zu gründen! — Mein Herz kann sich unmöglich mit diesem Gedanken vertragen. Womit hatte es denn die Unglückliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht erträglich gemacht werden konnte, als durch Verbrechen. — So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Sünden des Einen, ziehn Sünden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt? »Standhaft dulden und — schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen, Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen dieselbe erwarten — Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz.«

Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anhören, die selbst die Erfahrung und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu bestätigen scheinen?

Dulden. Thut Gott jetzt noch Wunder? und wär es nicht Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen Trägheit, ohne vorhergegangne andere Umstände, [34]herabgestimmt würde? Und mich dünkt, zum Dulden wird ein gewisser Grad von Ruhe im Blute erfordert; folglich ist es schon physisch unmöglich, daß das angegebne Temperament bei den schrecklichsten Ereignissen des Lebens, gelassen seyn sollte. Hieraus folgt aber auch, daß wenn Gott keine Wunder mehr thut, — erst Jahre verstreichen müssen, die alles Schreckliche menschlicher Schicksaale in sich begreifen, wodurch der Ausbruch der Ungeduld, oder die Kühlung des Bluts bewirkt wird, und die so lang erbetene Geduld dann eine Folge davon ist. Ein Grund, warum, sobald wir keine Wunder annehmen, die das im Augenblick bewirken, was erst die Frucht vieler Jahre ist, der Höchste nicht so unbefangene Gebete erhören kann. —

Ich sage nicht, daß mir diese Gedanken alle zum höchsten evident sind. Es sind Zweifel; nichts mehr als Zweifel: keine ausgemachte Wahrheiten, und ich bitte auch, die folgenden so zu betrachten, denn ich bin bereit, sie abzulegen, sobald mich ein Freund der Wahrheit eines bessern belehrt.

Unterwerfung unter den Willen des Ewigen ist bei vielen oft ein Werk des Zwangs; nur bei einigen (und auch bei denen habe ich selten heftige Leidenschaften angetroffen) ein Werk der Ueberzeugung, wozu sie besonders ihr kälteres Blut fähiger machte, als jene. —

[35] Vertrauen auf die göttliche Hülfe ist im Grunde nichts anders, als: Hofnung der baldigen Aendrung seines Schicksaals. Diese verschwindet bald, wenn das Uebel zu lang anhält; wenn diese Hofnung zu oft täuscht; wenn jede Aussicht sich nur zeigt und dann — schnell wie Morgennebel verschwindet. Dadurch wird das Vertrauen zu Gott geschwächt — und mich dünkt, wir verlangen zu viel von einem Menschen, wenn wir diese angenommene vornehmste Eigenschaft des Gebets von ihm verlangen, der in seinem ganzen Leben wenig auffallende Beweise einer besondern göttlichen Fürsorge, einer solchen Stärkung seines Glaubens, aufzuweisen hat, die auch bei einem Abraham erst vorgehen mußten, ehe Gott das grosse Opfer — von ihm fordern konnte.

Ich bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen.

Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwächt. Mir scheint es ganz unnöthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine göttlichen Eigenschaften? Ist [36]der Fürst nicht (menschlich davon zu reden) edler und gütiger, der seinen Freunden und Unterthanen mit seiner Gnade zuvorkommt, als der, der um jede Kleinigkeit erst einen Fußfall verlangt? Ehre ich daher Gott nicht mehr, wenn ich ihn für denjenigen Herrn halte, der mir ohne mein Gebet alles Gute zuwendet, und mein Gebet nicht verlanget noch erwartet, ausser den Ausbrüchen der Dankbarkeit und des Lobes? denn diese geben wir Menschen, die uns Wohlthaten erwiesen haben; wie viel mehr sind wir sie Gott schuldig, von dem wir alles haben.

Allein hiermit ist ja noch nicht die Verheissung erklärt, die das Evangelium Jesu mit dem Befehl zu beten verbindet. Dieses verspricht eine Erhörung und stellt das Gebet als eine Sache vor, die den Höchsten beweget, uns etwas zu geben, welches er uns sonst nicht würde gegeben haben. Und streitet das nicht geradezu mit der Unveränderlichkeit der göttlichen Rathschlüsse, die er gewiß schon von Ewigkeit her faßte? Denn wenn er seine Rathschlüsse ändert, so kann ihn etwas gereuen; und ist er dann der vollkommene Gott, der keinen menschlichen Leidenschaften unterworfen ist? Sind aber die Rathschlüsse Gottes unveränderlich, so können sie auch durch mein Gebet nicht verändert werden; im Fall es der Ewige nicht von Ewigkeit her beschlossen hat, mir zu einer festgesetzten [37]Zeit zu helfen: und das ist doch immer ausser der Sphäre menschlichen Wissens. —

Dieß sind meine Zweifel in Ansehung einer besondern Vorsehung und des Gebets, wozu mich sowohl mein eignes als das Schicksaal dieser Unglücklichen brachten. Ich konnte sie nicht übergehen, weil sie zur Geschichte meines Lebens nothwendig gehören. Ich lege sie mit Freuden ab, sobald sie mir gründlich widerlegt werden; denn ich fühle, daß ich bei allen meinen Zweifeln nicht glücklich bin. — Das Vertrauen auf ein allmächtiges Wesen und der Glaube an eine, auch auf die kleinsten Theile der Schöpfung sich erstreckende Vorsehung, hat selbst zu manchen Stunden etwas süsses für mein kummervolles Herz; aber wie gesagt — ohne einen recht sichtbaren Beweiß einer göttlichen Vorsehung auch auf mich von aller Welt Verlassenen — dürfte sich mein Herz wohl nie zu dem hohen Grade der zuversichtlichsten Hofnung zu dem Herrn meines Lebens erheben, wenn auch mein Verstand durch die bündigste Demonstration überzeugt würde. Eigene Erfahrung wirkt mehr aufs Herz, als alle Vernunftschlüsse. — Jetzt will ich in meiner Geschichte fortfahren.

Schon hegte ich gegen die Unglückliche wirklich Liebe, die den Wunsch gebahr, immer um sie zu seyn. Aber wie konnte das angehen, da ich unmöglich immer ohne Vorwissen ihres Gatten hingehen konnte, ohne ihre und meine Ehre in Ge-[38]fahr zu setzen. Doch die Gelegenheit dazu bot sich bald dar. Da ich sie einst wieder beide an dem Orte traf, wo ich sie hatte kennen lernen, so suchte ich ihm Rede anzugewinnen. Ich hatte gehört, daß er gern Bücher von gewöhnlicher Art las; ich lenkte daher das Gespräch dahin. Er wurde bald gesprächig. Ich versprach ihm einige Bücher nach seinem Geschmack zu verschaffen, und — er bat mich zu sich.

Auf eine so leichte Art hatte ich nun meinen Zweck erreicht. Kurz darauf wurde die Witterung schlechter, das Spazierengehen wurde eingestellt; die Abende wurden länger und — Langeweile blieb nicht aus. Ich bat ihn daher, daß er mir erlauben möchte, ihn des Abends besuchen zu dürfen, und er war es sehr gern zufrieden. Ich hatte neben meiner Liebe noch einen Endzweck: ich wollte sie beide in ihrem häuslichen Verhältniß — näher beobachten, um wo möglich bei ihren Zwisten ein Wort des Friedens zu reden. Die Gelegenheit dazu blieb auch nicht lange aus, aber ich wurde auch überzeugt, daß ich mich in meinem vorigen Urtheil: daß er schien, wenig Widerspruch vertragen zu können, nicht geirrt hatte. Ich war kaum dreimal da gewesen, als sich sein hitziger ungestümer Charakter schon äusserte. Sie schwieg mehrentheils stille, und wenn sie dann einmal sich regte, so gerieth er in eine solche Wuth, daß ich mich immer weit wegwünschte.

[39]Acht Abende hinter einander war er zu Hause; vermuthlich Wohlstandes wegen, und nun — ging er wieder in Gesellschaft und ich und seine Gattin waren mehrentheils allein. Ich blieb denn gemeiniglich da, bis er wieder kam, und kam er denn, so war er freundlich und gesprächig. Ich wußte nicht, was ich zu diesem Betragen denken sollte; seine Freundlichkeit schien mir zweideutig — wenigstens wars wider meinen Begrif von Ehe, einen Fremden, den ich noch nicht weiter kenne, zu ganzen Stunden bei meiner Gattin zu wissen, mit der ich so gespannt lebe. Entweder (so erklärte ich mirs) Eigennuz war bei ihm stärker als Eifersucht, oder er hatte zu viel Eigenliebe, die ihn immer überredete: ein anderer könne sich nicht in den Besiz eines Herzens setzen, worinnen er (vielleicht) unumschränkt herrsche. Aber er kannte das menschliche Herz nicht. Konnte denn das öftere Alleinsein gegründet auf ein reges Mitleid, eine andere Folge haben, als Liebe? Eine junge Frau, die von Natur munter war und das gesellschaftliche Leben liebte, mußte ich der nicht nach und nach unentbehrlich werden, da ich ihr durch Vorlesen und Discuriren, durch Trost und guten Rath die Langeweile vertrieb, und sie ihr Elend auf eine Zeitlang vergessen machte? Ich war unglücklich; sie auch. Sie hatte keine Freundin, gegen die sie ihren Kummer hätte ausschütten können; ich keinen Freund, von allen Lebendigen verlassen: wars Wun-[40]der, wenn uns dieß noch fester zusammenband? Nur der, der selbst so unglücklich, so von allen fremden Antheilnehmen an seinem Leiden entfernt gewesen ist, als ich, und wenn er dann irgend ein menschliches Wesen findet, das ihm ohnedem nicht gleichgültig ist — das dann einen Theil seiner Last tragen hilft; an dessen Busen er sein Elend vergessen kann, nur der wirds mir glauben, wie mit beiden Händen er nach der Gelegenheit hascht, sie fest hält, und — sie so gut benutzt, als er kann. -—

Ueberdem fand ich auch an ihr eine gewisse Aehnlichkeit mit mir, in Ansehung des Herzens. Sie fand ihr größtes Vergnügen darinnen: dienstfertig gegen jeden und äusserst mitleidig gegen Arme zu seyn. Freilich war dieß nicht Tugend, es war Temperament. Bei ihren guten Handlungen war sie etwas eitel, und verrichtete sie mit einigem Geräusch. Allein das war Fehler der Erziehung: denn man hatte sie in ihren jüngern Jahren oft gelobt, wenn sie irgend einem Armen etwas gab; das war ihr nun so zur Gewohnheit geworden — — —

(Hier ist durch Zufall ein Blatt Mspt. verloren gegangen.)

Ich habe mich nicht überwinden können, meiner Freundin diese meine letzte fehlgeschlagne Hofnung zu hinterbringen. Und doch wär es in der Folge vielleicht besser gewesen. Nun traue ich keiner Aussicht mehr, denn ich bin zu oft getäuscht.

[41]

Der Winter verstrich beinahe, aber die letzte Zeit, (o könnte ich diese Tage wieder zurückrufen) nicht mehr so schuldlos — Erlassen Sie mir eine Beschreibung, die mich zu sehr beugt; denn ich fühle jetzt die Folgen desselben. — Ich bin gestraft dafür, schrecklich gestraft. Der Himmel hat sich meiner Armuth bedient, um meine Schande der Welt vor Augen zu legen. Ich wollte eine Unglückliche retten, und sie wurde durch ihre Liebe gegen mich noch unglücklicher. Noch wär sie zu retten, aber — meine bittre Armuth! O fände sich doch ein Menschenfreund, der sich meiner erbarmte, und mir ein Plätzchen auf Gottes grosser Welt anwieß; vielleicht könnte ich meine traurigen Erfahrungen zum besten meiner Mitbrüder nutzen. —

Das übrige Detaillirte meiner Geschichte interessirt keinen, als mich — Auch muß ichs, da ich unmöglich mich noch kenntlicher machen kann, verschiedener anderer Personen wegen, verschweigen.

Erläuterungen:

a: Niemeyer 1775–1782.

b: Timme 1779-1781.

c: Kronenburg und Grato 1780.

d: Wagenseil 1780-1783.

e: August Gottlieb Meißner, 'Noch hab ich nie gefunden, / Die meine Seele sucht;' erschien in Taschenbuch 1778, S. 120-123.

f: 'Warnung vor der Wollust' in Gellert 1757, S. 245.

III.

Ein Korbmacher, der oftmals, gleichsam in einer Betäubung, ausnehmend erwecklich prediget.

Varnhagen, J. A. T. L.

Wetterburg den 3ten October 1784.

Johann Conrad Mohk, in Buhlen, einem im Fürstlich-Waldeckischen Amt Waldeck a liegenden [42]geringen Dorfe, wohnhaft, wo er auch am Ende Novembers oder im Anfang December 1709 ehelich geboren worden*), 1 ist der Mann, mit dem ich das Publikum bekannt machen möchte, da er noch zur Zeit in einem 75 jährigen Alter lebet, folglich ein jeder noch im Stande ist, sich von der Wahrheit meiner Angaben weiter zu überzeugen. Ich bin von 1777 bis 1780 viertehalb Jahr in der Stadt Waldeck, davon jenes Dörfchen nur eine halbe Stunde entfernet ist, Rektor, und zugleich Pastor zweyer nahegelegenen Dörfer gewesen. Dieses hat mir Gelegenheit gegeben, den Mann genau kennen zu lernen, von dem ich hier rede. Er führt ein unbescholtenes christliches Leben, und hat in seinem niedrigen Stande ein würklich ehrwürdiges Ansehen. Sein bescheidenes Wesen, sein guter natürlicher Verstand, vermöge dessen er im gemeinen Umgange mit jedermann wohl zu reden weiß, sein offenes ehrliches Gesicht, seine im Alter noch gerade Statur, seine grauen Haare: alles dieses nimmt für ihn ein. Wahrscheinlich ist in ihm ein guter rechtschaffener Prediger der Kirche verdorben, der wohl manchen seiner Zeitgenossen an Geschicklichkeit weit übertroffen haben würde. Er nähret sich hauptsächlich vom Korbflechten und Strohdachdecken, und lebt in einer unfruchtbargebliebenen Ehe. Was ihn aber vor vielen tau-[43]senden seines Gleichen merkwürdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu ändern ist) als wann er allein ist. Insonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kännchen (das ist für drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*). 2 Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als möglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vorträge, derer ich mehrere und über unterschiedliche biblische Texte angehöret habe**), 3 sind Bußpredigten oder Er-[44]mahnungen zur Besserung der Gesinnungen und des Betragens. Seine Aussprache dabei ist sehr angenehm und der Sache, die er vorträgt, angemessen, deutlich, mehrentheils sanft und erweichend. Er bedenket sich nicht auf das, was er sagen will; auch stottert und stocket er nicht. Wo etwas rührendes vorkommt, weinet er auf eine anständige Weise. Nachdem er die Predigt mit Amen geschlossen hat, so betet er das Vater Unser etc. und der Herr segne uns etc. Zuweilen lasset er auch den Segen weg. Während seinem ganzen Vortrag sitzet er in einer Art von Betäubung; hat die Augen starr offen, ohne zu sehen, wer oder was vor ihm ist; geräth dabei in einen Schweiß und in Engbrüstigkeit, ob er gleich weder sehr laut noch lange redet; und wenn alles geendiget ist, scheinet er sehr ermüdet, schöpfet tief Athem, und erholet sich nur langsam wieder. Nachdem er wieder zu [45]sich selber gekommen ist, bedauert er gegen die Umstehenden, daß sein schlechter Vortrag wohl von manchem möge verspottet werden: und bezeuget dabei zu seiner Entschuldigung, er könne es nicht zurückhalten.

Dieses ist das Faktum selbst. — Nun will ich aber auch zur Auflösung dieser sonderbaren Erscheinung einige Data mittheilen.

Als ich eine seiner Predigten am 25sten Mai 1779 angehöret, und durch nachherige freundliche Unterredung sein Zutrauen gewonnen hatte, erzählete er mir in Ausdrücken, die das Gepräge der Aufrichtigkeit hatten : der im Jahr 1740 verstorbene Conrektor Brumhard zu Niedern-Wildungen b habe einstmals auf einen Sonntag für den Pastor zu Afholdern, wohin Buhlen eingepfarret ist, geprediget. Die Predigt sei besonders erwecklich und eindringend gewesen, und er durch selbige dermassen gerühret worden, daß er während derselben bis zum Ausgang aus der Kirche geweinet habe. In der nächstfolgenden Nacht habe er im Schlaf die angehörete Predigt mit lauter Stimme wiederholet; seine noch lebende Ehegattin*) 4 sei darüber aufgewacht, und habe sich bemühet, ihn [46]aufzuwecken, welches aber vergeblich gewesen sei; denn er sei an Hersagung der Predigt und im Schlaf geblieben. Da alles vorbei gewesen und er wieder stille geworden sei, habe seine Gattin ihn gefragt: Wie ihm sey? Worauf er erwiedert habe: Gut! Hiernach habe sie ihm in grosser Bestürzung erzälet, was mit ihm vorgegangen sei. Davon habe er aber nichts gewußt. Und seitdem müsse er oft predigen, ohne daß er wisse, wie er dazu komme.

Man merket an ihm nichts Schwärmerisches, als ob er seine Predigten für etwas Uebernatürliches hielte: und eben so wenig bildet er sich darauf ein. Betrug und Verstellung kann, nach allen Umständen, hierbei, meines Erachtens, auch nicht vermuthet werden; zumalen, da er dadurch nichts zu gewinnen suchet, und in so langer Zeit nichts gewonnen hat, weder an Ehre noch Gut.

