ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Von S. M. an K. P. M.


Dieser Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, den Sie mir geschickt haben, verdient, wie ich dafür halte, hier vorzüglich eine Stelle. Der Verfasser ist sowohl in Ansehung der darin vorgetragenen Gedanken, als ihrer Einkleidung, ganz originel. Da er aber das Exterieur nicht für sich hat, indem er noch aus keinem Meßkatalogus bekannt, und nicht etwa Herr Professor N.... sondern simpel weg Andrei Peredumin Koliwanow heißt; da ferner seine Sprache auch nicht die Sprache der feinen Welt und der Hochgelahrten ist, indem er sich zuweilen in der plattdeutschen Sprache ausdrückt, wo er glaubt, daß diese seinen Gedanken am angemessensten sey; so ist in unsern aufgeklärten Zeiten, wo hauptsächlich auf das Exterieur gesehen wird, zu besorgen, daß eine solche Schrift gänzlich übersehen werden möchte. Ich hoffe also, der Leser werde mir es Dank wissen, wenn ich ihn auf diese reichhaltige Schrift aufmerksam mache. Allein aus einer originellen Schrift, die ganz Kern ohne Schaale ist, läßt sich kein Auszug machen; ich will hier daher blos einige psychologische Bemerkungen, die mit meinen bisher festgesetzten Grundsätzen in der genauesten Verbindung stehen, daraus anführen, [91]und versichere den Leser, daß ihn die Mühe nicht gereuen wird, diese Originalschrift selbst mit Aufmerksamkeit durchzulesen. Des Verfassers Hauptgrundsatz ist dieser: Die menschliche Vollkommenheit und folglich auch Glückseeligkeit, besteht in einer gleichmäßigen Ausübung aller Seelenkräfte zugleich. Der Verstand (praktische) ist ihm zufolge das den Willen bestimmende Resultat, welches aus Zusammennehmung und Vergleichung aller möglichen Gefühle entspringt. Eine Untugend, Sünde oder wie man es sonst nennen will, bestehet in der Weglassung irgend eines Gefühls aus dieser Vergleichung, das heißt, in der Unvollständigkeit derselben. Der Verfasser sagt: (S. 17.) »Alles was wir Angewohnheit nennen, kommt darauf zurück, daß man zuerst eine Nullität in einer Genügsnehmung begieng (dieses heißt, in meine Sprache übersetzt: daß man bei Vergleichung der den Willen bestimmenden Gefühle etwas weggelassen hat), und sich vor Wiederholung derselben nicht in Acht zu nehmen wußte; da ward Belüstung daraus, Fertigkeit, Gewohnheit, gleichsam andere Natur.«

Der Verfasser kann nicht leiden, daß die Philosophen gemeiniglich Gefühle, Verstand und Willen für ganz heterogene Seelenvermögen halten, da die letztern doch nichts anders, als Resultate einer vollständigen Vergleichung der Gefühle sind. [92]»Wo ist hier (frägt der Verfasser) Einheit des Geistes, die doch jeder in sich fühlt? voila les deux hommes en moi même que je connois bien, rief Ludwig der 14te sehr erbauet, bei einer Arie von Racine, die diese Zweispaltigkeit des innern und äußern Menschen beklagte. Dagegen der wackere Luther es sehr lobte, wenns hübsch uneinig in uns hergienge: es sey gut, wenn der Mensch einen obern und untern Willen fühle, sonst sey der geistliche Tod schon da.«

Ich bemerke aber hier, das man den wackern Luther mit unserm wackern Verfasser leicht vereinigen kann. Die physische Vollkommenheit des Geistes beruhet freilich, wie der Verfasser behauptet, auf der Einheit desselben, die jeder in sich fühlt. Hingegen beruhet seine moralische Vollkommenheit auf dem formalen Vernunftgesetz und dem freien Willen, im Gegensatze der aus den Gefühlen entsprungenen Neigungen. Hierinnen hat also Luther vollkommen Recht, wenn er sagt, daß, wenn der Mensch nicht einen obern (freien) und untern (aus Gefühlen entsprungenen) Willen in sich fühle, so sey der geistige Tod schon da, weil alsdann die moralische Vollkommenheit, die das eigentliche Daseyn des Geistes ausmacht, zernichtet wird, wie ich dieses im vorhergehenden Aufsatze gezeigt habe.

S. 20. 21. heißt es: »Es ist also keinesweges der Verstand, der aus seinem Vorrath angebohrner oder eingetrichterter Ideen etwas hervorlangt, [93]und dem Willen zu vollziehen aufträgt, oder bei äußern reizenden Vorfällen seine Regeln und Vorschriften mit dem Neuvorkommenden vergleicht und dieses darnach regulirt und beurtheilt; sondern umgekehrt, die Gefühle tragen den Mitgefühlen die Miterkenntniß auf. Sie unter sich müssen die Sachen abmachen und executiren, beides, die potestas legislativa et executiva, können nicht getrennt werden. Da wo man sie zu trennen genöthigt ist, erweckt man Verdacht, sich mehr aufgeladen zu haben, als man beschicken kann, welches, so gewöhnlich es ist, so lächerlich ist. Gefühle müssen einander selbst balanziren und kontrebalanziren, das ist das wahre Reciprokum im jure publico animi humani. Die ganze Kraft des Geistes besteht überhaupt im Anziehen der gefühlten Genüge, und ist also pur Fühlen und Anziehen, d.i. Wollen das, was ihn konvenirt. Dies schließt von selbst das Abweisen des Gegentheils in sich. Es genüget ihm aber nichts, als worauf er vom Urheber gestellet, oder dagegen er in ein solches Verhältniß, gleichsam Gefuge, gesetzt ist. Ueberdem aber kann er sich auch selbst noch ex post stellen, und hat er das auf die größere Genüge gethan, so verschmähet er die kleinere, zieht sie nicht an.«

