ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Ueber die Schwärmerei.

Maimon, Salomon

Die Eintheilung einer Wissenschaft in einem gemeinen und höheren Theil z.B. die gemeine und höhere Geometrie, Chemie u.d.g. ist entweder in der Art den Gegenstand dieser Wissenschaft zu betrachten gegründet. In dem gemeinen Theil wird er so betrachtet, wie er am leichtesten in die Augen fällt. Der auf dieser Art bestimmter Begriff desselben wird in diesem Theil den daraus zuziehenden Folgen zum Grunde gelegt, ohne sich darum zu bekümmern, ob nicht dieser Begriff allgemeiner gefaßt, und also die daraus zuziehenden Folgen nicht blos für ihn, sondern für alles was unter ihm begriffen ist, gelten können?

In dem höheren Theil hingegen wird der Begriff des Gegenstandes in seiner höchsten Allgemeinheit genommen. Der Gegenstand wird nicht blos so betrachtet, wie er in die Augen fällt, sondern seiner Entstehungsart nach, und so wie ihn der Verstand denken muß, wenn die größte systemati [44] sche Einheit dieser Wissenschaft erhalten werden sollte.

So wird z.B. ein Zirkel der gemeinen Geometrie als eine Linie erklärt, die in allen ihren Theilen von einem gewissen Punkt (dem Mittelpunkt) gleich weit ist. Die aus diesem Begriff zuziehenden Folgen gelten blos für den Zirkel, nicht aber für eine andere krumme Linie. In der höheren Geometrie aber wird der Zirkel als eine krumme Linie der zweiten Ordnung durch eine allgemeine Gleichung bestimmt. Die aus dieser Gleichung zuziehenden Folgen gelten daher nicht blos für den Zirkel, sondern für alle Linien dieser Ordnung; u.d.g. mehr.

Oder diese Eintheilung hat in der Verschiedenheit der Gegenstände selbst (die aber doch in einem Gattungsbegriff übereinstimmen, wodurch sie zu einer einzigen Wissenschaft gehören) ihren Grund so wie z.B. die Rechnung des Endlichen und des Unendlichen in der Mathematik.

In diesen beiden Rücksichten denke ich, kann auch die Erfahrungsseelenkunde in der gemeinen und höheren Erfahrungsseelenkunde eingetheilt werden. Der Gegenstand jener sind die aus der Erfahrung bekannten so genannten niedern Seelenkräfte (Sinne u.s.w.). Der Gegenstand dieses aber, die höheren Seelenkräfte (Verstand, Vernunft), ihre Krankheiten und Wiederherstellungsmethoden. Zwar bin ich überzeugt, [45]daß die höheren Seelenkräfte an sich, unmittelbar keinen Krankheiten unterworfen seyn können. Doch kann dieses durch die Krankheiten der niedern Seelenkräfte allerdings statt finden.

So äussern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkräfte in derjenigen Würkungsart unsers Erkenntnißvermögens die sich auf bestimmte Objekte beziehet (Vorstellungen, Begriffe und Urtheile.) Die Krankheiten der höheren Seelenkräfte aber äussern sich, wie ich nachher zeigen werde, hauptsächlich in dem Trieb unsers Erkenntnißvermögens das, seiner Natur nach Unbestimmbare zu bestimmen (Ideen als reelle Objekte darzustellen). Von dieser Art ist z.B. die Schwärmerei.

Die Schwärmerei ist ein Trieb der produktiven Einbildungskraft (das Dichtungsvermögen,) Gegenstände die der Verstand, nach Erfahrungsgesetzen, für unbestimmt erklärt, zu bestimmen.*) 1

[46]