Mit Schrifterklärungen giebt er sich niemals ab; sondern seine Vorträge sind aus den nöthigsten und bekanntesten Religionswahrheiten und deutlichen Sprüchen der Bibel, welche er nach dem Kapitel ordentlich citiret, leicht zusammengesetzet, und eben deswegen für jedermann sehr faßlich; gleichwohl fehlet es ihnen nicht an Zusammenhang, doch ohne ins Aengstliche zu fallen. Und in dieser Rücksicht sind seine Vorträge wahre Muster für Dorfprediger.

[47]

Ueberdieß habe ich bemerket: Der Mann besitzet ein besonders gutes Gedächtniß; denn er weiß noch ganze Stücke aus den im Jahr 1728 gehaltenen Leichenpredigten auf die kurz nacheinander verstorbenen beiden Fürsten von Waldeck, Friedrich Anton Ulrich und Christian Philipp. Ausserdem aber muß er auch eine sehr lebhafte Einbildungskraft haben, wie aus dem erwähnten Vorgang, da er die angehörte Predigt im Schlaf laut wiederholet hat, abzunehmen ist.

J. A. T. L. Varnhagen,

Pastor zu Wetterburg bei der Fürstl. Waldecki-
schen Residenz Arolsen.

Fußnoten:

1: *) Er wurde am 2ten December 1709 getauft.

2: *) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven müssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst wäre jenes wohl nicht möglich.

3: **) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten hält, weiß und sagt er selbst. Ich habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hörete ich ihn über Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls über jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kännchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals über Apost. Gesch. 20, v. 27. Ich habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhörer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und künstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er hält wahre paränetische Vorträge, nur ungefähr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas darüber.

4: *) Dieser Johann Conrad Mohk wurde zu Buhlen am 3ten Julii 1732 mit Maria Margarethen Rien ehelich verbunden. Der Anfang seines Paroxysmus fällt folglich zwischen dieses 1732ste und das 1740ste Jahr.

Erläuterungen:

a: Stadt im Landkreis Waldeck-Frankenberg in Nordhessen.

b: Heute Bad Wildungen, Stadt im Landkreis Waldeck-Frankenberg im westlichen Nordhessen.

IV.

Eine Unglücksweissagung.

Ulrici

Ich hatte einen Freund, der eine Viertelmeile von mir wohnte, mit dem ich meine angenehmen und widrigen Schicksaale theilte, einen Mann von sehr gesunden Leibeskräften und einer heitern und lebhaften Seele.

Wir kamen, wenn es irgend unsere Amtsgeschäfte verstatteten, wenigstens die Woche einmal zusammen, ja es schien uns beiden etwas zu fehlen, wenn wir uns in acht Tagen nicht gesehen hatten.

[48]

In den letzten vier Wochen vor seinem Ende aber sprach er bei jeder Zusammenkunft von seinem sehr nahe bevorstehenden Tode.

Den Dienstag vor Pfingsten im Jahr 1776 kam er des Morgens ganz frühe zu mir und sagte: Freund, sind Sie heute von wichtigen Geschäften frei, so bleibe ich den ganzen Tag bei Ihnen, vielleicht ist es das letztemal, daß ich zu Ihnen komme.

Ich bringe Ihnen daher meinen Leichentext und einige Umstände von meinem Lebenslauf, die Ihnen nicht bekannt sind, Sie werden mir doch wohl der Gewohnheit nach eine Leichenpredigt halten müssen. Nach einigen freundschaftlichen Verweigerungen nahm ichs an.

Noch eins, sagte er: Mein Sohn wird im Feste zu mir kommen und nebst andern Freunden, die Sie schon kennen, auch seine Braut mitbringen, die müssen Sie sehen, und mir Ihr Urtheil sagen, ob die Person auch für ihn sei? Sie müssen daher den zweiten Pfingsttag, wenn wir unsere Arbeiten gethan, bei mir zu Mittage essen. Ich versprach, mit meiner Frau zu kommen.

Den ersten Feiertag schrieb er an mich: Freund! es bleibt doch bei ihrem Versprechen, Morgen Mittag zu uns zu kommen? Da ich aber noch einige Amtsverrichtungen habe und zuletzt der H.. nahe bin, meine Kinder aber gern da zu Mittage essen wollen, so habe ich ihnen dieß Vergnügen nicht versagt, und unser Mittagsbrod da besorgt, [49]aber mit dem Beding, wenn Sie mit ihrer Frau und Sohn uns dahin folgen wollen.

Ich versprach es, und wir entschlossen uns, nach verrichteter Feiertagsarbeit dahin zu reisen.

Den zweiten Feiertag gegen Morgen träumt mir, ich würde von den beiden Kindern meines Freundes nach R.. gerufen, um sie bei ihrem harten Schicksal aufzurichten, da sie in Gesellschaft ihres Vaters nach der H.. gereist und jenseit der G—brücke durch die scheugewordenen Pferde umgeworfen, ihr Vater mit dem Kopf an einen am Wege stehenden Fichtenbaum geschlagen, ihn zerschmettert und er ohne einen Laut von sich zu geben, todt liegen geblieben sei.

Mein Traum versetzte mich sogleich nach R.. in das Haus meines Freundes. Ich fand darin eine ziemliche Anzahl verschiedener aus seiner Gemeine, die ihren Prediger, der bei allen in so grosser Achtung stand, mit vielen Thränen beklagten.

Der damals daselbst wohnende A. R. H. kam mir entgegen und sagte: Ach welcher traurige Anblick ist hier! Ihr Freund ist todt — und es ist gut, daß Sie kommen, wir wissen nicht mehr, was wir mit den Kindern unseres Freundes machen sollen, die über den so unglücklichen Tod ihres Vaters ganz untröstbar sind.

Der A. B. kam dazu und führete mich zu meinem verunglückten Freund, der auf einem Tisch lag, und an dessen Kopf deutlich zu sehen war, daß er [50]mit dem Kinn auf einen spitzigen Zacken gefallen, der durch den ganzen Kopf gedrungen, und bei der Schläfe wieder herausgekommen war.

Ich suchte die Tochter meines seeligen Freundes und fand sie auf einen Lehnstuhl ohne Trost, den Sohn aber in gleicher Lage, in dem Hause des B. A. R. Fl...

Ich kehrete zu meinem todten Freund zurück, und suchte noch einige, die darüber heftig beunruhigt waren, aufzurichten, mir selbst aber flössen die Thränen darüber aus den Augen, daß ich nicht im Stande war, weiter zu reden.

In dieser Lage kam meine Frau vors Bette und weckte mich. Es hat schon sechs geschlagen, sagte sie, wie schläfst Du denn heute so sanft? — Du wirst aufstehen müssen, der Wagen wird schon zurechte gemacht, um nach der Kirche zu fahren.

Die Thränen liefen mir noch häufig aus den Augen, und ich sagte: Ach welchen traurigen Scenen entreissest du mich! Was ist Dir denn, sagte sie, Du weinst ja? Ich antwortete ihr: ich reise heute nicht nach R... Sie bemerkte meine heftige Unruhe, trocknete mir die Thränen ab, und ließ nicht nach, mich zu bitten, ihr meine Beunruhigung zu erzählen.

Ja, sagte ich, sogleich, laß mich nur erst aufstehen, und etwas erholen. Ich stand auf, und erzählete ihr beim Anziehen meinen ganzen Traum, der mir aber selbst immer trauriger wurde, je mehr ich ihn überdachte.

[51]

Es blieb indeß dabei, nicht nach R.. zu reisen, und wenn ich mich dazu entschliessen wollte, so überfiel mich jedesmal ein kalter Schauer.

Ich reiste nach meinem Filial und predigte. Aber das Bild meines verunglückten Freundes schwebte mir unablässig vor den Augen. Ich kam zurück und predigte auch in hiesiger Kirche, aber noch immer in derselben Unruhe.

Meine Frau, der die Gegend, wo wir zu Mittage essen sollten, so schön beschrieben war, und schon lange gewünscht hatte, sie zu sehen, setzte aufs neue an, mich zu bereden, mein mündlich und schriftlich gegebenes Wort — und noch dazu um eines Traums willen, nicht so leicht zu übersehen — auch wäre die Küche schlecht besorgt, da sie nicht geglaubt, daß wir zu Hause essen würden.

Aber ich war dießmal — und vielleicht zum erstenmal in meinem Vorsatz unerbittlich und überwand alle die Vorwürfe, die ich mir größtentheils selbst machte, mit einer Art von Hartnäckigkeit, in der ich dießmal nur allein einige Beruhigung fand.

Ich wollte einigemal fortschicken, um meinen Freund zu warnen und mich zu entschuldigen, ich wußte aber nicht, wo er anzutreffen seyn würde? Und ausser den schon erwähnten und mir selbst gemachten Vorwürfen hielt mich das Gespötte eines Mannes zurück, von dem ich wußte, daß er mit [52]in der Gesellschaft seyn würde, der mir in vielen Stücken zu neu dachte, und zu alt spottete.

Meine Frau, die mich noch nie so beunruhigt gesehen hatte, vergaß beinahe unsern Freund und meinen Traum und war nur für mich besorgt, in Meinung, es würde mir selbst etwas widriges begegnen.

Sie folgte mir auf allen Tritten nach. Wir assen ein kleines Mittagsbrodt, so viel die kurze Zubereitungszeit verstattete — wenigstens beobachteten wir das äusserliche, und mein Sohn aß für uns beide.

Nach dem Essen bat ich meine Frau mit mir aufs Feld zu gehen und wir gingen zwei Stunden, aber doch immer mit gutem Bedacht dahin, wo sich der Weg nach R.. meinem Gesichte nicht ganz entzog. Wir gingen zu Hause und ich bat mir sobald als möglich Kaffee zu verschaffen.

Auf Bitte meiner Frau entkleidete ich mich, und sie fing an, einige häusliche Angelegenheiten zu besorgen.

Meine Unruhe aber, die ich selbst vor meiner Frau, die mir heftig darüber bekümmert zu seyn schien, verbarg, ließ nicht nach.

Ich zog mich aufs neue an, und sie fragte mich, wo ich denn schon wieder hinwollte? Ich sagte, ich wollte einen Kranken besuchen und so-[53]dann mit unserm Sohn das Sommerfeld besehen, da ich heute so grosse Lust zu spatzieren hätte.

Sie bat mich inständig, nur dießmal den Krankenbesuch einzustellen, und vielmehr für meine eigene Gesundheit zu sorgen, ins Feld wolle sie selbst mit mir gehen.

So schwer ihr dieser abermalige Spatziergang werden mußte, da sie erst von einem zwei Stunden langen, mit mir zurückgekommen war, so nahm ich doch an dem Tage auch dieses Anerbieten an.

Wir gingen fort, und beim Weggehen sagte ich meinen Leuten: Wir gehen wieder ins Feld, und wenn unterdeß jemand aus R.. kömmt, so könnt ihr uns in den Erbsen oder Gerste finden, kommt sodann sogleich und ruft uns. Wir besahen die Erbsen und die erst aufgehende Gerste.

Wir kehreten wieder zurück, und wie wir beinahe das Dorf erreicht hatten, so sahe ich meine Magd kommen. Meine Seele, die mit nichts als mit meinem verunglückten Freund zu thun hatte, war nur begierig diese Nachricht von einem andern zu hören, und es war mir, als könnte ich nicht irren, daß mir die Magd nicht die Nachricht von der ganzen Erfüllung meines Traums brächte.

Da haben wirs, sagte ich zu meiner Frau — die bringt uns Nachricht aus R.. von unserm verunglückten Freund.

[54]

Meine Frau beantwortete mir dießmal meine ungewöhnliche Uebereilungen mit nichts als einem tiefen Seufzer. Gott! sagte sie endlich, was wird noch aus dem heutigen Tag werden! Ich konnte indeß die Zeit nicht erwarten, sondern rief ihr schon einige dreissig Schritte entgegen: bringst Du mir Nachricht aus R..? Ja, antwortete sie mir, Sie möchten doch so gütig seyn, und noch heute dahin kommen. Es war ihr verboten, mir den ganzen Vorfall zu sagen, und ganz umständlich wuste sie ihn auch nicht. Ich fragte: was soll ich denn heute in R.. machen? sie antwortete mir: Sie sollen für den Hrn. Pr. ein Kind taufen.

Und warum thut er das nicht selbst? fragte ich. Sie antwortete: er kann nicht. Freilich, sagte ich, kann er nicht, denn er ist todt. So, wissen Sie das schon? sagte sie, und ich solls Ihnen nicht sagen! —

Ja, sagte ich, ich weiß es — und er ist in der Heide verunglückt, nicht wahr? Das kann ich nicht sagen, erwiederte sie, daß er aber todt sey, sagte der Bote, verbot mir aber ausdrücklich, es Ihnen zu sagen, sondern einen andern Vorwand zu machen, warum Sie hinkommen sollten.

Ich stutzte bei dieser Nachricht, und meine Frau stand ganz betäubt. Ists möglich, sagte sie, einen solchen Traum, der mir heute schon so viel Angst und Sorgen gemacht hat, schon erfüllet zu sehen! — Wir träumen heute wohl alle — und [55]wollte Gott! wir träumten, so hätten wir unsern Freund noch.

Ich befahl der Magd voranzugehen und dem Knecht zu sagen, daß er anspannen sollte, um uns sogleich nach R.. zu fahren. Wir fanden den Boten noch da, der uns die Nachricht von unserm verunglückten Freund mit den Worten brachte, als ich sie schon im Traum erhalten, und meiner Frau erzählt hatte, nur mit dem Beisatz, daß er die Zeit bestimmte, wenn dieser unglückliche Fall geschehen sei, nemlich heute Nachmittag gegen fünf Uhr.

Die Pferde standen vor dem Wagen, wir setzten uns, wie wir gingen, ein, und fuhren dahin. Meine präsagische Seele hatte mich schon mehrmals was voraussehen lassen, was genau eingetroffen, aber noch nie eine Sache, so deutlich und umständlich, als diese, in welcher so zu reden die Probe so vollkommen war, als die Tragödie selbst.

Wir kamen dahin. Mir schauderte die Haut vor jedem neuen Auftritt, den ich immer schon vorher wußte, und meiner Frau aus meinem erzählten Traum auch schon bekannt waren, da nicht einmal eine Veränderung des Anzugs von mehr als hundert Personen anzutreffen war, sondern jeder so erschien, als er mir schon eilf Stunden vorher erscheinen mußte. Meine Frau, die mich den ganzen Tag mit einer ängstlichen Unruh bei meinen vermeintlich un-[56]gewöhnlich abergläubischen Phantasien, betrachtet hatte, sahe mich nun bei der traurigen Erfüllung alles dessen, was und wie ichs ihr vorhergesagt, für einen halben Gott an.

Kurz, mein Freund war todt, und er war um fünf Uhr Nachmittag so gestorben, wie ich es früh um sechs Uhr nach allen Umständen im Traum vorher sahe.

Hat nun die Seele nicht ein Vorhersehungsvermögen? Hatte es nicht die Seele meines Freundes, der bei den muntersten Kräften seines Leibes und der Seele so viel von seinem nahen Tode sprach? Hat es wenigstens nicht meine Seele, die des Morgens um sechs Uhr etwas voraussieht, was Nachmittag um fünf Uhr erfolgt, aber durch keine Muthmaßungen oder Vernunftschlüsse herausgebracht werden konnte?

Ulrici.

V.

Die Nichtigkeit des Ahndungsvermögens oder sonderbare Wirkungen eines melancholischen Temperaments.

F. G.

—— Da dieser Gegenstand noch von so vielen Dunkelheiten begleitet wird, und ich Ursach zu haben glaubte, an einem solchen Ahndungsvermögen der Seele zu zweifeln, so kann man leicht denken, [57]wie angenehm mir's seyn mußte, als sich mir vor einigen Jahren eine Gelegenheit darbot, einige Erfahrungen hierüber zu machen. Ich wurde nemlich mit einer Frau bekannt, die mich in der Folge durch so manche sonderbare Auftritte oft in Verwunderung gesetzt hat, und deren Bekanntschaft mir in dieser Rücksicht immer merkwürdig seyn wird. Sie war eine Frau im mittlern Alter, von gesetztem Charakter, gutem Verstande, und was ich immer an ihr bewunderte, ziemlich frei von Vorurtheilen und Aberglauben.

Dabei hatte sie vermöge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in düstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wünschen konnte.

Ich mogte ungefähr etwas über ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte.

Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewöhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je näher der Abschied heranrückte.

[58]

Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Mühe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Unglück zustossen würde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages über, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe.

Da die jetzige Lage ihres Gemüths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich hätte zweckmäßig mit ihr über diesen Auftritt unterreden können, so nahm ich mir vor, einen günstigem Zeitpunkt abzuwarten.

Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, darüber zu sagen, doch nicht in einem lächerlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemüthsart oft auf immer verdächtig und wohl gar verhaßt machen kann.

Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt hätte, ohne nur jemals eine ähnliche Traurigkeit und Angst gefühlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Unglück zustoßen könnte, in ihr aufgestiegen [59]wäre, hätte er auch gleich solche Gewißheit für sie erlangt, daß sie sich bis jetzt seiner noch nicht entledigen könnte. Ich, weit entfernt, dieß für eine wirkliche Ahndung zu halten, suchte alle Gründe auf, die mir Erfahrung und Räsonnement an die Hand geben konnten, ihr die Nichtigkeit ihres Phantoms, wofür ich es hielt, zu beweisen, aber ich richtete nicht viel mehr damit aus, als daß sie sagte: sie wollte wünschen, daß sie sich getäuscht hätte. —

Ungefähr nach einem Vierteljahr, da ich einmal des Nachmittags sie zu besuchen kam, fand ich sie sehr traurig, und da ich nach der Ursach fragte, gab sie mir einen Brief, den sie heute aus L... von ihrem Vetter erhalten hatte, mit den Worten: da lesen Sie die Widerlegung einer ihrer Meinungen.

