ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Ueber den Zweck der Thränen.

Gruner, Johann Ernst

Aus einer ungedruckten Schrift über den Trost.

»Laß mich ausweinen,« sagt der Traurige, und wenn er lange und viel geweint hat, so wird er auch beruhigter; die Vorstellung des verlornen und geliebten Gegenstandes steht nicht mehr so lebhaft in ihm auf, wie vorher.

Wenn dies die Thränen wirklich vermögen, so beschleichen wir hier wieder die Natur auf einem der wohlthätigsten Wege. — Sie lehrt ja aber auch das Thier im Walde die Pflanze finden, die seine Wunde heilt; und wie sollte sie da den Menschen ganz sich selbst überlassen und nichts für ihn thun? Das thut sie aber auch nicht, sondern zu Wasser und zu Land, wenn ich mich so ausdrücken darf, sucht sie den Traurigen von seinem Hinsehnen nach dem, was er mit Schmerzen verloren hat, abzuwenden.

[20]

Das stete Eindringen der neuen Eindrücke von innen und außen, wenn sie auch oft von der stärker regen Vorstellung des Verlustes zurückgeschlagen worden, tritt endlich doch, wie wir gesehen haben, alle Spuren der Vorstellung des von dem verlornen Gegenstande aus; die Gehirnfibern, die ihn erweckten, nehmen durch die erhaltenen neuen Eindrücke auch neue und andere Bewegfertigkeiten an.

Die Thräne hingegen verschwemmt die Spuren, die den verlornen Gegenstand beherbergten.

Denn die Thränen sind Feuchtigkeiten, die sich aus den Thränendrüsen ergießen; diese stehen aber in Verbindung mit dem Gehirn und Nerven, und besonders mit dem Sehnerven. Jede Drüse besteht in einem Geflechte von Adern und Nerven, und ihre Verrichtungen beruhen nicht bloß auf physischen Gesetzen, sondern auch mit auf dem Einfluße der Nervenkräfte, und zuweilen sind sie auch Seelenwirkungen.*) 1

Da nun auch durch die Seele es bewirkt wird, daß die Thränendrüsen sich öfnen und ergießen, so kann man nach der Verbindung und dem vorhandenen gegenseitigen Einfluß dieser Drüsen mit dem [21]Gehirn und den Nerven, und nach der Gehirn- und Nervenmaße folgern; daß die Feuchtigkeiten, die sich ergießen, derjenigen Gehirnfiber vorzüglich, die den verlornen Gegenstand erweckte, und nun die Ursache des Thränenflusses ist, die Maße von flüssigen Theilen und Säften wegnehmen, die zur leichten Bewegung erforderlich ist.

Es wird also jetzt schwerer, daß diese Gehirnfiber sich bewegt, und einem neuen Eindruck wird es nun auch leichter, Besitz zu nehmen. Und wie konnte die Natur weiser und besser handeln, als daß sie die dem Geiste Traurigkeit verursachende Fiber ganz abspannte und sie ihres Dienstes entließ? Denn wenn die Gehirnfiber nicht anschlägt, so hat die Seele keine Vorstellung.

Nach Bonnets *) 2 sinnreicher Vorstellung ist das Seelenorgan einem Klavier, und die Seele selbst dem Spieler desselben zu vergleichen; und hier hätte also alsdann die Natur eine Saite so abgerissen, daß wohl eine andere, aber niemals die alte Saite aufgezogen werden könnte; es war unmöglich gemacht worden, den alten Ton ganz wieder hervorzubringen.

Die Thränenbehälter befinden überdies sich zu ihrem Zwecke in einer so glücklichen Lage, nehmlich in der Nähe des Sehnervens.

[22]

Nun ist aber kein Sinn bei dem Traurigen geschäftiger, als der des Sehens, welcher zugleich mit der Einbildungskraft in so geheimer und enger Freundschaft steht. Der Sinn des Hörens und das Gedächtniß ist dem Traurigen vielweniger gefährlich.

Die Einbildungskraft giebt uns die Sache ausgemacht in allen ihren Theilen und hingestellt in wirklich gewesene Verhältnisse und Umstände wieder; das Gedächtnis hingegen, welches eine später sich zeigende Fähigkeit ist, behält blos die willkührlichen Zeichen, die Worte, auf.

Das Wort ist gleichsam das Netz, welches über die sämtlichen Theile der Vorstellung geworfen wird und sie zusammenhält; das Wort schiebt uns die Vorstellung in die Gattung und Art, selten oder niemals aber in das Individuelle.

An dem bloßen Wort gnügt sich aber der Traurige niemals; er verindividualisirt sich alles; jeder Zug des abgeschiedenen Freundes ist lebhaft ausgemacht vor ihm.

Wenn aber der Traurige weint, so wähnt er so oft, dadurch den verlornen Gegenstand noch zu ehren; und wenn er zu weinen aufgehört hat, so fühlt er sich leichter; indem also der Leidende in der Meinung steht, er leiste dem geliebten Gegenstande noch die letzte Pflicht, so weiß er nicht, daß die Natur ihn dazu zwingt, daß durch seine Thränen, die Vorstellung an den vermißten Gegenstand in [23]ihm nach und nach verloren geht, und daß er selbst wieder in den Gemüthszustand gesetzet wird, welcher zur Erfüllung seiner Pflichten als Mensch und Weltbürger am zuträglichsten ist.

Allein es kann mir eingewendet werden: Wie vertragen sich mit dieser Hypothese folgende Erfahrungen? Niemand weint leichter als Kinder und Greise; auch weint ja der Leidende nicht allein, sondern auch der Freudige vergießt bisweilen Thränen. —

Ich antworte: So oft die Natur, nicht aber die Kunst, die so vieles erkünstelt, Thränen sich ergießen läßt, so sind Eindrücke dem Gemüthe überbracht worden, die zu heftig und daher dem vortheilhaftesten Gemüthszustande nicht zuträglich sind.

Allzugroße Freude kann tödten; und oft ist es vielleicht allein das Werk der fließenden Thränen, daß dieser Erfolg verhindert wird. Das Kind und der Greis müßen mehr und leichter weinen, als der gesetzte und der gebildete Mann, weil geringere Grade des Angenehmen und des Unangenehmen sie schon viel tiefer rühren, und viel leichter und empfindlicher ihren Gemüthszustand verändern.

Uebrigens untersuchten wir hier auch nur, was die Natur durch die Thränen bei dem Traurigen bewirken läßt; und in dieser Rücksicht verdient noch die allgemeine Erfahrung bemerkt zu werden; daß der Mensch vielmehr leidet, dessen Körperbau die leichtere Ergießung der Thränen verhindert.

[24]

Es ist Trieb der Natur, des Schmerzes loß zu werden, und hier wird die Natur daran gehindert. Die Gehirnfibern, die die unangenehmen Vorstellungen erwecken, sind reger wie jede andere, und maßen sich Alleinherrschaft an.

Die stockende Thräne beängstigt noch mehr. Darum soll der Traurige weinen, denn

expletur lacrymis egeriturque dolor.

Der Trost aber kömmt allein aus der Vernunft; doch dies gehört hieher nicht.

J. E. Gruner,
S. coburgischer Canzleysecretair.

Fußnoten:

1: *) Man sehe hierüber Unzers erste Gründe einer Physiologie. §. 156, 172, 209, 285, 471. Hallers Grundriß der Physiologie, nach Meckels Ausgabe von 1788. p. 205, 382. etc. 401. Cartesius de passionibus. Art. 128, 129. a

2: *) Essai de Psychologie. p. 13. b