So lang als man die Ideen dieser Art für nichts anders ausgiebt, als was sie sind, für Ideen, die blos zum regulativen Gebrauch unserer Erkenntniß bestimmt sind, ist man kein Schwärmer. Man wird es nur alsdann wenn man die Natur dieser Ideen verkennt, und reelle Objekte da-[47]durch zu bestimmen sucht. Hier ist die Grenzscheidung zwischen Philosophie und Schwärmerei und der Uebergang von jener zu diese. Die Methaphysik überschreitet diese Grenze. Da sie aber ihre Objekte nur durch diese Ideen bestimmt, und keine diesen widersprechenden Bestimmungen hinzudichtet, so ist sie gleichsam blos der Anfangspunkt der Schwärmerei, aber noch keine Schwärmerei. Aus der subjektiven Einheit des Bewußtseyns eine objektive Einfachheit der Seele, aus der Persönlichkeit in der Erkenntniß, Unsterblichkeit zu demonstriren, ist freilich ein Fehler im Denken. Aber so lange man der Seele (um sie näher zu bestimmen) keine diesen widersprechenden Bestimmungen hinzudichtet (das Flügen zum Himmel, das Essen und Trinken im Paradies u.d.g.) ist man noch kein Schwärmer, und so auch in andern Fällen.

Ich werde hier so wenig von diesem hohen Ursprung der Schwärmerei, als von der groben Schwärmerei, die nicht in diesen absoluten hohen Trieb des Erkenntnißvermögens, sondern in einem komperativ überspannten Trieb desselben gegründet ist (wenn der Trieb zur Erkenntniß die vorgelegten Data und ihre völlige Entwicklung übertrifft) sprechen. Sondern blos von der höheren Schwärmerei, die aus der Natur der Ideen ihren Ursprung nimmt, und die nicht blos bei der reinen Methaphysik stehen bleibt, sondern sich [48]die Gegenstände derselben durch allerhand Bilder faßlicher zu machen sucht, und dadurch eine unvermeidliche Verwirrung nach sich ziehet. Dieses alles läßt sich aber besser durch Beispiele als durch allgemeine Beschreibungen begreiflich machen.

Ich werde daher zu diesem Behuf ein paar Abschnitte aus einem Buche von einem Italiener Jordan Bruno von Nola a (nach Hrn. Jakobi Uebersetzung) b analysiren, das Gründliche vom Schwärmerischen darin gleichsam durch eine chemische Operation absondern, und überlasse es meinem Freunde und Mitherausgeber dieses Magazins, das zurückgebliebene caput mortuum nach seiner vortreflichen Manier in psychologischen Darstellungen zu beugen.

Fußnoten:

1: *) Ich stimme mit Hr. Kant in der Lehre der Ideen und den daraus zuziehenden Folgen vollkommen überein. Nur behaupte ich wider diesen großen Philosophen, daß die Ideen nicht in der Vernunft, sondern in der Einbildungskraft ihren Grund haben. Ich erkläre die Vernunft nicht als das Vermögen der Prinzipien, sondern als das Vermögen das Mannigfaltige der Erkenntniß nach Prinzipien zu verbinden. Welche Erklärung mit dem übereinstimmt, was alle Philosophen bis auf Kant von der Vernunft behauptet haben, daß sie das Vermögen mittelbar zu urtheilen, oder zu schließen ist. Die Vernunft dringt keinesweges auf Totalität unserer Verstandserkenntniß. Sie verbindet nur so viel als ihr gegeben wird. Daß wir immer die Vordersätze eines Schlusses wiederum durch Prosyllogismen zu beweisen suchen, ist allerdings wahr. Dieses ist in der Natur unseres Erkenntnißvermögens überhaupt und in dem allgemeinen Trieb nach der höchsten Vollkommenheit gegründet, nicht aber eben in der Natur der Vernunft, sondern, wie ich schon bemerkt habe, der transzendenten Einbildungskraft.
Die Lehren von Gott, Unsterblichkeit, und Moral werden auch durch diese Behauptung keinen Abbruch leiden. Nur daß diesen allen nicht (wie nach der Kantischen Philosophie) die Form der Vernunft, sondern (wie nach der Wolfisch- Leibnizischen) der Trieb nach der höchsten Vollkommenheit, zum Grunde liegen wird.
Doch erwarte ich hier über das Urtheil unpartheiischer Denker.

Erläuterungen:

a: Bruno 1584.

b: Die Übersetzung erschien als Beilage zur 2. Ausgabe von Jacobi 1789, S. 261-306.