Ich las und erstaunte, als es eine Nachricht von einem sehr unglücklichen Vorfall war, der sich mit dem jungen Menschen zugetragen hatte, und der zugleich seiner ganzen Familie einen Schlag versetzte*) 1. Ich war also dem Anschein nach durch den Erfolg überwiesen worden, daß meine Freundin eine wirkliche Ahndung gehabt hatte. Ich gesteh' es: dieser Vorfall machte mich anfangs stutzig, ich untersuchte noch einmal aufs genaueste, ob sie nicht etwa auf irgend eine Weise wenigstens entfernt etwas von der unglücklichen Begebenheit nach [60]einigen wahrscheinlichen Gründen hätte vorhersehn können, aber ich erhielt von meiner Untersuchung nur aufs Neue die Ueberzeugung, daß dieß auf keine Art möglich gewesen sei.

Allein vielleicht, dacht' ich, hat sie irgend einen andern verdrüßlichen Vorfall vermuthet, und diese Vermuthung hat ihre damalige Traurigkeit und Angst verursacht, in welchem Fall denn ihre Ahndung sehr erklärbar wäre. Um auch hierüber etwas Zuverlässiges zu erfahren, dacht' ich erst selbst hin und her, ob ich nicht dieß oder jenes auffinden könnte, davon meine Freundin hätte vermuthen können, daß es ihr oder ihrem Vetter zustoßen würde, aber ungeachtet ich sehr gut mit der ganzen Verfassung und fast mit allen Personen dieser Familie bekannt war, könnt' ich doch nichts dergleichen ausfindig machen.

Ich befragte sie nun durch allerlei Umwege selbst darum, aber auch hier war das Resultat meiner Bemühung dasselbe.

Versichert, daß ich nun das Faktum ziemlich ausser Zweifel gesetzt hatte, wußt' ich anfangs selbst nicht, was ich davon halten sollte. Alle Umstände genau erwogen, schien es, daß ich nicht anders umhin könnte, ich müßte diese Erscheinung für eine wirkliche Ahndung halten, deren Ursprung ich in nichts andern, als in einem Ahndungsvermögen der Seele zu setzen hätte.

[61]

Allein so geschwind konnt' ich mich nicht entschliessen, eine Meinung anzunehmen, gegen die sich noch zur Zeit so viel triftige Gründe anführen lassen. Denn einmal ist es doch gewiß sonderbar, daß dieß Vermögen (in dem Fall, daß es ein solches geben sollte) so wenigen Menschen zu Theil geworden ist, so daß man es von jeher für eine sehr seltene Erscheinung hat halten müssen.

Ist dem Menschen eine solche Fähigkeit nützlich, und das müßte sie doch nach den ewigen Gesetzen der Natur seyn, wenn sie mit der Weisheit Gottes bestehn sollte, so frägt sichs, warum dieß nützliche Geschenk so vielen Tausenden ganz und gar versagt worden ist?

Hier könnte mir freilich mancher feindistinguirende Kopf einwerfen, daß dieß Vermögen eigentlich niemanden fehlte, sondern daß es sich nur nicht bei allen wirksam bezeigte. Aber mit Erlaubniß aller der Herren, die dieser subtilen Art von Distinktionen zugethan sind, mögt' ich wohl fragen, durch welche Offenbarung sie denn den Unterricht von dem Daseyn eines solchen Vermögens bei allen Menschen erhalten haben, weil bekanntlich die Existenz eines Dinges, das sich so geradezu mit leiblichen Augen nicht schauen läßt, doch nur aus seinen Wirkungen erkannt werden kann?

Meinten sie aber, daß weil es sich bei einigen Menschen findet, man folglich schliessen könnte, daß es alle übrigen auch hätten, so machen sie sich hier [62]der petitio principii schuldig, indem ihr Beweiß gerade das Ding ist, darum noch gestritten wird.

Wer würde wohl sagen, daß ein Wesen, das nie gedacht hat, Verstand hätte? Oder um noch ein besseres Beispiel zu geben, wenn einer von den besagten Herrn in einer Gesellschaft wäre, wo es nun weder etwas zu distinguiren gäbe, noch daß von einer neuen Edition irgend eines alten Schriftstellers, noch von römischen und griechischen Antiquitäten auf eine seichte Art gesprochen würde, und er sich folglich bei so bewandten Umständen entschliessen müßte, keinen Laut von sich hören zu lassen, würde er da nicht für die Gesellschaft so gut, als nicht da seyn? Und wenn er nun durch irgend einen Talismann seine pedantische Figur noch dazu verunsichtbaren könnte, würde es da nicht vollends unmöglich seyn, seine Gegenwart zu beweisen?

Alles sehr handgreiflich, denk' ich, allein da es nun einmal im 18ten Jahrhundert noch Gelehrte giebt, die vor übermäßiger Gelehrsamkeit sehr oft das handgreifliche für unbegreiflich halten, so muß man sich schon darin fügen, daß man sucht, ihren etwanigen nonsensikalischen Einwürfen schon im voraus zu begegnen, um den werthen Herren aus christlicher Liebe Papier und Dinte zu ersparen.

Wenn es also nicht geläugnet werden kann, daß man bei den mehresten Menschen auch nicht die geringste Spur von einem Ahndungsvermögen an-[63]trift, so glaub' ich, daß man hieraus schon mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthen kann, daß die angeblichen Ahndungen mancher Personen in ganz andern Dingen ihren Grund haben.

Es giebt für das menschliche Geschlecht, so wie für alle übrigen Gattungen von Geschöpfen gewisse allgemeine Eigenschaften, worin jedes Individuum mit dem andern seiner Art übereinkommt.

So haben alle Menschen Urtheils- Gedächtniß- und Imaginationskraft, obgleich die Verschiedenheit des Körperbaues, feinere Nerven und Gehirnfibern, oder eine etwas andre Lage derselben und mehrere dergleichen Ursachen, nebst fortgesetzter Uebung dieser Vermögen einen ausserordentlichen Unterschied in den Graden der Stärke und Schwäche derselben verursachen. Dieß findet sich aber bei dem angeblichen Ahndungsvermögen anders, und folglich kann es gewiß nicht zu dieser Klasse der allgemeinen Eigenschaften gerechnet werden.

Untersucht man anderntheils die Beschaffenheit desselben, so muß es der Vernunft allerdings etwas fabelhaft scheinen, daß ein Mensch künftige Ereignisse vorhersehn könne, ohne sich im geringsten ihrer Ursachen bewußt zu seyn. Ich gestehe ein, ich habe hiervon keinen Begrif, und ich glaube, daß selbst Gott auf diese Weise das Zukünftige nicht vermögend ist, vorauszusehn.

[64]

Es ist zwar zwischen Gott und uns ein zu ungeheurer Abstand, als daß wir im Stande wären, von seinen Eigenschaften und besonders von ihrer Wirkungsart etwas Gewisses zu sagen, und ich bin ganz der Meinung, daß unsre meisten Erkenntnisse davon nur schwache Vermuthungen sind.

Aber von diesen Vermuthungen verdienen doch die ganz natürlich den ersten Rang, die uns am begreiflichsten und der gesunden Vernunft am gemässesten sind. Welche von beiden Meinungen ist nun aber wohl die vernünftigste, die: daß Gott das Zukünftige voraussieht, indem er, als Urheber der Welt, auch das kleinste Triebrad in dieser wundervollen Maschine kennt, indem er in den ganzen Plan derselben, in den Zusammenhang aller ihrer Theile hineinschaut, und in der Vergangenheit die Ursachen der Gegenwart, und in dieser die Ursachen der Zukunft mit alles umfassendem Blick übersieht, oder die: daß er die Reihe künftiger Begebenheiten voraussehn könnte, ohne nöthig zu haben, mit ihren Ursachen bekannt zu seyn? Jeder, denk' ich, wird sich hier ohne Anstand zu der ersten Meinung bekennen, und da wir also sogar an Gott eine solche Art des Vorhersehns unbegreiflich finden, wie unendlich mehr muß dieß bei dem Menschen der Fall seyn?

Rechnet man hierzu noch, daß ein solches Ahndungsvermögen den Menschen überdem weit mehr zum Unglück, als zum Glück gereichen würde, so [65]muß man vollends an seiner Existenz zweifeln. Denn da wir nur voraussähn, daß uns etwas Unglückliches begegnen würde, in der Beschaffenheit desselben aber unwissend blieben, so wären wir ausser Stand, Vorkehrungen dagegen zu machen.

Wozu könnte uns also diese Kenntniß anders nützen, als uns zu martern, und uns schon eine lange Zeit vorher, ehe uns das Uebel beträfe, zu unsern Geschäften untüchtig zu machen, und alle die kleinen Freuden, die sich uns in der Zeit etwan darboten, entweder zu rauben, oder zu vergiften. Und wie oft trift unsre entfernten Verwandten ein Unglück, das uns auf viele Tage die Ruhe stehlen würde, wenn wir es ahndeten, das uns aber nachher, wenn wir hören, daß es glücklich vorübergegangen ist, die lebhafteste Freude einflößt.

So giebt es tausend Fälle im menschlichen Leben, wo uns ein Ahndungsvermögen zur höchsten Qual gereichen würde, dahingegen man nur weit weniger anführen kann, wo es uns zum Nutzen gereichte, und der Urheber der Natur sollte uns eine solche Eigenschaft gegeben haben?

Wir haben zwar einige Erfahrungen, die ihr Daseyn zu beweisen scheinen, allein davon sind die wenigsten untersucht, und die es sind, sind doch bei weitem noch nicht dergestalt ausser Zweifel gesetzt, daß man sie, als sichre Beweise gebrauchen könnte.

Die meisten hingegen sind Erzählungen, für deren Wahrheit ich mich keineswegs verbürgen [66]möchte. Wie es damit geht, ist bekannt: wie leicht können nicht einige kleine, für das Ganze aber beträchtliche Umstände weggelassen, andre hinzugesetzt, andre vergrössert seyn: denn wie Sulzer irgendwo sehr richtig und schön sagt, wunderbare Vorfälle wachsen, indem sie von Mund zu Mund gehn, wie ein Schneeball im Fortwälzen, und so kann eine Geschichte, wenn sie der zwanzigste erzählt, schon so verunstaltet seyn, daß der erste, der sie ausgab, Mühe haben würde, sie für die seinige zu erkennen.

Ueberdem ist es ein anders, einen merkwürdigen Vorfall bloß aus Neugierde untersuchen, und ein anders, ihn, als ein Faktum untersuchen, das man zur Grundlage eines philosophischen Räsonnements gebrauchen will, und diese letzte Absicht möchte denn wohl nicht jedermanns Ding seyn.

Also auch die über diesen Gegenstand gesammelten Erfahrungen sind nicht vermögend, uns von unsern Zweifeln dagegen zurückzuhalten, und vielleicht setzen uns gründlichere Beobachtungen bald in den Stand, uns von ihrer Nichtigkeit insofern zu überzeugen, daß alle die bisherigen sogenannten Ahndungsphänomene nicht aus einem Ahndungsvermögen, sondern aus ganz andern Ursachen entsprungen sind. Der Ausspruch des Horaz

Prudens futuri temporis exitum

Caliginosa nocte premit Deus! a

behauptet daher für jetzt immer noch sein altes Ansehn.

[67]

Nach einer kurzen Rekapitulation dieser Gründe hielt ichs der Vorsicht gemäß, mein Urtheil über die vermeinthliche Ahndung meiner Freundin zur Zeit noch aufzuschieben, und abzuwarten, ob ich nicht noch mehrere Erfahrungen dieser Art machen könnte.

Ich nahm mir vor, das Betragen der Frau noch genauer zu beobachten, als es bisher geschehn war, um mich noch mehr von ihrer Denkungsart und besonders von den mancherlei Wirkungen ihres melancholischen Temperaments zu unterrichten, in der Hofnung, vielleicht auf diesem Wege die Quelle ihrer angeblichen Ahndung zu entdecken.

Ich war begierig, ob sich nicht etwa einmal der Fall ereignen würde, daß ihre Vorempfindung eines Unglücks ohne Erfolg bliebe, alsdann glaubt ich mich im Stande zu sehn, desto gründlicher von dem gehabten Auftritt urtheilen zu können.

Es vergingen einige Monathe darüber, ohne daß etwas Merkwürdiges vorfiel. Endlich trafs sichs, daß sie eines Tags, da sie auch sehr traurig war, und durch nichts konnte aufgeheitert werden, in meinem Beiseyn einen Brief erhielt. Ohne ihn nur angesehn zu haben, sagte sie schon im zuversichtlichsten Tone: daß er ganz gewiß ein unglückliche Nachricht für sie enthalten würde, und daß dieß gewiß die Ursach ihrer den ganzen Tag über gehabten Angst gewesen wäre.

Sie erbrach den Brief, und wie wunderte ich mich, als er wirklich eine verdrüßliche Nachricht [68]für sie enthielt. Ich fragte sie, ob sie vielleicht schon etwas davon gewußt, oder einen andern unangenehmen Vorfall vermuthet hätte, aber sie bewieß mir die Unmöglichkeit des erstern, aus Gründen, denen ich meinen Beifall auf keine Weise versagen konnte, und von dem letztern behauptete sie, daß sie mit Wahrscheinlichkeit sich auch nicht des geringsten Widrigen hatte gewärtig seyn können.

Ich sprach nach einiger Zeit die Person, von der der Brief war, und erhielt in Rücksicht des erstern dieselbe Versicherung. Ich war also auch hier überzeugt, daß ich nichts versäumt hatte, um die wahren Umstände dieses Vorfalls auszumitteln.

Jetzt war nun dem Ansehn nach kein andrer Rath übrig, als alle meine Zweifel fahren zu lassen, und geduldig die Wirklichkeit eines Ahndungsvermögens zu bekennen. Zwei so merkwürdige, und wie ich wohl sagen darf, mit einiger Genauigkeit untersuchte Fakta, verdienten allerdings Aufmerksamkeit, und ich gesteh' es, ob sie mich gleich nicht von allen Zweifeln gegen ein Ahndungsvermögen befreyen konnten, so hätten sie mich doch natürlicher Weise etwas wankend machen müssen.

Allein die mehreren Kenntnisse, die ich indessen von dem Charakter meiner Freundin eingesammelt, und eine Bemerkung, die ich bei dem letztern Vorfall zu machen Gelegenheit gehabt hatte, sicherten mich nicht nur dafür, sondern brachten mich auch auf eine Vermuthung, die bald zur [69]Wahrscheinlichkeit, und in der Folge durch überzeugende Beweise zur Gewißheit erhoben wurde.

Es ist bekannt, daß Aengstlichkeit eine von den Haupteigenschaften des melancholischen Temperaments ist; man trift sie bald in einem stärkern, bald in einem geringern Grade an, je nachdem die Mischung des Temperaments verschieden ist. Der Melancholiker empfindet oft ihre Wirkung in ihrer ganzen Stärke, er bildet sich Gefahren und Schrecknisse ein, wo entweder gar keine anzutreffen sind, oder wo sie wenigstens nur in Kleinigkeiten bestehn.

Bei geringen Anlässen hält er sich zuweilen schon für verloren, und wenn manchmal eine Ursach im Körper, oder eine äussere Ursach ihn vorzüglich zur Traurigkeit gestimmt haben, so sieht er oft jeden, der sich ihm naht, für einen Schreckensbothen an.

Ich habe einen solchen Menschen in dieser Stimmung sogar das freundliche Lächeln seines Freundes für verdächtig erklären hören, weil es sich gerade traf, daß dieser lächelte, als jener etwas erzählte, wo er sogleich argwöhnte, daß dieser etwa seine Erzählung lächerlich finden möchte.

Noch mehr Bemerkungen hierüber hab' ich — aber bei meiner Freundin gemacht, die, wie ich schon oben erwähnt habe, sehr melancholischen Temperaments war.

Befand sich ihre Seele in dieser traurigen Stimmung, so waren alle ihre Ideen in die schwar-[70]ze Farbe der düstern Melancholie gekleidet; alles sahe sie dann aus einem traurigen Gesichtspunkt an, sie erwartete nichts als Unglück, und ihre Phantasie war alsdann über alles geschäftig, tragische Bilder aufzuhäufen.

Was sie sonst entzückt hatte, gab ihr jetzt Gelegenheit, sich in düstre Betrachtungen zu vertiefen, und so unerträglich dieser Zustand des überspannten Trübsinns für sie war, so wenig war es doch in ihrer Gewalt, auch sogar in der fröhlichsten Gesellschaft, sich davon loszumachen.

Ein Grund, wie mich dünkt, wie ungerecht es seyn würde, solchen Personen das Verdammungsurtheil zu sprechen, die in dergleichen, vielleicht noch durch wirkliches Elend verstärkten Anfällen, verzweiflungsvoll ihrer Laufbahn auf dieser Welt ein Ende machen ——

An dem Tage nun, da meine Freundin den Brief erhielt, befand sie sich gerade in einer solchen traurigen Lage, so wie auch damals, als sie sich von ihrem jungen Verwandten trennte. Allein dießmal wußt ich, waren verschiedene Ursachen vorhergegangen, die sie zu dieser melancholischen Laune herabgestimmt hatten, wozu vielleicht noch eine schlechte Verdauung, oder eine andre physische Ursach beigetragen haben mochte.

Da ich also hier die Ursachen ihrer Traurigkeit wußte, und es mir sehr widersinnig schien, diese ohne Grund fahren zu lassen, und alles auf die Rech-[71]nung einer unerwiesenen Ahndung zu schreiben, so gerieth ich ganz natürlich auf den Gedanken, ob es nicht weit vernünftiger und wahrscheinlicher sey, daß die vermeynte Ahndung vielmehr nichts anders, als die Wirkung ihrer Traurigkeit gewesen sey? Je mehr ich diese Meynung untersuchte, und mit meinen hierüber gesammelten Erfahrungen verglich, je mehr gewann sie an Wahrscheinlichkeit.

