ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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6.

Mystische Vorstellungsart vom Fegefeuer. a

Guyon, Jeanne-Marie

Gott ist eine höchst vollkommne einfache Wesenheit ohne einige Vermengung: Und wir sind um so viel vollkommner, je mehr wir Gott ähnlich sind. Derohalben stehet geschrieben (Matth. 5, 48.) Seyd vollkommen, gleichwie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Dieses Gleichwie, kann niemalen genommen werden für eben so viel nach der Größe oder Hoheit, sondern für eine unvollkommne Aehnlichkeit in der Art und Eigenschaft der Vollkommenheit. Die Vollkommenheit unsers Geistes bestehet demnach in der Einfalt (oder in einem einfachen Wesen, das nicht vervielfältiget ist). Diese Einfalt und*) 1 die Einheit machen unsern Geist rein und vollkommen: Jemehr unser Geist einfältig oder einfach und entblößt ist, je vollkommner ist derselbe. Diese Einfalt macht unsern Geist eins mit Gott; weil eine solche Einfalt (oder einfaches Seyn) machet, daß unser Geist Gott ähnlich wird, welcher ist ein einiges und einfaches Wesen; [105]und setzet man voraus, was gesagt worden, daß es der allerhöchsten Wesenheit eine Nothwendigkeit ist, alle ihr gleichförmige Wesen zu sich zu ziehen; so ist es unmöglich, daß diese allerhöchste Wesenheit sich nicht mit demselben vereinige, welches wahrhaftig einfach und rein ist; denn weil diese allerhöchste Wesenheit sich diesen Geist ähnlich gemacht hat, so muß es auch diesen Geist mit sich vereinigen.

Die Reinigkeit des Geistes bestehet demnach ohnwidersprechlich in seiner Blöße und Einfältigkeit. Nun aber ist zu wissen, daß gleichwie es ohnmöglich ist, daß Gott eine reine und in der Einfältigkeit stehende Seele nicht mit sich selbst vereinigen sollte, also ist es auch auf eine gleiche Weise ohnmöglich, daß diese Seele könne gereiniget werden, bis zu einem solchen Grad, der erfordert wird, um mit Gott vereiniget zu werden, ohne nur durch Gott selbst. Die Creatur, vermittelst des Beistandes der Gnade, kann sich zwar wohl durch ihre Würksamkeit in die Gemüthsfassung setzen, um von Gott gereiniget werden zu können; allein diese Creatur kann doch niemals durch sich selbst sich bis zu einem solchen Grade reinigen, als es erfordert wird, um mit Gott vereiniget zu werden. Die Ursach davon liegt in der Natur und Eigenschaft eben dieser Vereinigung.

Wir haben gesehen, daß die Reinigkeit, die uns mit Gott vereiniget, der Natur Gottes müsse theilhaftig gemacht werden, und uns Gott gleich-[106]förmig mache. Gott ist eine höchst reine Wesenheit, und ohne Vermischung mit etwas anders. Wir müssen daher rein gemacht werden, und ohne einige Vermischung einiger eignen Würksamkeit. Diese Einfältigkeit Gottes macht seine Reinigkeit; daher ist es nothwendig, daß unsre Einfältigkeit auch unsre Reinigkeit mache. Es kann aber diese Einfältigkeit nicht erworben werden, ohne nur durch die Entblößung. Wann Gott ein Wesen (oder Creatur), das in seiner Beschaffenheit von seiner Wesenheit verschieden und anders ist, mit dieser seiner Wesenheit vereinigen könnte, ohne solches sich vorher gleichförmig zu machen; so würde Gott aufhören rein zu seyn, und würde durch diese Vermischung eine seiner Reinigkeit entgegen seyende Eigenschaft an sich nehmen, und folglicher Weise würde er sich selbst zerstören durch eine Sache, die der Natur seiner Wesenheit entgegen und zuwider ist. Demnach ist es eine Nothwendigkeit, daß Gott sich gleichförmig mache die Seele, welche er mit sich vereinigen will. Gleichwie nun aber alle und jede eigne Würksamkeit der Creatur macht, daß diese Creatur allezeit in der Vielfältigkeit stehet, daß sie allezeit sich selbst gleich und ähnlich ist, und daß sie allezeit in sich selbst versenkt bleibt: so ist es nur die Bewürkung Gottes, welche das Vermögen hat, die Seele Gott gleichförmig zu machen, und folglicherweise sie zu reinigen.

[107]

Aus dieser Ursach sind auch die Seelen im Fegefeuer blos passiv oder leidsam, und Gott selbst ist es, der sie reiniget. Wenn sie eigene Würksamkeit hätten, um sich reinigen zu wollen, so würden sie in einer würklichen Unvollkommenheit (des Willens) sich befinden, deren sie aber unfähig sind. Es ist daher eine Nothwendigkeit, daß Gott durch seine Gerechtigkeit, die wie ein verzehrendes Feuer ist, die Seelen läutere, und in ihnen zerstöhre, was in diesem Leben nicht ist verzehrt, zerstöhrt und gereiniget worden, und daß Gott auf solche Weise diese Seelen zur Aehnlichkeit und Gleichförmigkeit mit ihm selbst bringe.

Gott reiniget in der Seele das, was sie von Grobheit in sich hat, eben also gleichwie die Sonne die Luft reiniget; immaaßen die Luft allein die Fähigkeit hat, das Licht der Sonne auf eine lautere Weise zu empfangen, und gleichsam mit dem Licht der Sonne vermischt zu werden. Die Sonne durch ihre Lichtstrahlen ziehet an sich die groben Dünste, welche die Luft verdicken, und verhindern, daß das Licht nicht gänzlich noch völlig in diese Luft eindringen kann. Gleichwie diese Unreinigkeiten allezeit eben dieselben bleiben würden, wenn die Sonne solche nicht an sich zöge, und weil auch die Sonne niemals diese Unreinigkeit mit ihrem Licht vereinigen könnte, wenn sie dieselben nicht reinigte, so geschiehet es nothwendiger Weise, daß die Sonne, indem [108]sie diese Unreinigkeiten an sich zieht, solche auch zugleich reiniget. Denn die wesentliche Eigenschaft der Sonne besteht nicht weniger darinnen, daß sie durch ihr Ansichziehen reinige, als daß sie an sich ziehe. Eben also macht es auch Gott. Er macht den Anfang damit, daß er die Seele in ihrem Innern an sich zieht. Und dieses hat man sehr wohl mit dem Wort (Atract,) Zug oder Ansichziehen ausgedrückt.

Fußnoten:

1: *) Eine Anmerkung der französischen Edition sagt: Oder die Blöße. Wann die Seele von allem Eigenthum und von allem eigenthümlichen Besitz ist entblößet und ausgeleeret worden, so ist sie auch von aller Vielfältigkeit befreiet, sie ist einfach und in der Einheit. <M.>

Erläuterungen:

a: Vorlage: Fleischbein 1769. Vgl. dazu Wingertszahn 2002, S. 16f.