ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Beobachtungen über Taubstumme. a

Eschke, Ernst Adolf

Zweiter Versuch.

Wie ich im ersten Stücke des achten Bandes dieses Magazins S. 58. schon erzählte: unser Lebrecht war sehr vom Geniewesen angesteckt, und daher lauter Phantasie, gleich einem mondsüchtigen Dichter.

Lebrecht fand an einem andern Zöglinge im Institute, Christlieb K., den Freund seines Herzens. Mir war diese Freundschaft keineswegs lieb; denn Christlieb war ein widriger konfiszirter Junge, bettelarm an Seele und Leib. Noch bleibt mir es ein unerklärtes Phänomen, wie Lebrecht an ihn sich hängen konnte.

Es ist ausgemacht, daß sowohl kluges Betragen als dumme Aeusserung eben so ansteckend ist als Krankheiten, und Christlieb that unserm Lebrecht unsäglichen Schaden. Das Gute, das ich in diesem mühsam mit Ameisenfleiße zu Haufen schlepte, jagte jener öfters in einem Hui wieder fort.

Lebrecht war nicht allzulange im Churfürstlichen Sächsischen Institute zu Leipzig, b als er die ersten Landkarten bei uns sah. Anfänglich hielt er sich bloß bei den dabei befindlichen Bildern auf, bei den Schiffen, Fischen, Jägern, Schnittern und Thieren. Allein er merkte bald, daß dies nicht die [38]Absicht eines so großen Blattes seyn könne, und fragte mich daher über die Absicht dieser mit so verschiedenen Farben bemalten, und mit so vielen Worten bedruckten Blätter. Ich zeichnete die Stube, worin wir uns befanden, auf ein Blatt Papier; in die Mitte schrieb ich das Wort Tisch, in jeder Ecke Stuhl, an die Seiten Büreau, Thüre u.s.w. Kannst du dir wohl vorstellen, sagte ich zu ihm, daß die vierseitige Figur hier die Stube vorstelle?

Lebrecht.*) 1

O ja! die Figur ist so länglicht, eben als die Stube; die Figur hat die schräge Ecke da auch so eben.

Ich.

Siehst du da in der Ecke, wo der Stuhl steht, habe ich hier auch Stuhl geschrieben; und siehe: hier der runde Fleck in der Mitte, wo ich das Wort Tisch beigeschrieben habe, bedeutet den Tisch. Steht nicht hier in dieser kleinen Figur, welche die Stube vorstellt, der Tisch und der Stuhl auch auf derselben Stelle, als in der Stube selbst?

Lebrecht.

O ja! Sie haben vergessen noch etwas.

[39]

Ich.

Nun was denn Lebrecht?

Lebrecht.

Sie haben gezeichnet den Ofen hierin noch nicht.

Ich.

Wo müßte ich ihn denn wohl hinsetzen?

Lebrecht.

Da, an die Ecke.

Ich.

Du hast ganz recht, Lebrecht. Du siehst also hieraus, daß man einen großen Raum im Kleinen zeichnen, und alles nach Proportion in eben dem Orte darin machen kann, wo es im Großen steht. Nicht wahr?

Lebrecht.

O ja! ich sehe das deutlich recht.

Ich.

Glaubst du denn wohl, daß ich auch das ganze Haus so zeichnen, und in meiner Zeichnung alle Stuben und Kammern dahin setzen könne, wo sie im Hause liegen?

[40]

Lebrecht.

O! Sie thun es doch!*) 2 zeichnen Sie dies Haus einmal.

Ich.

Siehe hier, dies stellt die vier Hauptmauern des Hauses vor: da ist die Hausthüre; wenn man da hereintritt, so ist linker Hand die Stube, wo wir drinnen sind; hier neben an ist meine Bücherkammer, und daneben die Schlafkammer, und dann meines Vaters, des Herrn Direktor Heinike, Studierstube. Meinst du, daß ich alles in der Ordnung gezeichnet habe, in der es sich im Hause befindet?

Lebrecht.

Richtig; die Plätze viereckigte liegen in der Ordnung eben hier an einander, als die Zimmer im Hause.

Ich.

Eben so wie ich hier die Stube und das Haus im Kleinen gezeichnet habe, kann man auch die ganze Stadt im Kleinen zeichnen. Man nennt eine solche [41]Zeichnung, die eine Stadt mit ihren Straßen, Plätzen und Hauptgebäuden vorstellt, einen Grundriß.