Ich war oft ein Zeuge gewesen, wie sehr diese Frau in einem solchen Anfall der Melancholie alles verdächtig fand, und oft von den gleichgültigsten Dingen Unglück erwartete, war es nun nicht sehr natürlich, daß sie dieses von dem überdieß etwas unverhoft erhaltenen Brief auch glaubte, da sie aus eigner und fremder Erfahrung wußte, daß Briefe zuweilen unglückliche Nachrichten enthalten? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß dieß eben der Fall bey dem Auftritt mit ihrem Vetter war? Ihre Seele war damals in dieselbe Traurigkeit versenkt, die gewiß von nichts anderm, als von der Vorstellung des Abschiedes herrührte.

Nichts ist aber gewöhnlicher, als daß man sich bey solcher Gelegenheit allerley Einbildungen macht, daß man vielleicht die geliebte Person nicht wiedersehe, oder daß ihr oder uns ein Unglück zustoßen möchte u.s.w., welches bey einem düstern und ängstlichen Charakter in einem hohen Grade Statt finden muß, da man es sogar bey den heitersten Personen antrift.

[72]

Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Unglück begegnen würde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemüths gemäß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Ideen bemächtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage übereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natürliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so äußerst lebhaften Gemüthszustandes.

Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kümmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufällig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfälle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstände nur oft in die Lage gesetzt werden, zukünftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen.

Es ist damit eben, wie mit dem Argwöhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natürlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegründet, aber niemand hält ihn deshalb für einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al-[73]ler der Personen, bei denen sein Argwohn eingetroffen ist, wirklich gekannt habe.

Die beiden scheinbaren Ahndungsphänomene meiner Freundin waren also weiter nichts, als Wirkungen ihres melancholischen Temperaments gewesen. Ich wurde hiervon in der Folge noch deutlicher überzeugt, da mein fortgesetzter Umgang mit ihr mir Gelegenheit gab, noch verschiedene Erfahrungen zur Bestätigung meiner Meinung zu machen.

So dachte sie zum Beispiel einmal in einer langen Zeit, wo verschiedene Familienumstände und andre Dinge sie in einer beständigen Zerstreung und Heiterkeit erhielten, an keine Ahndung eines Unglücks, ohnerachtet ihr in der Zeit verschiedene verdrießliche Unfälle begegneten.

Auf der andern Seite sah ich sie hernach einmal wieder in jenem Zustand der Traurigkeit, wo sie den Ausgang einer ihrer Angelegenheiten im voraus mit Gewißheit für unglücklich erklärte, da nachher gerade das Gegentheil erfolgte.

Genug, es ist mir jetzt kein Zweifel mehr übrig, daß jene Erscheinungen nur bloß von einem überspannten, aus dem Temperament herrührenden Trübsinn verursacht wurden, und auch sehr wohl [74]daraus hergeleitet und erklärt werden können. Ich glaube hierbei die Vermuthung wagen zu dürfen, daß es wahrscheinlich um die meisten Ahndungsgeschichten dieselbe, oder eine andre eben so natürliche Beschaffenheit haben würde, wenn man sich nur die Mühe gäbe, sie gehörig zu untersuchen.

In dieser Rücksicht glaub' ich, daß wenn ich mir auch von meinem Aufsatz keinen andern Nutzen versprechen könnte, ich mir doch wenigstens schmeicheln darf, die Wahrheit dadurch aufs neue einleuchtend gemacht zu haben, daß in dergleichen Fällen Vorsicht und Sorgfalt bei ihrer Untersuchung nicht leicht zu weit getrieben werden kann, weil dabei so viel betrüglicher Schein vorhanden ist — Und diese Wahrheit allein verdiente es schon, die Feder angesetzt zu haben.

F. G.

Fußnoten:

1: *) Man wird mir verzeihn, daß ich nicht die nähern Umstände davon angeben kann, weil ich sonst den dabei interessirten Personen zu nahe treten müßte.

Erläuterungen:

a: Carmina (Oden), Buch 3, Ode 29, Zeile 29f. "Gott hat, was künftig soll geschehen, / Nach weisem Rath mit Finsterniß bedecket." Solms-Wildenfels 1756-1760, Bd. I, S. 229 (1756); auch Bd. III, S. 229 (1757).

[75]

Zur Seelennaturkunde.

I.

Ueber den Anfang der Wortsprache in psychologischer Rücksicht.

Pockels, Carl Friedrich

Fortsetzung.
(Siehe das vorhergehende Stück.)

Merkwürdiger und wichtiger als alle spekulative Untersuchungen über den Ursprung der Sprache überhaupt, ist für die Aufmerksamkeit des Seelenbeobachters der Anfang, und die Entwicklung der Kindersprache.— Hier hat er den Menschen selbst vor sich, nicht den Menschen, der, wer weiß, vor wie viel Jahrtausenden, in welchen Umständen, und auf welcher Stufe seiner Kultur, die Sprache erfunden haben mag, — und hier darf er nicht fürchten, wenn er anders richtig beobachtet, daß ihn seine Bemühungen höchstens nur zu wahrscheinlichen Hypothesen führen dürften.

Wir können es hier als eine ausgemachte Wahrheit voraussetzen, daß der neugeborne Mensch ohne menschliche Gesellschaft, und ohne eine schon vorhandene Wortsprache derselben nie würde re- [76] den lernen. Wortsprache ist für den einzelnen Menschen, wie Rousseau richtig bemerkt hat, kein Bedürfniß, auch bringt das Kind keinen Trieb für sie mit auf die Welt; sondern erst nach und nach entsteht in ihm eine Neigung dazu, indem es andere reden hört, andere es dazu auffordern, und indem überhaupt sein Verlangen körperliche Bedürfnisse sowohl, als Empfindungen seiner Seele andern deutlicher auszudrücken, und die Summe seiner erlangten Begriffe zu ordnen, größer und dringender wird.

Die ersten Sprachausdrücke des Kindes, wenn wir die unwillkürlichen Laute seiner Stimme schon so nennen dürfen, sind entweder ein thierisches unartikulirtes Geschrei, wenn es bald einen körperlichen Schmerz, ein dringendes Bedürfniß fühlt, bald auch von einem fürchterlichen, unerwarteten Gegenstande in Schrecken gesetzt wird; — oder ein lebhaftes Jauchzen der Freude, wenn es ein gewisses Wohlbehagen in sich empfindet; ein Gefühl, das in ihm leicht durch neue glänzende Gegenstände, durch den Anblick der zärtlichen Mutter, oder auch, wie ich oft bemerkt habe, schon dadurch hervorgebracht wird, wenn man es aus einem dunkeln Orte schnell in einen hellen bringt.

Das Lachen der Kinder, welches Hippokrates, wohl etwas zu früh, gleich nach ihrer Geburt an ihnen beobachtet haben wollte, gehört mit unter [77]die ersten Aeußerungen der menschlichen Natursprache, und ich möchte noch hinzusetzen, der Vernunft. Das Bisarre und Kontrastirende in äußern Formen sowohl als in Tönen fängt frühzeitig auf sie zu würken an, und sie lachen darüber, ehe sie noch reden können; eigentlich aber lachen sie mehr aus einer in sich gefühlten starken Freude, die zunächst das Wohlbehagen ihres Körpers betriff, und bloß thierischer Art ist.*) 1

Zwischen dem Gehör des Kindes und der menschlichen Stimme herrscht gleich vom Anfange seines Lebens an die feinste Harmonie, oder wenn ich mich so ausdrücken darf, das freundschaftlichste Verständniß. Das Kind erschrickt nie vor [78]der Stimme des Menschen, so lange sie nicht übertrieben, und wider ihre Natur in schreckliche Mißtöne gezwungen wird; sondern es hört sie mit einem Wohlgefallen an, das bisweilen in ein lautes Freudengeschrei ausbricht. Wie gern läßt es sich, so munter es auch ist, durch die mütterliche Stimme in den Schlaf singen: wie begierig hört es nicht den freundlichen Worten des guten Vaters zu; wie sehr wird es schon frühzeitig durch die Klagen und Thränen anderer gerührt, sonderlich derjenigen, die es lieb hat!*) 2 — Die Stimme der Thiere hat im Gegentheil gemeiniglich eine ganz andere Wirkung auf dasselbe. Sie hat nicht das Rührende, Einnehmende, Anziehende und Verständliche für sein Ohr, als die des Menschen, es wird da-[79]durch leicht in Schrecken gesetzt, und es gehört schon einige Zeit dazu, ehe es sich in der Nähe daran gewöhnt. Ich habe Kinder ängstlich weinen sehen, wenn in der Nähe ein Lämmchen blökte, oder ein Hahn krähete, — und wahrscheinlich fürchten sich Kinder auch wohl deswegen gemeiniglich so sehr vor Thieren, weil sie anfangs die Stimme derselben nicht vertragen können. Daß sich übrigens diese dem Gehirne des Kindes tief eindrückt, ist daraus sichtbar, daß es anfangs immer das Thier so benennet, wie es schreit.

So viel von den Ausdrücken des Kindes überhaupt, ehe es noch eine würkliche Wortsprache gelernt hat! — Aber wie gelangt es nun zu dieser; mit welchen Wörtern fängt es seine Sprache an; wie vermeidet es die Verwirrung seiner Begriffe, die durch Erlernung so vieler Sprachwörter, die ihm theils geflissentlich vorgesagt werden, theils durch den Zufall zu seinen Ohren gelangen, so leicht entstehen konnte — kurz wie lernt es sich ordentlich und verständlich ausdrücken? — Fragen, die allerdings beantwortet zu werden verdienen, ob ich mich gleich hier nur im Allgemeinen damit beschäftigen kann.

Wenn wir darauf Acht geben, wie sich Kinder nach und nach durch Worte ausdrücken lernen, so werden wir finden, daß ihre Sprache nichts anders, als eine Nachahmung der Sprache derjenigen ist, die mit ihnen umgehen; selbst diejenigen [80]Wörter, die in keinem Lexiko der Sprache stehen, und die sie oft zu unserer Bewunderung selbst erfunden haben, müssen sie irgend einmal von einem mißverstandenen Tone, abkopirt, oder durch Verwechselung und Vermischung einiger Sprachsilben, vielleicht nach einer unwillkürlichen Bewegung ihrer Zunge, zusammengesetzt haben; — aber auch jene Nachahmung der Sprache fängt selten vor dem ersten Jahre ihres Lebens an, nicht aus Mangel der Begriffe; sondern wegen einer noch vorhandenen Ungelenkigkeit ihrer Sprachorganen.

Ueber die Art und Weise nun, wie sie jene Nachahmung anstellen, und nach und nach zu dem Besitz einer würklichen Wortsprache gelangen, will ich nur folgende Bemerkungen hiehersetzen.

1) Kinder fangen zuförderst allemal an, körperliche Individuen auszudrücken; aber anfangs ohne Flexion, Verbindungswörter und Artikel. Von jenen Individuen haben sich von dem Gebrauche ihrer Sinnen, sonderlich der Augen an, lange vor der Erlernung einer Sprache, lebhafte Bilder in ihrer Seele abgedrückt, sie haben sich davon durch langes Betrachten, durch Vergleichung ihrer äußern Formen miteinander, und wo es anging, selbst durch das Gefühl klare Begriffe zu schaffen gesucht, und diese Begriffe wurden nun die Grundlage aller ihrer konkreten, wie hernach ihrer abstrakten Erkenntniß. — Es war natürlich, daß sie von jenen Individuen diejenigen am ersten aus-[81]drücken mußten, die ihnen am nächsten lagen; deren besondere Gestalten die Aufmerksamkeit erregen konnten; oder die sie auch mit einem gewissen Wohlgefallen betrachteten. Eltern haben daher immer das süße Vergnügen, worauf sie mit Recht Ansprüche machen können, daß ihre Namen zuerst von den kleinen Lieblingen ihrer Herzen ausgesprochen werden. Ueberhaupt lernen Kinder das gemeiniglich am ersten ausdrücken, was eine genaue Beziehung auf die Bedürfnisse ihres Körpers hat, aber sie verfahren dabei ohne alle Ordnung. —

Es ist in der That zu bewundern, wie wenig sich Kinder bei einem Geschäfte, das ihnen doch anfangs nichts weniger als leicht seyn kann, bei Erlernung so vieler unzusammenhängender Sprachwörter, verwirren, womit ihr Gedächtniß, bei ohnehin noch so vielen verworrenen, halbreifen und ungeordneten Begriffen derselben, überladen wird; — allein es kommen ihnen, wie mich dünkt, hier gewisse vortheilhafte Umstände zu Hülfe, die jene Verwirrung verhindern, und hierher rechne ich vornehmlich die schon vorhandenen Bezeichnungen der Abstrakten, der Geschlechter und Arten; (wodurch zugleich ihre Sprache einen weit schnellern Fortgang, als die der ersten Menschen erhalten mußte) die natürliche den Menschen vermöge einer Vernunft angeborne Fähigkeit, Aehnlichkeiten zu bemerken, und denn auch vornehmlich den Unterschied, welchen die Natur in die Be-[82]schaffenheit unserer Begriffe selbst gelegt hat, indem sie jedem Sinne sein eigenes Gebiet von Begriffen anwieß, die, so nahe sie auch oft aneinander zu gränzen scheinen, doch sich nicht leicht miteinander verwirren lassen.

2) Das Kind weiß gemeiniglich schon eine große Anzahl von Substantiven auszudrücken, ehe es Verben auszusprechen pflegt, und unter diesen lernt es wiederum die am ersten, welche eine starke in die Sinne fallende Handlung, oder ein nahes Bedürfniß anzeigen, z.B. reiten, schlagen, fahren, fallen, gehen, donnern, essen, trinken u.s.w. Zuerst drücken Kinder nur immer den Infinitiv solcher Verben aus; ihr Verbum wird anfangs gar nicht conjugirt, und die Personen bezeichnen sie gemeiniglich auf eine erfinderische Art durch Gesten. Nach und nach lernen sie das Vergangene; am spätesten aber das Zukünftige ausdrücken; wahrscheinlich weil in ihnen die Idee davon immer noch etwas dunkel ist. — Wir bilden offenbar diesen Begrif erst durch einiges Nachdenken, und durch eine wiederhohlte Erfahrung, daß etwas Vorhergehendes etwas Nachfolgendes nach sich ziehen mußte, oder nach sich zu ziehen pflegte; oder daß eine gewisse Ursache unter den nehmlichen Umständen immer wieder die nehmliche Wirkung nach einer gewissen Zeitfolge hervorbringt. Durch solche wiederhohlte Beobachtungen bilden wir uns den Begrif von Zeit überhaupt, [83]und folglich auch von künftiger Zeit insbesondere; ein Begrif, den wir als klaren Begrif, wohl allein durch Hülfe der Vernunft besitzen, und der mehr als thierischer Instinkt ist. Denn je mehr sich der Mensch der thierischen Natur nähert, deren Gefühle sich nicht, oder gewiß nicht weit, über das Gegenwärtige hinaus erstrecken; je weniger seine körperlichen und geistigen Bedürfnisse werden; je mehr sich sein Nachdenken über seine eigne Existenz und mithin auch die Wißbegierde, seine künftigen Schicksale und Entwickelungen voraus zu erforschen, verliert, desto düsterer und verworrener muß auch nothwendig die Vorstellung von etwas Zukünftigen in ihm werden.

3) Die Kindersprache besteht anfangs nur aus einsilbigten Wörtern, wahrscheinlich deswegen, weil es ohne eine schon längere Uebung den Organen des Kindes schwerer wird, mehrsilbigte auszusprechen. Es pflegt daher auch gewöhnlich diese in einsilbigte zu verwandeln, oder ein solches mehrsilbigtes Wort in zwei oder mehrern Zeitintervallen auszusprechen, so wie es auch nachher bei ganzen Perioden mehrere Ruhepunkte des Redens annimmt, und sich gleichsam die Begriffe nach und nach zuzählt. Ueberhaupt bemerkt man leicht, daß ihm das Reden anfangs äußerst schwer ankommt — ein Beweis, daß Sprache eine erst zu erlangende Fertigkeit, und nichts Angebornes ist; — daß es sich oft martert, ein Wort grade wieder so [84]auszusprechen, als es dasselbe gehört hat, und daß ihm eben deswegen diejenigen Wörter am willkommensten sind, die eine weiche Aussprache haben. Kinder reden daher am liebsten in Diminutiven, und ihre Wärterinnen ergreifen durch dergleichen weiche Sprachwörter einen bequemen Weg, sie ans Reden zu gewöhnen, ob sie wohl gleich niemals über diese gute Methode philosophirt haben mögen.

4) Unsere Vorstellungen, und die Art und Neigung, sie durch Worte auszudrücken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich dünkt, merkwürdige Beziehung auf die Größe unseres Körpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstände, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was für ihn zu groß, zu ungeheuer ist, damit beschäftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es täglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf solche Sachen richten, und zunächst für sie Ausdrücke suchen, deren Größe nicht weit über die ihres Körpers hinausragt.

Wir haben die sonderbare Empfindung — so wie überhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Ideen — vergessen, nach welcher uns alle Gegenstände um uns her, wegen der Kleinheit unseres Körpers wahrscheinlich viel größer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Häuser noch eine Art hoher Gebürge in unsern [85]Augen seyn mußten; aber etwas Unangenehmes mußte wohl immer diese Empfindung für uns haben, ehe wir uns an die vielen großen Gestalten um uns her gewöhnten. Nichts konnte uns daher damals willkommen seyn, als Gegenstände, die uns an Größe gleich, oder noch kleiner als unser Körper waren; daher mit jene große Neigung der Kinder zu Kindern, und die unermüdete Liebe für ihr Spielzeug. Sie mögen gern Gegenstände um sich haben, deren Kleinheit sie zu sich einladet, an denen sie ihre Kräfte und Thätigkeit üben, und worüber sie gewissermaßen herrschen können —.