Ferner S. 39: »Es müssen einige ganz von einander abgehende Empfindungen bei einem Anfänger sich gleichsam aneinander zu reiben Gelegenheit haben, ehe Klarheit oder Entwickelung, so ge-[94]ring sie denn auch ist, aufkommen kann. Immer einerlei Lage, einerlei Manches erhält im Schlafe. Aber Kontraste, Anstöße, contraria, ja sogar nur disparata wecken auf.«

Sehr wichtig ist die Bemerkung des Verfassers, (S. 73 und 74.) daß der hauptsächlichste Vorzug des Menschen vor den Thieren in der (thätigen) imagination (dem Dichtungsvermögen) bestehe.

Hier sind seine eignen Worte:

»Woher kommts, daß der Mensch alle seine Gefühle, »zwar so ungleich langsamer, aber endlich in einem weit höhern Grade entwickelt, als irgend ein Thier? Fehlts dem letztern an der regen Lebhaftigkeit derselben? Bei einigen ganz und gar nicht, in welchen sie uns im Gegentheil oft übertreffen, der Anschein wenigstens ist zuweilen recht beschämend wider uns. Es muß ihnen also an einem Vermögen fehlen, das wir haben und allen unsern übrigen dergestalt zum Wetzstein dient, oder sie electrisirt, daß sie erst dadurch so großer Thaten fähig, so rüstig und so innig verbunden werden. Was sollte das für eines seyn? Vermuthlich die Unterscheidungskraft? Glaub's nicht. Der Witz? Eben so wenig — obgleich beide in den Thieren den unsrigen nicht beikommen, aber sie haben davon auch schon ihr Theil recht gut. Nun so ist es die Vernunft; ja ja, die wirds seyn, die fehlt ihnen ganz und gar! Nicht so sehr; denn wenn [95]man den Anfang der unsrigen betrachtet, die Erwartung ähnlicher Fälle, so haben sie die gar schön. Daß sie aber auf diesen guten Anfang nicht weiter hinausbauen können, eben so wenig als der übrigen Gefühlsarten, das kommt ganz anders wo her. Mit einem Worte, an der Imagination scheint es ihnen zu fehlen.«

»Das ist nun der gewöhnlichen Meinung der Pneumatiker nicht gemäß, die aus den Träumen, welche man an Thieren bemerkt, ihre Imagination genugsam bewiesen glauben. Aber kann die nicht das Gedächtniß allein schon hinlänglich gewähren? Die Imagination nimmt aus allem, also auch aus dem Gedächtniß ihre Zusammenstellungen, aber ihr Geschäft ist ganz ein anders. Erinnerungen braucht sie auch. Thut es doch die Vernunft, der Witz, der Scharfsinn — haben die deswegen keine andere Stütze oder Ressource als das Gedächtniß? Das Wesentliche derjenigen Gefühlart, die wir Einbildungskraft nennen, besteht in dem Vermögen, nicht nur Würklichkeiten aus dem jetzigen oder ehemaligen Bereich zusammenzustellen und vorzuführen, sondern auch bloße Möglichkeiten. Aber noch nicht genug, selbst Unmöglichkeiten oder das Wunderbare zu haschen, sie mit jenen allen zu vergleichen, ihre Konvenienz oder Diskonvenienz, wie weit sie geht oder nicht geht, zu fühlen, sich daraus die Wahrscheinlichkeit zu ziehn, und die Unwahrscheinlichkeit [96]zu entdecken — das ist es, was wir erst Imagination nennen.«

Dieses stimmt auch aufs genaueste mit dem von mir festgesetzten Princip überein, daß nehmlich die moralische Vollkommenheit oder Seelengesundheit auf der Selbstthätigkeit der Seele beruhet, das heißt: auf dem Vermögen eine Reihe Ideen zweckmäßig fortzusetzen, abzubrechen oder mit einer andern zu vertauschen. Die Thiere zeigen in ihren Handlungen, in Ansehung derjenigen Ideenreihe, wozu sie vermöge eines besondern Instinkts geschickt sind, Witz und Vernunft; sie können aber diese Ideenreihe nicht nach Willkür unterbrechen, und eine andre an ihre Stelle setzen. Da aber, wie ich hoffe, der Leser gewiß begierig seyn wird, diese wichtige Schrift ganz zu lesen; so mag dieses von mir Angeführte zur Probe genug seyn.

Salomon Maimon.