Lebrecht.

Ach! wir hätten einen Grundriß von Leipzig doch so wenn!

Indem ich ihm erklärte, warum er sagen müsse: »Ach! wenn wir doch so einen Grundriß von Leipzig hätten!« holte ich meinen Atlas, und zeigte ihm denselben.

Lebrecht.

O! da ist abgemalt die Stadt ganz!

Ich.

Dabei wollen wir uns nicht aufhalten! dies hier unten ist nur die Stadt von außen abgezeichnet: das da oben aber ist der Grundriß.

Lebrecht.

Ey, was ist das?

Ich.

Das sind die Strassen.

Lebrecht.

O! die Strassen aussehn nicht so.

[42]

Ich.

Bist du schon einmal auf meinem Thurm gewesen?

Lebrecht.

Nein. Ach! Sie mit nehmen mich einmal.

Ich.

Ja, künftigen Donnerstag sollst du mit. Dann wirst du sehn, daß von oben herunter die Straßen eben so anzusehn sind, als hier; daß sie sich eben so durchschlängeln, und so krumm und unordentlich durch einander laufen, als hier auf dem Papier die schmalen weißen Streifen da zwischen dem Rothen.

Lebrecht.

Ach! der große Platz ist der Markt wohl?

Ich.

Ganz recht, Lebrecht! nun suche mir auch das Rathhaus.

Lebrecht.

Das Rathhaus ist hier. Das Rathhaus ist der große dunkelrothe Fleck. Ach! warten Sie, lassen Sie aufsuchen mich den neuen Kirchhof. Auf dem neuen Kirchhof ich wohne. Herr Direktor Heinike wohnet auf dem neuen Kirchhof; und Herr Eschke wohnet auf dem neuen Kirchhof auch. [43]Bei ihnen wohnen die Frau Direktorin Heinike, Madame Eschke, Mademoiselle Heinike, Mienchen, Malchen, taubstumme Brüder Gottlieb, Adam, Friedrich, Bachmann, Irmscher, Christlieb, Gustav, Georg und Johann, taubstumme Schwestern: Lore und Ernestine auf dem neuen Kirchhof auch. Sie sehn: der grüne Fleck bedeutet den neuen Kirchhof gewiß?

Ich.

Richtig, mein lieber Lebrecht! du glaubst es also wohl, und kannst dir es recht gut vorstellen, daß man einen großen Raum, eine Stadt im Kleinen auf dem Papier mit allen seinen Theilen vorstellen kann?

Lebrecht.

O ja! ich sehe das hier ja!

Ich.

Ein Land ist ein noch viel größerer Raum, als eine Stadt, seine Theile sind Städte, wie Leipzig, Wittenberg u.s.w. Dörfer, wie Schönfeld, Raschwiz, Gohlis u.s.w. Flüsse, wie die Pleisse, Elbe u.s.w. Berge, wie der Borsberg, Blossin u.s.w. Wälder, wie der Harzwald u.s.w. Glaubst du wohl, daß man es auch im Kleinen auf dem Papier abzeichnen könne?

[44]

Lebrecht.

O ja!

Ich.

So wirst du auch begreifen können: was diese bemalten und mit Wörtern bedruckten Blätter bedeuten. Dies sind Landkarten u.s.w.

Ich habe von Lebrecht noch Vieles auf dem Herzen: das Auffallende seiner Gesichtsbildung und körperlichen Bewegung; sein Betragen, wenn er wegen Nachlässigkeit oder Muthwillen ernsthafte Verweise erhält, oder wegen seines Fleißes und seiner Ordnung gelobt wird. Aber ich will hievon erst im dritten Versuche handeln.

Eschke.

Fußnoten:

1: *) Ich lasse seine Wortfügung unabgeändert.
Eschke.

2: *) Man merkte an Lebrecht's Stimme, daß dies keine Frage, sondern daß sein Syntax fehlerhaft; und er sagen wollte: »Thun Sie es doch!«
Eschke.

Erläuterungen:

a: Eschke publizierte anschließend weitere Beobachtungen zu Lebrecht F. in der Berlinischen Monatsschrift (Eschke 1795/1796,) 'Erster Versuch', Bd. 26, S. 535-547 und 'Zweiter Versuch', Bd. 27, S. 336-356.

b: die erste Taubstummenanstalt in Deutschland, 1778 von Eschkes Schwiegervater Samuel Heinicke gegründet.