Ich breche diese wenigen unvollständigen Bemerkungen über den Anfang der Wortsprache der Kinder, die ich einandermal weiter auszuführen gedenke, und zu denen gewiß ein jeder aufmerksamer Beobachter des Menschen noch sehr viel neue hinzusetzen kann, mit einigen Gedanken ab, welche die ersten Fortschritte menschlicher Kenntniß durch Hülfe der Sprache betreffen, und in sofern noch hierher gehören.

Wir machen durch Hülfe der gütigen Natur, die uns auf eine mütterliche Art bald aus dem Schlummer unsrer Kindheit zu wecken weiß; durch den wichtigen Beistand der Sprache, und der für uns so wohlthätigen Gesellschaft der Menschen, schon frühzeitig einen nichts weniger als kleinen Fortschritt unsrer Erkenntniß. Sobald das Kind zu reden anfängt, oder im eigentlichen Ver-[86]stande ein Mensch wird, hebt es sich auch gar bald über die mechanische Einförmigkeit der Handlungen hinweg, die wir bei aller Verschiedenheit der Instinkte und der Himmelsstriche, durch das ganze Thierreich, von der Muschel bis zum Orangutang herrschen sehen. Durch die Sprache wird es ein Wesen höherer Art, eine Gottheit der Erde, ein Herr der Schöpfung, indem es alle andern vernunftlosen Geschöpfe durch den Besitz jenes vorzüglichen göttlichen Geschenks weit hinter sich zurük läßt, und die große Laufbahn des menschlichen Denkens frühzeitig beginnt, gleichsam noch in der Wiege beginnt, wenn jene maschinenähnliche Thiere oft schon halbe Jahrhunderte hindurch auf einer und eben derselben Stufe ihrer einförmigen Entwickelung stehen geblieben sind. Man erstaunt mit Recht, welch einen wichtigen Zuwachs von Kenntnissen wir schon in den ersten sechs bis acht Jahren unseres Lebens erhalten. In keiner folgenden Epoche desselben sammeln wir eigentlich wieder so viel neue Ideen, als in jener, denn in ihr lernen wir eine Sprache mit etliche tausend verschiedenen Wörtern, und deren Verbindungen, Versetzungen und Wendungen, und zwar eine Sprache, welche zugleich die weitläuftige Grundlage unsrer gesamten Kenntnisse ist, und an die sich gleichsam eine ganze Welt von neuen Gegenständen anschloß; anstatt daß wir durch Erlernung jeder andern Sprache nachher nicht neue Begriffe son-[87]dern größtentheils nur neue Wörter für schon vorhandene Begriffe bekennen. — Schade! daß wir nur alle gar zu zeitig vergessen haben, wie viel damals die Entwickelung unsrer Ideen; durch die Entwickelung unserer Sprache, und diese umgekehrt durch jene gewonnen hat; denn beide sind in einander gegründet, und ihr beiderseitiger großer Einfluß auf einander zeigt sich nachher sehr deutlich in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens und Empfindens.

Es ist leicht zu begreifen, daß Kinder von den unzählichen Sprachwörtern, womit gleich vom Anfang an ihr Ohr überladen wird, oft nur den kleinsten Theil verstehen. Sie können nicht eher bestimmte Begriffe von einer Sache haben, bis sie ihnen gezeigt wird, bis sie selbst Erfahrungen über ihre Beschaffenheiten angestellt haben. Ist aber die Menge von Wörtern womit ihr Gedächtniß frühzeitig angefüllt wird dem Fortkommen ihrer Begriffe nicht mehr höchst schädlich, als nüzlich? — Mir ist das Erstere nicht ganz wahrscheinlich. In einem gesunden Zustande unserer Seele ist uns ein dunkeler Begrif immer etwas Unangenehmes. Schon an dem Kinde sehen wir eine starke Begierde sich deutliche Vorstellungen zu verschaffen, und bemerken eine innere Unruhe an ihm, wenn es nicht zu seinem Zwecke kommen konnte. Der Trieb der menschlichen Seele, ihre Vorstellungen zu erweitern, ist ein mächtiger Trieb (und man kann [88]ihn mit Recht die einzige Grundkraft derselben nennen.) Darauf gründete Lessing sein Urtheil über das in unsern Zeiten so sehr verschriene Vokabel lernen, »wenn ich Jugend hätte, sagte er mir einst als wir auf die neuen spielenden Methoden zu reden kamen, wodurch man Kinder auf eine leichte Art zu großen Lateinern machen wollte, so sollten sie Vokabeln lernen, wie ich in meiner Jugend habe Vokabeln lernen müssen; es ist wahr! sie würden manches Wort nicht verstehen; aber eben das würde die Thätigkeit ihrer Seele zu neuen Begriffen mehr reizen, als unterdrücken — gesezt, daß es auch nur mittelmäßige Köpfe wären.«

C. F. Pockels.

Fußnoten:

1: *) Es ist nicht zu leugnen, daß Thiere, wenigstens die, welche näher an den Menschen angränzen, zuweilen ein ähnliches Gefühl der Freude haben, indem sie es deutlich genug durch ihre äußern Handlungen an den Tag legen; aber eigentlich lachen sie doch nie, so wie der Mensch, und der Grund davon liegt wohl darin, daß sie aus Mangel lebhafter und deutlicher Vorstellungen dessen, was wir lächerlich nennen, und einer feinern Einbildungskraft den hohen Grad der Freude nicht fühlen, dessen der Mensch fähig ist. Ueberdem scheint auch ihr gröberes, mit einer haarigten Haut umgebenes Gesicht, nicht einmahl zum sichtbaren Ausdruck des Lachens gebaut zu seyn. Doch bemerkt man an verschiedenen Thieren, z.B. an Hunden, wenn sie sich sehr freuen, eine Verzerrung ihrer Gesichtsmuskeln, die einem sichtbaren Lachen ähnlich sieht; so wie eine gewisse feine Modulation ihrer Stimme, die wohl nichts anders, als ein Ausdruck ihrer Freude seyn kann. Anm. d. Verf.

2: *) Wir haben es freilich wieder vergessen, wenn und in welchen Umständen die Leiden anderer zuerst auf unser Herz zu würken angefangen haben; aber gewiß ist dieses schon frühzeitig geschehen. Von unserer Geburt an sind wir selbst körperlichen Leiden unterworfen gewesen, der erste Ausdruck unserer Stimme war eine laute, weinende Klage über den mühseligen Anfang des menschlichen Lebens; wir scheinen eher einen Begrif vom Schmerz, als von Freude gehabt zu haben, und es war natürlich, daß, sobald wir die Leiden anderer bemerken konnten, in uns ein Gefühl des Mitleids gegen sie entstehen mußte, indem wir uns nehmlich dadurch bald auf eine schwächere, bald auf eine lebhaftere Art an das erinnerten, was wir gelitten hatten. Ohne diese Wiedererinnerung scheint unsere Natur damals keines Mitleids fähig gewesen zu seyn. Anm. d. Verf.

II.

Ein Dichter im Schlaf. a

Jacobi, Johann Friedrich

Der ehemalige Professor Wähner zu Göttingen hat oft von sich erzählt, daß ihm in jüngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei griechischen Versen auszudrucken.

Er beschäftigt sich ein paar Tage damit, er kann aber den aufgegebnen Gedanken ohne Nachtheil seiner Stärke nicht in zwei Verse zwingen.

Er schläft an einem Abend unter der Bemühung, diese zwei Verse heraus zu bringen, ein. [89]In der Nacht klingelt er seiner Aufwärtrin, lasset sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt die im Schlafe noch gesuchten und gefundnen zwei Verse auf, und läßt sie auf seinem Schreibtische liegen und schläft bis an den Morgen.

Da er aufwacht, weiß er von demjenigen nichts, was in der Nacht geschehen und fängt von neuem an, sich Gewalt anzuthun, um die beiden verlangten Verse zu finden; es will ihm aber nicht gelingen. Er steht mit Verdruß darüber auf, geht an seinen Schreibtisch und findet die beiden in der Nacht verfertigten und sehr wohl gerathnen Verse, und zwar mit seiner eignen Hand geschrieben. Er ruft die Aufwärterin und erkundigt sich, woher das Blatt mit den zwei geschriebnen Reihen gekommen. Diese erzählt ihm dann, was in der Nacht geschehen. Er hat sich aber dessen nie erinnern können. Er versicherte dabei, daß er den Abend vorher nichts von starkem Getränke genossen, und mit dem nüchtersten Muthe zu Bette gegangen sey.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Jacobi 1783, S. 7f.

III.

Psychologische Bemerkungen über das Lachen, und insbesondere über eine Art des unwillkührlichen Lachens.

Pockels, Carl Friedrich

Der Mensch, welcher vermöge der ganzen Anlage seiner Natur, in so vieler Absicht, weit über [90]das Thier erhaben ist, hat auch so gar sein Eigentümliches im Ausdrucke seiner Freude, und seiner Schmerzen; was wir eigentlich bei keinem Thiere bemerken, — der Mensch lacht, wenn er sich lebhaft worüber freut, welches selbst im Traume geschehen kann — und er weint, wenn er entweder selbst einen körperlichen Schmerz, einen Kummer seines Herzens fühlt; oder durch die Leiden anderer sehr gerührt wird, indem er sich durch eine schnelle, bald schwächere bald lebhaftere Zurükerinnerung an ähnlich gehabte Leiden, in die Stelle des andern sezt, und dessen Schmerz zu empfinden glaubt. Hier fehlt offenbar den Thieren das Vermögen einer vernünftigen Vergleichung ihrer eigenen, und anderer Schmerzen, und des deutlichen Ausdrucks derselben, durch eine Sprache, wodurch der Mensch so leicht Mitleid gegen sich erregt, und ohne die daher das Thier wohl eigentlich keiner Empfindungen des Mitleids, wenigstens keiner solchen, als der Mensch, fähig ist. —

Wenn gleich beim Lachen immer ein inneres Wohlbehagen, eine lebhafte Freude über eine Handlung, oder einen sichtbaren Gegenstand zum Grunde liegen muß; so lehrt uns doch die Erfahrung, daß nicht jede Freude Lachen erregt; ja in gewissen Fällen würden wir, um mich so auszudrücken, jene Empfindung der Freude zu beleidigen, und zu beschimpfen glauben, wenn wir sie durch ein Lachen an den Tag legen wollten. [91]Hierher kann man alle die Fälle rechnen, wo wir uns, — auch wohl in einem sehr hohen Grade, und bei der stärksten Ueberraschung, über ernsthafte Gegenstände, z.B. über den reizenden Anblik der Natur, über ein Meisterstück der Kunst, über Handlungen eines edeldenkenden Herzens, über Entdeckungen neuer Wahrheiten, u.s.w. freuen. —

Auf der andern Seite erregt wiederum nicht jeder Schmerz Thränen, wenn er nehmlich nicht stark genug ist, wenn er durch eine Menge Nebenempfindungen, durch Vorstellungen, die uns leicht zerstreuen, gleichsam in seinem Wege nach dem Auge hin, aufgehalten wird; — oder wenn er auch zu stark ist, daß er unsere Seele betäubt. Der stumme Schmerz, der sich nicht ausdrücken kann, der noch keine wohlthätige Thräne in unsre Augen kommen läßt, der Schmerz der gleichsam an dem Innern unsrer Seele nagt, ist auch der qualvollste, — wir seufzen alsdann nach dem Ergusse unsrer Thränen, und wenn diese sich erst ergießen; so scheint auch seine mörderische Wuth an uns nachzulassen.

Lachen und Weinen, dünkt mich, sind beides Erscheinungen an den Menschen, welche gar sehr die Aufmerksamkeit des Psychologen verdienen, indem sie dem Menschen allein zukommen, und ehe er noch reden kann, schon die deutliche Sprache seiner Leidenschaften, Schmerzen und Bedürfnisse sind, und gewiß aus sehr guten Absichten des Schöpfers [92]dazu gemacht wurden. Mehrere Schriftsteller haben ihren Ursprung zu erklären gesucht; allein sie scheinen mit ihren Untersuchungen darüber noch nicht ganz zu Ende gekommen zu seyn, wenn wir darunter nicht sowohl die Untersuchungen verstehen, welche Gelegenheiten in diesen und jenen Gemüthszuständen, Lachen und Weinen erzeugen; sondern wie, und warum diese Phänomene grade unter gewissen Umständen und keinen andern, so und nicht anders entstehen, und wie vielen Antheil daran bald der Körper, bald die Seele des Menschen hat. Der unerklärbaren Erscheinungen der menschlichen Natur, besonders in dem Gebiete der Freude und des Schmerzes; der dunkeln in uns liegenden Vorstellungen die uns oft ganz unwillkürlich zu Empfindungen beider Art reizen; der verschiedenen Modifikationen unsrer Vorstellungen, die sich bei heftigen Leidenschaften alle Augenblicke durch den gegenseitigen Einfluß des Leibes und der Seele auf einander, verändern, sind so unendlich viele, daß es uns allerdings schwer werden muß in Absicht des Ursprungs jener Erscheinungen, etwas mit vollkommner Gewißheit zu bestimmen, — und mehr dürfen wir doch darüber nicht bestimmen, als was uns unser Gefühl sagt, und was sich aus einer richtig angestellten Vergleichung mehrerer Gefühle analogisch schließen läßt; wobei uns aber immer noch die innere Natur und Entstehungsart derselben unbekannt seyn kann.

[93]

Was das Lachen insbesondere betriff, so lehrt uns die Erfahrung, daß dabei vornehmlich folgende Ursachen zum Grunde liegen müssen; wir müssen entweder durch das Witzige, Sonderbare und Unerwartete eines launigen Gedankens auf eine angenehme Art gerührt werden; oder es müssen uns ungewöhnliche, bizarre Gegenstände vermöge ihrer lächerlichen Gestalt; oder auch ihrer unregelmäßigen Verbindung, in welcher sie sich mit entgegenstehenden Objekten würklich, oder auch nur unsrer Einbildung nach befinden; — aber auch wegen des Unerwarteten ihrer Handlungen, sehr auffallen. Das Lachen welches durch einen Kitzel des Körpers hervorgebracht wird, oder das sogenannte animalische Lachen, rechne ich nicht hierher, weil unsre Seele daran keinen Antheil zu haben scheint; auch nicht das erzwungne und verstellte Lachen, weil ihm das Angenehme und Erquickende fehlt, welches die andern Arten des Lachens seiner Natur nach allemal begleitet.

Zu den vorher angegebenen Ursachen des Lachens rechne ich noch die Schadenfreude. Ohne mich auf eine genauere Untersuchung der Moralität dieser Art des Lachens einzulassen, die ohnedem hier gerade am unrechten Orte stehen würde, bemerke ich nur, daß dieses Lachen in den allermeisten Fällen, vorausgesezt, daß wir an dem Unglück des andern nicht Schuld sind, nichts böses ist, ob es gleich allerdings sehr unanständig seyn kann. [94]In dem Augenblicke, wenn wir davon unwillkürlich überrascht werden, z.B. wenn jemand auf eine lächerliche Art hinfällt, ist es uns nicht leicht möglich, die bizarren Ideen, die sich uns zudrängen, und die schnell auf einander folgenden Bilder unsrer spielenden Phantasie, wegzuschaffen, welches gemeiniglich nicht eher geschieht, als bis wir ausgelacht haben, und die Vorstellungen von dem Schaden des andern, und das daher entstehende Mitleid, mehr Stärke in uns erhalten. — Ausserdem sind oft die Leiden andrer von einer so besondern Art, das Betragen der Leidenden selbst so albern, und ihre Denkungsart von der unsrigen, die wir nach unsrer Meinung in gleichen Fällen an den Tag legen würden, so verschieden, daß wir oft mit Mühe, oft auch gar nicht an ihren Schiksalen Theil nehmen können. Wer einen Don Quixote würklich leiden sähe, würde sich eben so wenig des Lachens enthalten können, als wenn er die Geschichte seiner lächerlichen Unglücksfälle in dem meisterhaften Romane des Cervantes lieset.

Es ist nicht zu läugnen, daß sich alle jene verschiednen Arten des Lachens aus einer einzigen Quelle, nehmlich aus einer lebhaften Stimmung der Freude über das Neue und Auffallende gewisser Dinge, und Ausdrücke erklären lassen, obgleich die individuellen Veranlassungen dazu unendlich verschieden seyn können, und sich ohnmöglich alle angeben lassen. Wir haben noch keinen [95] Maasstab, den Grad dieser Stimmung anzugeben, der zur Hervorbringung des Lachens vorhanden seyn muß, und der nach den so sehr verschiedenen, bald feinern, bald gröbern Empfindungsfähigkeiten der Menschen, und ihren eben so verschiedenen Anlagen des Geistes, Aehnlichkeiten mit einander schnell zu vergleichen, so wie auch nach den jedesmaligen Gemüthszuständen derselben, nicht anders als sehr verschieden ausfallen kann. Manche Menschen können aus Mangel eines feinern Gefühls durchaus nicht das Witzige eines Gedankens empfinden, worüber andre sich nicht satt lachen können; andre scheinen nur für eine einzige Art des Lächerlichen einen Sinn zu haben; einige, besonders Kinder, und kindischwerdende Alte, lachen über jede Kleinigkeit; wieder andre behalten den ewigen kalten Ernst auf ihre Stirne. — Man zeigte uns in der Geschichte eine Menge von Männern, die in ihrem Leben kein einzigesmal gelacht haben sollen, und man hat unsern Erlöser, um ihm wahrscheinlich eine große Ehre dadurch zu erweisen, mit darunter gesezt.*) 1

[96]

So viel dünkt mich ist gewiß, daß wir, sey es nun von einem äussern Gegenstande, oder Gedanken, der mit einem andern in einem auffallenden Kontrast steht — überrascht werden müssen, wenn wir darüber lachen sollen. Das Lächerliche bleibt zwar seiner Natur nach immer lächerlich, aber es bleibts nicht immer für jeden einzelnen Menschen, und für jeden Zustand unserer Empfindungen. — Es kann den Wiz seiner Neuheit verliehren; es kann nach und nach Ideen in uns aufwecken, die unsre Seele zu einem gewissen Mismuth stimmen, der die folgende Wirkung des Lächerlichen auf uns hindert. Wir können das oft nach einiger Zeit mit unverändertem Gesichte hören, und betrachten, worüber wir sonst in ein lautes Lachen ausbrachen — ja der nehmliche Scherz zu oft, und noch dazu von einem elenden Kopfe gesagt, — oder der auch nur sonst etwas Unangenehmes für uns hat, — kann uns endlich gar zum Ekel werden, der mit einem Aerger über diejenigen verbunden ist, die daran noch Geschmak finden können. Allerdings kommt es bei dem Gefühl des Lächerlichen mit sehr viel auf die jedesmalige Disposition unsers Körpers an. Es giebt Tage und Stunden, wo wir froheres Muths als sonst sind, ohne daß wir gerade den hinreichenden Grund davon in ein vorhergehendes Nachdenken über angenehme Gegenstän-[97]de, und die dadurch hervorgebrachte Heiterkeit unsres Geistes setzen könnten. Alle Gegenstände haben für uns in solchen unwillkürlich entstandenen frohen Augenblicken ein lachendes Ansehn; unsre Vorstellungen folgen mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit und Zufriedenheit auf einander; schlüpfen gleichsam vor verdrüßlichen Gegenständen vorüber, und machen uns geneigt, selbst das, was uns sonst Kummer macht; von seiner lächerlichen Seite anzusehn. —

Eben so wird jeder die Erfahrung an sich selbst gemacht haben, daß wir oft eine Neigung zum Lachen in uns wahrnehmen, ohne daß wir die eigentliche Ursache davon bestimmt anzugeben im Stande sind; zumal da diese Neigung oft schnell wie ein Bliz verschwindet. Wahrscheinlich waren es einige dunkle Vorstellungen, und Erinnerungen an gewisse lächerliche Scenen unsres Lebens, die vor der Seele schnell vorübergingen, (wie wir auch oft im Schlafe haben) die jene Neigung einige Augenblicke in uns erzeugten; — eben so lacht man gemeiniglich wenn andre lachen, ohne daß man den Grund davon weiß; — oder auch wenn in einer lauten Gesellschaft auf einmal eine feierliche Stille entsteht. Verschiedne meiner Freunde haben mich versichert, daß sie wegen einer solchen entstandnen Stille sich gemeiniglich zwingen müßten, um nicht während des Tischgebets in ein lautes Lachen auszubrechen, und daß sie in ihrer Kindheit, weil sie sich beim Gebete durchaus nicht des Lachens erwehren [98]konnten, oft vergebens von ihren Eltern gezüchtigt worden wären.

Am ungewöhnlichsten, und sonderbarsten scheint aber die Neigung zum Lachen zu seyn, die manche Menschen, auch wohl ernsthafte Leute, denen man gewiß keine Leichtsinnigkeit Schuld geben kann, alsdann in sich empfinden, wenn ihnen andre ihre gehabten, oder gegenwärtigen Leiden schildern. — Es ist uns freilich nicht immer leicht, uns sogleich in die Stelle eines Elenden zu versetzen, der uns seine Leiden klagt, und natürlich eine schnelle Theilnehmung von uns verlangt. Wir können grade zu der Zeit, daß uns ein Unglücklicher aufstößt, zu froher Laune seyn, als daß wir uns sogleich für ihn umstimmen könnten; der Leidende kann auch uns nicht besonders angehen; er kann zu viel Schuld an seinem Unglücke haben, seine Art zu klagen, und sich auszudrücken kann unartig, ungesittet seyn; er kann Leidenschaften verrathen, die mit unsern moralischen Begriffen nicht zusammenpassen; oder wir können auch glauben, daß der größte Theil seines Uebels nur eingebildet ist, diese und mehrere Umstände können zusammenkommen, welche unser Mitleid zurückhalten, und uns wohl gar in eine Art Gleichgültigkeit gegen den Leidenden versetzen. — Aber unsre Natur scheint uns doch dabey, um mich so auszudrücken, einen unanständigen Streich zu spielen, wenn sie uns da ein Lachen abzwingen will, wo andre einen mitleidsvollen Eindruck auf unser [99]Herz machen sollten. Mich haben viele Leute, auf deren Aussage ich mich verlassen kann, versichert, daß sie sich oft gezwungen sähen, bey den Klagen andrer das Gesicht von ihnen wegzuwenden; oder sich geschwind einen Schmerz auf der Zunge zu verursachen, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen; — oder auch sich sogleich eines Ausdrucks, einer Wendung ihrer Gedanken zu bedienen, die in dem Augenblick, ohne den Elenden auf einen Verdacht von Gefühllosigkeit zu bringen, mit einer lachenden Miene gesagt werden konnte; ein Lachen wodurch sie nach ihrem Geständnisse, das durch den Leidenden unwillkürlich verursachte, gleichsam bemänteln wollten.

Woher nun diese unwillkürliche Erscheinung an den Menschen, und zwar grade alsdann, wenn wir uns selbst ihre Leiden vorstellen, und sie sogar vor uns leiden sehen? — Mich dünkt, man könne die Sache ohngefähr so erklären.

Wir mögen entweder von einem körperlichen Schmerz, oder von irgend einem Kummer unsrer Seele angegriffen werden, so ändern sich auch sogleich an den meisten Menschen hundert Dinge, die nun wegen ihrer veränderten Gestalt einen ganz andern Eindruk auf uns, als sonst machen müssen.

Die Sprache, Geberden, der Gang, oft die ganze Denkungsart des Menschen wird gemeiniglich anders wenn er leidet, und diese schnelle Veränderung des Menschen, die oft den angesehnsten [100]Mann zum lächerlichen Betragen eines Kindes herabsezt, diese weinerliche Stimme, diese ernsthafte zusammengezogene Stirne, dieser schleichende furchtsame Gang, und dann auch vornehmlich das Bizarre, Auffahrende, Ungeduldige, was viele Menschen in ihrem Unglücke an den Tag legen, hat etwas sehr auffallendes und Kontrastirendes an sich, und dieses Sonderbare kann denn leicht, zumal wenn wir uns das Elend des andern noch nicht deutlich genug vorstellen, uns eine Neigung zum Lachen einflössen, wozu noch der besondere Umstand kommt:

Das Gesicht des Traurigen hat in Absicht der Verzerrung seiner Muskeln, eine Aehnlichkeit mit dem Gesichte des Lachenden, durch dieß letztere werden wir auf eine mechanische Art selbst zum Lachen gestimmt. Das Verzerrte und Verzogene unsrer Mienen erregt es schon ohne Begleitung witziger Gedanken. — Etwas ähnlich Verzerrtes sehen wir im Gesichte des Klagenden, zumal wenn sein Schmerz körperlich ist, und diese verschobene Gesichtsform, die sonst gewöhnlich uns zum Lachen geneigt macht, wenn der andre keinen Schmerz fühlt, ist es, nach meiner Meinung, welche uns auch denn lächerlich vorkömmt, wenn der andre leidet. Eben so kann es leicht geschehen, daß uns ein Lachen auch alsdann anwandelt, wenn wir andern unsre Leiden zu schildern anfangen wollen, indem die, welche uns anhören, entweder aus würk-[101]lichem Mitleid, oder aus einer verstellten Theilnehmung ihr Gesicht in ernsthafte Falten zu legen suchen, was uns oft nicht anders als lächerlich vorkommen kann.

Zur Erläuterung des Vorhergehenden will ich nur noch folgende Bemerkungen hinzusetzen, die sich von allen Menschen, doch nach den verschiednen Graden ihrer Empfindungsfähigkeiten, und Organisation verschieden abstrahiren lassen. Wenn wir auf uns genau Acht geben, sonderlich wenn wir uns in dem Zustande gemischter Empfindungen befinden, — (und wahrscheinlich befinden wir uns immer darin, ob wir uns dieses Zustandes gleich nicht allemal deutlich bewust seyn können; — ) so kann es uns nicht schwer werden zu bemerken, daß die Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen gar leicht in der Seele mit einander abwechseln, unbegreiflich schnell in einander übergehen, und sich in einander auflösen lassen — und zwar nicht immer nach einer Folge vorhergegangener deutlicher Vorstellungen darüber, sondern sehr oft durch einen plötzlichen Tausch unsrer Gefühle, um den wir uns keine Mühe gegeben hatten. Unzählig oft sind wir uns der Gründe nicht ganz bewußt, wie und durch welche Mittelwege sie aus einem angenehmen Zustande in einen unangenehmen, und umgekehrt, übergehen. Nach einem langen heftigen Schmerz unsrer Seele fühlen wir oft auf einmal ein inneres Wohlbehagen; obgleich [102]die Ursach des Schmerzes noch nicht aufgehört hat, und wir durch keine vorhergehenden Vorstellungen zu dieser wohlthätigen Empfindung gestimmt wurden. Freilich dauert dieser Zustand selten lange; der Schmerz fängt bald wieder von neuem zu wüthen an, hört auch verschiednemal wieder auf, bis wir ihn nach und nach erträglicher finden. In dieser schwankenden Bewegung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, sehen wir sehr oft, vornehmlich lebhafte Geister, und die noch weiche Seele junger Kinder, die man oft in einer Minute weinen und lachen sieht.

Noch ein andrer hierher gehöriger Erfahrungssatz ist der, daß ein solcher Wechsel zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen gemeiniglich leichter erfolgt, wenn die Seele irgend auf eine Art entweder durch lebhafte Freuden, oder Leiden sehr erschüttert ist, als wenn sie sich, um mich so auszudrücken, in einem Gleichgewicht ihrer Empfindungen und Vorstellungen befindet, und sich also mehr in ihrer Gewalt hat. Für die meisten Menschen sind sehr froh durchlebte Stunden gefährliche Vorboten trüber Gedanken und Empfindungen, von denen sie nicht selten mitten im Genuß der Freude unwillkürlich überrascht werden, und wodurch sich auf einmal alle Kanäle des Frohseins in ihren Herzen verstopfen. — Umgekehrt zerreissen oft die Bande womit uns ein heftiger Schmerz gefangen hielt, ehe wir's uns versehn, — und [103]ohne daß vorher die stärksten Gründe der Vernunft etwas zu unsrer Beruhigung beitragen konnten, ist es oft ein einiger äusserer kleiner Umstand, der uns auf einmal froh machte, und eine ganz neue angenehme Folge von Vorstellungen in uns erweckt.

Es entsteht hier die Frage, nach welchem Gesetze dieser unwillkürliche Wechsel unsrer Empfindungen, der so sichtbar von unserm Körper abhängt, erfolgt? — mich dünkt, um die Sache sinnlich auszudrücken, nach einer bald stärkern, bald schwächern Nervenerschütterung als der vornehmsten Werkzeuge unsrer Empfindungen*). 2 [104]Wird ein Theil unseres Nervengebäudes so afficirt, daß dessen Erschütterungen in einer gleichmäßigen, der Gesundheit der Maschine vortheilhaften Bewegung erfolgen, wodurch der Zusammenhang der Theile nicht getrennt, sondern in der natürlichen Ordnung des Gebrauchs jener Theile gelassen wird; so stellen wir uns vor, daß die Empfindung eine körperlich angenehme Empfindung seyn müsse; aber unsre Nerven können auch unregelmäßig, mit zu vieler Anstrengung, und wider die Regeln der Gesundheit der Maschine erschüttert werden; alsdenn glauben wir, daß die Empfindung unangenehm sey. Wie nahe grenzt nicht Vergnügen und Schmerz bei dem Reiben einer Wunde zusammen! — jenes wird durch ein sanftes Berühren, dieser durch ein stärkeres hervorgebracht; das Licht der Sonne, wenn wir es von andern Körpern und sonderlich durch die Farben zurückgeworfen, erhalten, ist angenehm und wohlthätig, da es uns hingegen Schmerzen in den Augen verursacht, wenn wir sie selbst nach der Sonne richten. — Das Sanfte und Harmonische einer Musik theilt sich un-[105]serm Ohre auf die angenehmste Art mit, es dringt in die Seele, und erregt Leidenschaften, die nur sonst die edle Sprache der Zunge, und die Gründe einer nachdenkenden Vernunft erzeugen können; allein wir verstopfen die Ohren, wenn wir Dissonanzen hören müssen, oder wenn auch die Harmonie der Töne zu laut und schreiend wird. In allen diesen, und noch hundert andern Fällen, ist es sichtbar, daß die Verschiedenheit unsrer Empfindungen von den verschiedenen Graden der Nervenerschütterung abhängt, und daß, weil diese bald stärker bald schwächer werden kann, jene Empfindungen selbst unendlich leicht, als körperliche Bewegungen unsrer Maschine betrachtet, in einander übergehen, und sich in einander auflösen können. Aber noch mehr. — Nicht nur der Wechsel solcher Empfindungen, die sich unmittelbar auf unsere Sinne, und die feinern Werkzeuge derselben, nemlich auf den Bau und die Bewegung unsrer Nerven beziehen, hängt von ihrer bald stärkern bald schwächern Erschütterung ab; — sondern das ganze Geschäfte unsres Denkens, und die Empfindungen, welche sich zunächst allein auf den Einfluß eines einfachen Wesens auf unsre sinnliche Natur, oder sogenannter abstrakter Vorstellungen auf dieselbe zu gründen scheinen, werden nicht selten nach obigen großen mechanischen Empfindungsgesetze bestimmt, und wechseln so leicht mit einander ab, als die blos thierischen Gefühle von Schmerz und Lust es nur [106]immer thun können; langes fortgeseztes Nachdenken erregt nicht selten Unlust der Seele, so viel Vergnügen es auch anfangs gewährte; die zu lebhafte Vorstellung eines nahen Glücks ist nicht selten in den nehmlichen Augenblicken mit einer heftigen ahnenden Unruh verbunden, die wir uns nicht erklären können, und wer kennt nicht Leute, die sich selbst bei einem gegenwärtigen Glücke nicht so wie sie wünschen, freuen, weil sie nicht über den unwillkürlich, immer von neuem aufsteigenden Gedanken hinwegkommen können, daß ihr Glück von kurzer Dauer seyn werde; ob sie gleich keine Gründe zu dieser Furcht haben. Das Weinen aus Freude kann man sich gleichfalls nicht anders, als aus solch einem schnellen Uebergange einer frohen in eine unangenehme traurigmachende Empfindung erklären, die uns zu einer Wehmuth reizt, welche Thränen aus unsern Augen lokt, und die wir denn durch eine Täuschung unsrer Empfindungen, für Würkungen der Freude allein halten.

C. F. Pockels.

Fußnoten:

1: *) Lächerlich genug war der Gedanke eines bekannten Theologen dieses Jahrhunderts, der allenfalls zugestand, daß unser Erlöser habe lachen können; — aber über nichts anders, als über die — Bekehrung eines busfertigen Sünders. Sieh. d. Art. Lachen in Walchs Philos. Wörterb. a Anmerk. d. Verf.

2: *) Der menschliche Beobachtungsgeist und Scharfsinn wird es wohl schwerlich dahin bringen, daß man die Bewegungen unsrer Nerven, die nöthig sind um Schmerz und Vergnügen in dem menschlichen Körper hervorzubringen so wie die verschiednen Erschütterungen einer Saite angeben, und berechnen könnte. Ein Calkulus unsrer Empfindungen beider Art würde uns aber gewiß sehr tiefe Blicke in die Natur der menschlichen Seele thun lassen. — Wir würden alsdenn nicht mehr nach dem Gesicht allein, sondern nach Gründen der Vernunft, die Grenzen bestimmen können, wo sich eigentlich Schmerz und Vergnügen, ob sie gleich in einem Organ vereinigt sind, von einander trennen; wir würden richtigere Begriffe von der Natur gemischter Empfindungen bekommen, und der Ursprung aller unsrer Ideen und ihrer unendlichen Abwechselungen, sonderlich ob wir durch ganz freie Willkühr von einem Gedanken zu dem andern übergehen; wie Gedanken auf unsern Willen würken, und wie weit wir eigentlich frei, oder nicht frei handelnde Wesen genennt werden können — würde uns alsdenn viel einleuchtender als jezt seyn, da wir um mich so auszudrücken, das innere Räderwerk unsrer Empfindungen und Vorstellungen nur nach seinen Aussenwerken kennen, und uns mit einem Unterschiede quälen, den die Schule zwischen zwei einander entgegengesezten Substanzen — nicht ohne Grund; aber auch ohne Vortheil für die sogenannte Seelenlehre gemacht hat. Anm. d. Verf.

Erläuterungen:

a: Walch 1726, Artikel 'Lachen', Sp. 1596-1600.

[107]

Zur Seelenzeichenkunde.

Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

Es ist wahrlich für einen Lehrer, der es gut mit seinen Schülern meint, sehr angenehm, wenn er bemerkt, daß diejenigen, die ihm beim ersten Anschein durch ihre Minen und durch ihr ganzes Aeusseres; oder durch Aufführung und Fleiß mehr als etwas Gemeines und Gewöhnliches zu versprechen scheinen, immer auf dem guten Wege weiter gehn, und seine Vermuthungen immer gegründeter machen.

Daß ihm die gegenseitigen Bemerkungen kränkend und traurig seyn müssen, ist freilich auch wahr; aber es bleibt doch immer noch Hofnung übrig, daß durch irgend ein Etwas in der Folge — es sey später oder früher — eine glückliche Umändrung bewirkt werden könnte. Und diese Hofnung hat bei mir immer das Uebergewicht über die Besorgniß, daß der Bessere eben so leicht verführt und schlimmer werden könnte.

**, der erste, von dem ich im zweiten Stücke des ersten Bandes des Mag. zur Erfahrungsseelenkunde einige Züge seines Charakters, oder vielmehr seiner itzigen Anlagen und Denkungsart anführte, geht noch immer seinen graden Weg fort. Es ver-[108]steht sich, daß seine Seelenkräfte sich mehr entwickelt haben. Sein Fleiß ist immer noch anhaltend, und deshalb bringt er es auch weiter als viele von seinen Mitschülern, die er wirklich hinter sich gelassen hat. In seinem Gesichte herrscht noch ein freundlicher gefälliger Ernst. Wenn ihm irgend etwas unangenehm ist: so weiß er dieß in seinem Gesichte zu erkennen zu geben, ohne daß man seine Mine mürrisch oder verdrüßlich nennen dürfte.

Er empfindet schnell, und mit einer gewissen Lebhaftigkeit, die von der Wärme zeigt, mit welcher er Antheil an demjenigen nimmt, wovon die Rede ist; aber es ist keine flüchtige schnell vorübergehende Empfindung. Er ist schnell in seinen Antworten, und gleichwohl verrathen sie Nachdenken. Eben so schnell lieset er, und man kann aus seinem Tone bemerken, daß er mit Gefühl und mit Einsicht liest.

Seine ganze Denkungsart scheint Ernsthaftigkeit zur Grundlage zu haben. Er nimmt selten Antheil an demjenigen, was um und neben ihm vorgeht, weil seine Aufmerksamkeit immer auf etwas Erheblicheres gerichtet ist.

Seine wörtlichen Ausdrücke verrathen oft etwas Männliches; aber nie eine Empfindung von Stolz, als ob er mehr wisse und etwas besser mache, als andre. Seine schriftlichen Ausdrücke sind eben so, und oft voll Laune. Auch hat er keine gemeine Anlage ein Dichter zu werden. Ich will zum Be-[109]weise davon die letzte Strophe aus einem Gedichte beim Grabe seiner Schwester hersetzen:

Ruh indessen sanft, o Liebe, Beste!

Siehst ja Gottes Angesicht.

Und hier, diese morschen Ueberreste —

Wie? gebrauchst du sie doch nicht!

In seiner Kleidung, so wie überhaupt in seinen Sachen herrscht Ordnung, Pünktlichkeit und Reinlichkeit. Diese letzte übertreibt er nicht bis zur Ziererei; sie scheint ihm vielmehr schon zur Gewohnheit geworden zu seyn, ohne daß er sich viel Mühe geben dürfte, sie zu erhalten. Seine Ordnung und Pünktlichkeit beweiset er auch in seinem Fleiße. Er hat das Aufgegebene gewiß immer zu rechter Zeit fertig, und sicher allemal den meisten Fleiß darauf verwendet. Dabei scheint er alles gern und unverdrossen zu thun, ohne die Mühe zu scheuen, die etwa mit seinen Arbeiten verbunden seyn möchte. Er genießt einer fortdauernden Gesundheit, die ihm ein langes, thätiges und nützliches Leben verspricht.

** dessen ich im zweiten Bande im zweiten Stücke dieses Magazins erwähnt, und von dem ich meine Beobachtungen fortzusetzen versprochen habe, bleibt sich auch noch ziemlich gleich. Sein Auge verräth etwas Schlaues, aber Gutmüthiges, und sein Gesicht eine muntre, blühende und völlige Gesundheit. Er ist unruhig, und muß immer mit [110]irgend etwas zu thun haben, sollte es auch nur sein Hut oder ein Buch seyn, womit er sich beschäftigt.

Alle diese kleine, geschäftige Unruhe hindert ihn aber nicht an Aufmerksamkeit und Fleiß, und wenn er irgend etwas nicht behalten hat: so ist er verlegen, gleichsam als ob er fragen wollte; wie kömmt es doch, daß ich dies nicht weiß, nicht behalten habe? — Diese seine kleine Aengstlichkeit giebt ihm ein drolligtes Ansehn, denn er will nicht gern eine Antwort schuldig bleiben, und deshalb macht er sich, gemeiniglich mit seinem Hute, so viel zu schaffen, als ob er durch diese Thätigkeit seines Körpers um so eher eine richtige Antwort herausbringen würde.

Sein Eifer, weiter zu kommen; eine höhere Stelle zu erhalten und zu behaupten, ist ausserordentlich stark, aber nicht weniger der Fleiß, den er verwendet, um dieß erreichen zu können. »Werd ich versetzt werden? werd ich heraufkommen?« Das sind ihm Fragen von der größten Wichtigkeit; und die reinste, unschuldigste Freude glänzt auf seinem Gesichte, wenn er zu mir kömmt und sagt: ich habe das und das gelernt. In seinem kleinen Eifer geht er wohl so weit, daß er, wenn ihn einer beleidigt, um sich stößt, aber es geschieht sehr selten, und es ist ihm gleich selbst leid, so daß auch fast keine Klage über ihn gewesen ist.

Nur erst kürzlich kam er, und sagte, daß ihn sein Nebenschüler gestossen habe. Ich fragte ihn, [111]ob es auch wohl mit Vorsatz geschehn sey. — Und es war eine herrliche Verwandlung, die mit einemmale in seinem Gesichte vorging. Seine Empfindlichkeit und der Ernst, mit dem er die Sache aufgenommen, war ihm anzusehn, und nun, da ich ihm diese Frage vorlegte, heiterten sich seine Minen auf; sein Auge ging wechselsweise von mir zu seinem kleinen Beleidiger; er lächelte und konnte vor Freuden nichts sagen. Er setzte sich vergnügt nieder, und hielt nun die Sache für völlig abgemacht.

Diese Gutmüthigkeit ist ihm sehr eigen. Auch liebt er seinen Bruder mit wirklicher Zärtlichkeit. Dieser hatte sich einmal gestossen und eine kleine Beule bekommen. Er bedauerte ihn und in jeder Mine war die brüderlichste Theilnehmung aufs lebhafteste gezeichnet. Sanft faßt' er ihn an die Hand und brachte ihn nach Hause.

Wie gern weilt man bei dergleichen Auftritten! Du wirst einmal das Glück deines Hauses und deiner Angehörigen werden! das dacht ich in dem Augenblicke, und denk es noch, so wie ich überhaupt glaube, daß er ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden wird. Auch ist seine häusliche Erziehung gut, und sein etwas jüngerer Bruder hat viel Aehnlichkeit mit ihm.

** von etwa 12 bis 13 Jahren gehört unter diejenigen, die sich durch etwas Eigenthümliches am [112]meisten von andern unterscheiden. Es ist, als wenn eine Legion unruhiger Geister in ihm wohnten und ihn beherrschten. Er kann durchaus nicht still sitzen, durchaus nicht leben, athmen, ohne irgend etwas vorzunehmen.

Seine häusliche Erziehung mag wohl nicht unter die beste gehören; wenigstens müssen seine Eltern wenig Aufsicht über ihn haben, wenig väterlichen und mütterlichen Ernst bei ihm gebrauchen. Auch sind alle seine Unruhen von der gemeinsten und niedrigsten Art. Wie vermag man ihn also — unter so Vielen — zu lenken, zu bessern? Er weiß sein Gesicht auf hunderterlei Art zu verändern, zu verzerren, und stellt überhaupt in seinen possierlichen Anwandlungen einen wahren Harlekin vor. Oft kostet es Mühe, seine Narrheit mit Gleichgültigkeit und ohne Lächeln anzusehn — wenn nur nicht der Gedanke zu ernsthaft wäre, daß er seine eigne Würde erniedrigt; die er aber freilich zu wenig fühlt und zu schätzen weiß, daß er vielmehr gar nichts für ernsthaft und wichtig hält.

Sein Auge verräth Feuer und Lebhaftigkeit, aber seine Minen hat er äusserst in seiner Gewalt, so daß es wirklich schwer fällt, davon irgend etwas Sicheres zu sagen. In seinem Taumel ist jede Nerve, jede Muskel, jede Mine Bewegung und Einklang. Sieht man ihn mitten in diesem Tumult an: so ist mit einemmale alles in Ruhe. Er sitzt da, als ob er ein Träumer wäre, zieht den [113]Mund enge zusammen, und athmet so tief aus der Brust heraus, als ob er über ein großes Unglück seufzte, das ihm zugestossen ist, dem er abhelfen will, und wozu er kein Mittel finden kann.

Wenn man ihn zur Rede sezt: so hat er eine Menge von Entschuldigungen. Wenn er gestraft werden soll: so ist er in tausend Aengsten und seine Furcht ist unbeschreiblich. Er bittet, er liebkoset, sagt in einer Reihe die schmeichelhaftesten, und süssesten Beiwörter her, macht komische Stellungen, Verzückungen, als ob er nicht reden könnte, oder schreit gewaltig und verspricht, es in seinem ganzen, ganzen Leben nicht mehr zu thun. Es ist auch nichts mit ihm auszurichten, denn unmittelbar nach der Strafe gehn seine Tausendkünste wieder aufs neue an; und man kann, denk ich, nichts bessres thun, als ihn von andern entfernen, um ihn näher und allein vor sich zu haben.

Tücke und Bosheit ist bei ihm nicht. Er neckt zwar seine Mitschüler, aber nie auf eine bittre und kränkende Art, und zuweilen hat er wirklich etwas Gutthätiges in seinen Betragen gegen andre. Ich glaube, wenn er bessre Erziehung, frühere und mehr Gelegenheit zum Lernen und mehr Aufsicht gehabt hätte, so hätt' er sich auf irgend eine Weise als Genie ausgezeichnet, da er nun ein Wildfang, ein unruhiger Kopf werden wird, ohne etwas Nützliches in der Welt zu leisten. Es fehlt ihm nicht ganz an Anlage; aber sie hat keine Richtung, kein [114]Ziel. Das, was er weiß, kann er unmöglich bei sich behalten; er muß es sagen und wissen lassen, und sollt es auch noch so sehr verboten und zur unrechten Zeit gesagt seyn — Eigentliche Lust zur Arbeit und eigentlichen Fleiß kennt er nicht. Ordnung und Genauigkeit sind ihm sehr unbedeutende Sachen. Erinnerungen sind völlig unwirksam auf seine Seele, und machen auch nicht auf einen Augenblick einigen Eindruck auf ihn. Daß er ein unrechtes Buch, oder gar keins hat, das ist für ihn so etwas unerhebliches, daß man es ihm ansehn kann, wie er sich wundert, sich darnach erkundigen zu können. Sein Gang ist mehr ein Springen und Hüpfen, als ein Gehen, und auch dann arbeitet sein ganzer Körper, wo die Füsse nur in Bewegung seyn sollten. Wenn es noch Hofnarren oder noch Harlekine auf den Bühnen gäbe: so möchte er durch so einen Posten sein Glück machen können; da aber das nicht ist: so wird er sich damit begnügen müssen, in einem kleinern Zirkel für andre ein Lustigmacher zu seyn. Wahrlich eine elende Beschäftigung! —

Seidel.

[115]

Zur Seelenheilkunde.

I.

<Brief aus Güstrow.>

K., J. H.

(Der folgende Brief enthält, ohngeachtet des Schwärmerischen und Einfältigen im Ausdruck, sehr vernünftige Gedanken, und ist um so merkwürdiger, weil er von einem Unstudirten zu kommen scheint, der bloß nach seinem richtigen Gefühl, ohne vorgefaßte Meinungen, urtheilt.)

Güstrow im Mecklenb. 1783 Nov. den 9ten.

Sagen möchte ich Ihnen gern mehres, als ich durch Briefe zu Ihnen tragen lassen kann. Sie zu besuchen, wollen meine Umstände nicht zulassen, also übersende ich Ihnen diesen Brief.

October den 27sten kam mir unvermuthet das erste Stück des ersten Bandes von dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zu Händen, was darinnen von der Seelenkrankheitskunde und von der Seelenheilkunde gesagt wird, ist mir vorzüglich wichtig, weil ich selbst seit kurzer Zeit, von einer neunjährigen Seelenkrankheit, durch meines gütigen Schöpfers und Erhalters Beystand, (bis auf kleine Anfälle) gesund geworden bin.

Der ein, die Seelenkrankheit der Menschen, heilender Arzt seyn will, (ich meine, Einer, der die unsaubern mit Fäusten schlagende Satans-En-[116]gel, aus Seelenkranken Menschen heraustreiben will,) muß nothwendig die Seelenkrankheit erst selbst überstanden haben, das heißt — Er muß mit seinem gütigen Schöpfer und Erhalter, und mit sich selbst im festen Frieden stehn, er muß daneben vielfältige Menschenkenntniß haben, und ein scharfsichtiger Beobachter der Menschen seyn.

Seelenkranke Menschen, bei denen entweder übertriebne Liebebegierde oder übertriebne Ehrbegierde (eine Begierde, für der andern starke Macht hat,) die müssen entweder von der Liebebegierde zur Ehrbegierde, oder umgekehrt, durch Kunst des Arztes übergelocket werden.

Bei denen also, wo Liebebegierde und Ehrbegierde ohngefähr mit gleicher Macht herrschen, denen muß der Arzt durch scherzhafte Erzählungen und lustige Begebenheiten, die Seelen in Bewegung bringen, und durch wohlthätige Erzählungen und lobenswürdige Begebenheiten, die Seelen erweichen, (er muß die Gedanken bei ihnen vervielfältigen,) sie zum Umgange mit allerley Menschen wieder gewöhnen, und sie zu beständigen Geschäften anweisen, er muß sie überführen, daß auf der Welt nichts ist, das eine übertriebne Liebe werth sey, daß übertriebene Ehrbegierde Unsinn, und Laufen zum Nachruhm — Raserey sey, er muß sie oft an die kurze Dauer des zeitlichen Lebens erinnern.

Alle Seelenkranke Menschen hegen unzufriedne Gedanken gegen ihren gütigen Schöpfer und Er-[117]halter, und gegen sich selbst. Als überflüsig will ich nur erinnern, daß der Arzt, auch nicht mal den Schein des Arztes von sich blicken lassen darf. Ich wünsche von ganzer Seele — und hoffe, daß viele Menschenkenner die Kunst — Seelenkranke Menschen zu heilen, gründlich zu erforschen suchen, und der Welt bekannt machen werden.

J. H. K.

II.

<Ein unseliger Hang zum Theater.>

Moritz, Karl Philipp

Einer meiner Freunde hat einen Sohn, den, bei dem besten Herzen, ein unseeliger Hang zum Theater beinahe um die ganze Glückseeligkeit seines Lebens gebracht hätte.

Schon im 19ten Jahr hatte er nach einem zu sehr angestrengten Fleiß in der Geschichte einen Anfall von Hypochondrie gehabt, der einige Monathe dauerte, und worauf eine übertriebene Heiterkeit des Gemüths folgte, die ihn eine Zeitlang zu allen ernsthaften Beschäftigungen unfähig machte.

Er fing nun an, Komödien zu lesen, und gewann diese Lektüre bald so lieb, daß seine ganze Seele von Ideen aus der theatralischen Welt angefüllt wurde. Nun fügte es sich, daß eine herumwandernde Schauspielergesellschaft gerade zu der Zeit in seine Vaterstadt kam, wo er nun das, womit sein Geist sich schon immer bei Tage beschäfti-[118]get, und wovon er des Nachts geträumt hatte, vor seinen Augen wirklich dargestellt sahe. —

Jetzt war er seiner nicht mehr mächtig. Die wirkliche Welt war vor ihm verschwunden, und er lebte und webte bloß in der Theaterwelt.

Sobald er auf seiner Stube allein war, deklamirte er sich die Rollen wieder vor, welche den meisten Eindruck auf ihn gemacht hatten, und schonte dabei seine Stimme und seine Hände nicht.

Sein Vater traf ihn einmal in einer dieser Attitüden an, und bestrafte ihn durch einem Blick, welcher unsern Roscius, der ihn anfänglich nicht bemerkt hatte, in die größte Verwirrung und Beschämung versetzte. — Sein Vater lächelte, und ließ es gut seyn. — Hätte er damals die sehr ernsthaften Folgen dieses Uebungsspiels bei seinem Sohne voraussehen können; er würde wahrscheinlich nicht gelächelt haben.

Der Sohn meines Freundes, den wir D*** nennen wollen, bezog nun die Universität mit dem besten Vorsatze, fleißig zu seyn, aber mit der schlechtesten Anlage, diesen Vorsatz auszuführen, der gar nicht recht mit dem Ideal übereinstimmen wollte, was sich seine Phantasie von seinem künftigen Leben entworfen hatte.

Uebrigens kam ihm das zu statten, daß er Theologie studieren sollte. — Denn nun fing er bald an zu predigen, und konnte doch auf die Weise [119]seinen unwiderstehlichen Hang zum theatralischen Deklamiren in etwas befriedigen.

Ein Grund, der mehr junge Leute zum Studium der Theologie antreibt, als man glauben sollte. — Die Neigungen der Jünglinge werden immer mehr durch die Zeichen der Sache, als durch die Sache selbst gelenkt. Der zierliche Husarenpelz, und der weiße Kragen machen mehr Proselyten, als der Degen und die Bibel.

D*** hatte seine Universitätsjahre vollendet, und sollte sich nun in seiner Vaterstadt zu irgend einem geistlichen Amte tüchtig zu machen suchen. Unglücklicher Weise mußte daselbst gerade zu gleicher Zeit mit ihm wieder eine Schauspielergesellschaft eintreffen. — In mehrern Jahren hatte er nicht Gelegenheit gehabt, ein Schauspiel zu besuchen. — Auf einmal erwachten nun die lange erstickten Vorstellungen und Träume wieder. Die Theaterwelt stand aufs neue in ihrem höchsten Glanze vor seiner Seele da.

Alles übrige wurde ihm verhaßt, die Freuden aus der wirklichen Welt wurden ihm schaal und abgeschmackt. Er sahe keine Aussicht, seinen Wunsch zu erfüllen, ohne seinen Vater zu kränken und zu hintergehen. Auch lag bei ihm selbst die zu schwache Vernunft, mit der stärkern Phantasie, in immerwährendem Kampfe.

Während daß er es versäumte, sich auf der ihm vorgeschriebenen Laufbahn des Lebens weiter zu [120]bringen, hatte er doch auch noch nicht den Muth für sich selbst eine andre anzutreten, die für ihn unendlich viel mehrere Reize hatte.

Verschiedene seiner Freunde, die mit ihm im gleichen Alter waren, und gleiche Aussichten hatten, machten in kurzem ihr Glück. Dieß schmerzte ihn, ohne daß er sich ein ähnliches Glück gewünscht haben würde. Und doch machte er auch keine Anstalt dazu, auf seine eigne Weise glücklich zu seyn.

Weil er nun kein Ziel hatte, worauf die einzelnen kleinen Handlungen seines Lebens, im Ganzen genommen, abzwecken konnten, so ging es ihm, wie einem Wanderer, der einen Scheideweg vor sich sieht, wo er nicht weiß, welchen er wählen soll, und ehe er, weil er schon müde ist, einen Schritt vergeblich thun will, lieber ganz still steht, bis er erst mit Gewißheit erfahren kann, wohin er seinen Fuß lenken soll. — Er wurde gänzlich unthätig, mißmüthig, traurig, schloß sich Tage lang auf seiner Stube ein, scheute sich, Menschen zu sehen, mochte keine Hand bewegen — die entschließende Kraft seiner Seele war gelähmt.

Innigst betrübt über diesen Zustand drang sein Vater einmal auf das heftigste in ihn, und brachte das lange verhaltne Geständniß von ihm heraus, er habe eine unüberwindliche Neigung aufs Theater zu gehen, und diese mache ihn unglücklich.——

[121]

In dem Zustande reiste er zu mir, um sich einige Monathe bei mir aufzuhalten. — Ich war erstaunt, als ich ihn sahe, über die Niedergeschlagenheit seines Gemüths, und die Unentschlossenheit seiner Seele. Manche Stunden war kaum ein Wort aus ihm zu bringen.

Wir bezogen zusammen einen Garten, aus welchem wir nicht weit aufs freie Feld hatten. Kein Morgen wurde versäumt, wo wir nicht spatzieren gingen, und kein Abend, wo er nicht die Komödie besuchte.

Er fand allmälig wieder Geschmack an den Schönheiten der Natur, und so wie wir aus der heitern freien Luft zurückkehrten, hatte sich auch seine Seele wieder etwas ermannet, und es war wieder einige Elasticität und Festigkeit in seinen Entschließungen, sie mochte nun die theatralische oder gelehrte Laufbahn zum Augenmerk haben. — Da erwachten auch oft die Regungen der kindlichen Liebe in ihrer ganzen Stärke wieder, und er vergoß oft Thränen der Wehmuth über die Kränkung, welche er seinen Eltern verursachte.

Ich that dabei nichts weniger, als daß ich ihn von dem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, oder von dem täglichen Besuch der Komödie hätte abrathen sollen.

Oft war er am Morgen, wenn wir aus der großen, und wahren Natur zurückkehrten, fest entschlossen, seine alte Phantasie ganz fahren zu [122]lassen, sich einem thätigen und gemeinnützigen Leben zu widmen, und seinen Eltern ihren Kummer, den sie seinetwegen erlitten hatten, auf die Weise wieder zu vergüten —— und am Abend, wenn er aus der Komödie, aus der so oft läppisch überspannten, oder winzig entstellten Natur auf dem Theater, und besonders etwa aus einem Stück, wie die Räuber, zurückkehrte, so war alles wieder verschwunden, die innere Unruhe, die Unentschlossenheit in seiner Seele war wieder da, sein edleres Selbst war aufs neue verdrängt.

Es kam nun darauf an, was bei ihm den Sieg behalten würde. — Denn irgend ein Entschluß mußte doch einmal gefaßt werden.

Auch durften beide Gewichte nicht zu leicht gegeneinander seyn, wenn das Uebergewicht sich bleibend auf irgend eine Seite lenken sollte. —

Sein Vergnügen an dem reinen und edlen Genuß der Natur nahm täglich zu — und seine Seele wurde nun ruhiger, da er von seinem Vater die Erlaubniß erhielt, aufs Theater zu gehn, wenn seine Neigung dazu schlechterdings unüberwindlich wäre.

Es hing also nun völlig von ihm ab, seinem sehnlichen Wunsch vollkommen ein Gnüge zu leisten. — Er schrieb wegen seines Engagements an die Direktion einer Schauspielergesellschaft, und während daß er die Antwort auf diesen Brief erwarte-[123]te, wurden die Spaziergänge des Morgens und der Komödienbesuch des Abends immer fortgesezt.

Die Beruhigung, welche durch seine jetzige Lage in seiner Seele entstand, schloß sein Herz immer bessern Gefühlen auf; und da ihn nichts mehr abhielt, seine Wünsche zu erfüllen, so fing er allmälig an, nicht mehr hin und hergezogen zu werden, sondern selbst die erneuerte Elasticität seiner thätigen Kraft zuweilen zu versuchen.

Allein ich traute diesem betrüglichen Anschein nicht, sondern suchte nun aus allen Kräften seinem Entschluß zum Theater das Uebergewicht zu geben, um am Ende entweder einen vollkommnen oder gar keinen Sieg zu erhalten, da er überdem in keinen schlimmern Zustand, als diesen einer ewigen Unentschlossenheit gerathen konnte.

Die Antwort der Schauspieldirektion kam an, mit dem Anerbieten eines sehr vortheilhaften Engagements, welches aber binnen vierzehn Tagen sollte angetreten werden.

D*** war zwar vergnügt hierüber, aber seine Freude war lange nicht so ausgelassen, wie ich erwartet hatte, da dieser Brief doch nun alle seine Wünsche krönte.

Auf unsern Spaziergängen, die bis zum Tage seiner Abreise fortgesezt wurden, unterhielten wir uns nun beständig von seiner künftigen Lebensart, und der Laufbahn, die er nun antreten sollte; und ich [124]merkte beständig, daß er immer aufmerksamer und nachdenkender wurde, jemehr ich ihm die angenehme Seite davon zu schildern suchte. — Seine Denkkraft war wieder thätig geworden — er überlegte, er verglich —.

Wir sprachen dabei von seinen Eltern — ich stellte ihm vor, wie gut es sey, daß er doch auch nun die Erlaubniß seines Vaters zu diesem Schritte habe — auch das machte ihn nachdenkend — die reinen, die edlen Empfindungen der kindlichen Liebe waren kräftiger in seiner Seele erwacht — er entschloß sich, die sanften Charaktere, wozu ich ihm gerathen hatte, künftig zu seinen Lieblingsrollen zu machen, statt daß er sonst immer für das fürchterlich Tragische und Schreckliche gestimmt war.

Er fing an, auf das Solide, auf den Unterhalt, auf das Fortkommen im Alter bei seinem künftigen Stande zu denken.

Er kam mit Abscheu und Widerwillen zurück, da er eines Abends die Räuber hatte aufführen sehn, und fand mehr Geschmack an den rührenden und sanften Stücken, und allem was der Natur näher kam, aus derer Betrachtung seine Seele am Morgen des Tages neue Kraft und Nahrung gesogen hatte.

Der Tag seiner Abreise kam heran. Während diesen Spaziergängen am lezten Morgen war er erst still und nachdenkend, dann leuchtete auf einmal eine ungewöhnliche Heiterkeit aus seinem Gesicht hervor; mit dem Ausbruch der innigsten Freu-[125]de fiel er mir um den Hals und sagte: Ich gehe nicht aufs Theater, ich reise zu meinen Eltern. — Ich traute noch nicht, sondern suchte ihn durch die stärksten Gegengründe wieder zu seinem ersten Entschluß zurückzubringen. Allein er reiste denselben Tag noch zu seinen Eltern ab, die ihren Sohn, der nun gänzlich von seiner Phantasie geheilt war, mit ofnen Armen empfingen.

M.

III.

Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. a

Anonym

Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen.

Die meisten Hypochondristen wird man, wo ich nicht sehr irre, unter den Gottesgelehrten antreffen. Die schwere und ernsthafte Natur ihrer Beschäftigungen, ich will noch, mit Erlaubniß, hinzusetzen, die Ungewißheit mancher Theile ihrer Wissenschaft, die überhaupt sehr oft mehr wissen will und soll, als dem Menschen überhaupt gegeben ist; — daß vielen ihrer Sätze eine ungleich höhere Wichtigkeit, als den Sätzen anderer Wissenschaften, entweder mit Recht, oder aus wirklicher Uebertreibung, beigelegt wird, die Gefahr, innerliche oder doch größtentheils äusserliche von den innungsmäßigen Vorstellungen abzuweichen, oder die Geissel [126]der Ketzermacherei; endlich, daß manche Vergnügungen oder wenigstens Zerstreuungen, die andere Stände aufheitern, für sie entweder geradezu sündlich, oder doch nicht schicklich seyn müssen; dies alles trägt zur Erweckung oder Vermehrung der Hypochondrie bei, die auch in der That an vieler Schwärmerei und Sonderlichkeit schuld ist, welche man ihnen, mit Grund oder Ungrund, zur Last zu legen Gelegenheit hat. Die leichtsinnigen, gefühllosen, oder dummen Köpfe fahren hiebei am besten.

Sie kommen entweder niemals an solche Scheidewege, wo die Gleise durch den Regen, oder übergewachsenes Gras unkenntlich werden; oder bekümmern sich doch nicht um die Erforschung des rechten Weges, und tappen wohlgemuth und mit rothen fetten Backen hinter dem grossen Haufen ihrer Partei her.

Die arbeitsamen, denkenden, untersuchenden, gegen Wahrheit und menschliche Glückseligkeit gefühlvollen Geister kommen aber hier oft ins Gedränge. Es ist bekannt, je mehr Einsichten, je mehr Schüchternheit. Wer die Welt lange kennen gelernt hat, wird je mehr und mehr, und im Alter am meisten, wo die Erfahrungen die höchste Stufe erreicht haben, mistrauisch.

Die größten Gelehrten nähern sich endlich dem Pyrrhonismus. Wenn nun in solchen Fällen die Gutherzigkeit und Furchtsamkeit des Hypochondristen dazu kommt, so giebt es öftere innerliche Käm-[127]pfe. Man will auf der einen Seite an keiner einzigen Seele Verwirrung gern schuld seyn, auf der andern aber auch nicht ein Schärflein seines erhaltnen Pfundes vergraben, und auf der dritten stellet man sich durch die alles vergrössernde Einbildungskraft und Furchtsamkeit, die allenfalls aus Abweichungen entspringen — die äusserlichen Uebel viel grösser vor, als sie sind. Dies muß diese Schwachheiten des Körpers erregen und unterhalten.

Wir haben seit zwanzig Jahren unglaublich viel Hypochondristen, vorzüglich unter den jungen Gottesgelehrten erhalten. Sollte nicht die, seitdem einreissende, aut si mavis, aufkeimende Heterodoxie vorzüglich daran schuld seyn? Der Lehrer schwur sonst ernstlich auf seine symbolischen Bücher. Man durfte durchaus nicht anders sprechen, ohne zu verhungern. Wer thut das gern, wer einen Magen hat?

Hierüber vergaß man um so leichter das Denken, und hielt also mit Bequemlichkeit seinen Schwur. — Der Student schwur auf seinen Lehrer, und wann er, mit der Ladung von einer hinlänglichen Partie Weisheit und sauber geschriebenen Kollegienheften, nach Hause kam, so wuste er, was er predigen, wie er dem Patron, dem Konsistorium gefallen sollte. Aber das ist denn jetzt so ganz anders, — und ist wahrlich zu unzähliger Hypochondrie Anlas; wenn mans nicht so machen will, als jener Kandidat, der nun freilich auch mehrere seines gleichen unter großen und kleinen haben mag.

Er wurde von einem Superior gefragt, halten Sie Christum für den Sohn Gottes, oder nicht? Mit der gefälligsten Verbindung und Dienstfertigkeit erwiederte er: wie Ew. ——— befehlen. —

Erläuterungen:

a: Vorlage für die ersten vier Absätze (bis "erregen und unterhalten") des Beitrages ist das Stichwort 'Hypochondrie' in der von Johann Georg Krünitz begründete Enzyklopädie Krünitz 1773-1796, Bd. 27, 1783, S. 593f.

[128]

Inhalt.

Seite
Zur Seelenkrankheitskunde.
1. Eine wahnwitzige Passionspredigt. (Gehalten vom Herrn Präpositus Picht zu Gingst in Schwedisch Pommern, Freitags den 5ten März 1784.) 1.
2. Beschluß des Aufsatzes: Geschichte meiner Verwirrungen an Herrn Pastor W*** in H***. 9.
3. Ein Korbmacher, der oftmals, gleichsam in einer Betäubung, ausnehmend erwecklich gepredigt, vom Herrn J. A. T. L. Varnhagen, Pastor zu Wetterburg, bey der Fürstl. Waldeckschen Residenz Arolsen. 41.
4. Eine Unglücksweissagung, vom Herrn Ulrici. 47.
5. Die Nichtigkeit des Ahndungsvermögens, oder sonderbare Wirkungen eines melancholischen Temperaments, vom Herrn F. G. 56.
Zur Seelennaturkunde.
1. Ueber den Anfang der Wortsprache in psychologischer Rücksicht, vom Herrn C. F. Pockels. Fortsetzung (S. das vorhergehende Stück) 75.
2. Ein Dichter im Schlaf. 88.
3. Psychologische Bemerkungen über das Lachen, und insbesondre, über eine Art des unwillkürlichen Lachens, vom Herrn C. F. Pockels. 89.
Zur Seelenzeichenkunde.
Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere, vom Herrn Seidel. 107.
Zur Seelenheilkunde.
1. Ein Brief die Seelenheilkunde betreffend. 115.
2. Ein unglücklicher Hang zum Theater. 117.
3. Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen. 125.
[<129>]

<Verlagsankündigung.>

Nachricht.

Der Herr Präsident von Benekendorf dessen Oeconomia forensis, Berliner Beyträge zur Landwirthschaft, und andere Schriften den Beifall des Publici erhalten, wird in unsern Verlag ein Werk herausgeben, welches den praktischen Landwirth ungemein wichtig, und auch für andere Leser sehr interressant sein wird. — Der Titel des Werks ist

Kleine ökonomische Reisen.

Der Herr Verfasser, welcher in seinen eigenen und in seiner Freunde Angelegenheiten verschiedene Gegenden zu bereisen, und sie dadurch näher zu kennen, Gelegenheit gehabt, ist als ein Wirth bey diesen vielfältigen Reisen, besonders auf dasjenige, was die Landwirthschaft betrift, aufmerksam gewesen, und hat dabei verschiedenes, wovon er geglaubt, daß es zum Aufnehmen der Landwirthschaft, und Tilgung der noch immer darinn herrschenden Vorurtheile, nützlich seyn könnte zu sammlen sich bemüht.

Da aber nicht blos das, was in dem Feldbau und der Viehzucht, odern andern ländlichen Geschäften vorfällt, einen vollkommenen Wirth zu bilden im Stande ist, sondern ihm auch eine nähere und genauere Kenntniß der Landesverfassungen, besonders derjenigen, die in die so nothwendige Landespolizei einen Einfluß haben und wodurch eine glückliche Betreibung eines Gewerbes befördert wird, nöthig ist, so hat der Hr. Verfasser hierauf ebenfalls sein Augenmerk gerichtet, und wird in den herauszugebenden Reisen von vielen Landesinstituten und dabei vorgefallenen Veränderungen ein mehreres Licht geben.

Und da der größte Theil der Landgüter sich in den Händen des Adels befindet, so haben den Hrn. Herausgeber die verschiedenen Familienumstände der Güterbesitzer, deren Eigenthum er bey seinen Reisen berührt hat, zugleich um so mehr mit beschäftigen müssen, da der Adel eines jeden [<130>] Landes, eine eigene und besondere Gesellschaft ausmacht, deren Mitglieder die Verbindung, worinn sie mit einander stehen, nicht gleichgültig seyn kann, dergleichen Nachrichten auch allemal vor die einzelnen Familien selber auf künftige Zeiten nützlich seyn werden.

Dieser dreifache Gegenstand wird den Inhalt eines Werks ausmachen, das sich durch die Wichtigkeit der Materie, so wie durch die Art der Behandlung, von selbst empfehlen wird.

Diese kleinen ökonomischen Reisen werden wir auf gutes Papier und schönen Druck in zwey gr. 8. Bänden, jeder zu ein und ein halb Alphabet stark liefern. Der erste erscheinet zur Ostermesse 1785, und der zweyte zu Michaelis desselben Jahres.

Um dieses so nützliche Werk in desto mehrere Hände zu bringen, sind wir entschlossen solches um einen sehr billigen Preiß auf Vorschuß zu drucken.

Wer auf den ersten Band bis zu Ende März 1 Rthlr. in Gold an uns bezahlt und franco einsendet, erhält zu Ostern diesen Band ohne weitern Nachschuß — und zahlet zugleich auf den 2ten Theil bei den Empfang des 1sten abermal 1 Rthlr., nach Ablauf der Pränummeration wird das Werk nicht anders als um 3 Rthlr. verkauft. Wer auf 12 Exemplare pränumerirt erhält das 13te frei. Die Exemplarien werden in Züllichau und Leipzig franco abgeliefert.

Züllichau, den 25. Januar 1785.

Waisenhaus und Frommannische
Buchhandlung.