ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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11.

Fragment aus dem vierten Theil von Anton Reisers Lebensgeschichte. a

Moritz, Karl Philipp

Hier nahm nun die Idee des ruhigen Bleibens auf einmal wieder so sehr bei ihm die Oberhand, daß er jetzt, in seinem neunzehnten Jahre, an seinen Freund in H.... schrieb, er hoffe und wünsche nunmehr den Rest seiner Tage in Erfurt zu beschließen.

Seine lernende Laufbahn sollte nehmlich hier unmittelbar in die Lehrende übergehn, und so sollte das Ziel aller seiner Wünsche und Hofnungen dann erreicht seyn. — Auf alles übrige Glänzende glaubte er nun Verzicht gethan zu haben, und alle die schimmernden Theaterphantasien schienen auf eine Zeitlang aus seinem Kopfe verschwunden zu seyn.

Er war nun doch auf einmal in eine neue Welt versetzt, und hatte gegen seinen Aufenthalt in H.... immer erstaunlich viel gewonnen.

Wenn er auf den Wällen von Erfurt um die Stadt spatzieren gieng, so fühlte er lebhaft, daß er durch eigne Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen, und seinen Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft verändert hatte.

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Wenn er dann die Glocken von Erfurt läuten hörte, so wurden allmählig alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege — der gegenwärtige Moment beschränkte sein Daseyn nicht — sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war.

Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst anfing ihn zu interessiren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstückt, betrachtete.

Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Daseyn, war es immer, das ihm Verdruß und Eckel erweckte.

Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. — Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Mühe des Denkens werth. —

Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gänzliches Vergessen seiner Selbst wünschen — ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort — und er konnte sich nie erklären, warum er in diesem Augenblicke lebte.

Im Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige — er übersah das Leben immer mehr im Ganzen — die Ortsveränderung war noch neu — seine Einbildungs-[92]kraft war durch das Immerwiederkehrende noch nicht gefesselt. —

Dieß Immerwiederkehrende in den sinnlichen Eindrücken scheint es vorzüglich zu seyn, was die Menschen im Zaum hält, und sie auf einen kleinen Fleck beschränkt. — Man fühlt sich nach und nach selbst von der Einförmigkeit des Kreises, in welchem man sich umdrehet, unwiderstehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb, und flieht das Neue — es scheint eine Art von Frevel, aus dieser Umgebung hinauszutreten, die gleichsam zu einem zweiten Körper von uns geworden ist, in welchen der erstere sich gefügt hat.

Reisers Wohnung auf der Kirschlache hatte selbst, so schlecht sie war, etwas Anziehendes für ihn — es war eine Reihe kleiner Häuser, längst einem kleinen Kanale hingebaut — es war doch keine ganz eingeengte Straße, sondern das vorüberfließende Wasser, und selbst die Kleinheit der Häuser trugen dazu bei, dieser Gegend der alten Stadt ein freieres, ländliches Ansehn zu geben.

Hinter dem Hause war gleich die alte Stadtmauer, von welcher man die Aussicht nach dem Kartheuserkloster hatte.

Die Mauer war oben zum Theil mit Graß bewachsen, und an verschiedenen Orten halb eingefallen, so daß man bequem hinaufsteigen konnte.

Nun hatte die Aussicht über die Gärten nach dem Kartheuserkloster hin so etwas Romantisches, [93]das Reisern unwiderstehlich anzog, und seine Blicke auf jenen stillen Sitz der Einsamkeit heftete, nach welcher er eine heimliche Sehnsucht empfand. —

Da das Gebäude seiner Phantasie gescheitert war, und er die geräuschvollen Weltscenen weder im wirklichen Leben, noch auf dem Theater hatte durchspielen können, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegt, mit seiner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.

Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden, in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reitz für ihn — und diese Abgeschiedenheit erhielt in seinen Gedanken einen desto höhern Werth, je größer das Opfer war, das er brachte. — Denn das, worauf er Verzicht that, waren seine liebsten Wünsche, die in sein Wesen eingewebt schienen. —

Die Lampen und Kulissen, das glänzende Amphytheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf. —

Die hohe Mauer, welche das Kartheuserkloster umschließt, das Thürmchen auf der Kirche, die einzelnen Häuschen, die innerhalb der Mauer in einer Reihe nach einander stehn, und wovon jedes durch eine Mauer vom andern abgesondert, ein eigenes Fleckchen zum Garten hat; dies alles macht einen sehr interessanten Anblick, und diese Höhe der Mauer, diese einzelnen Häuser, und diese Gärtchen dazwischen, bezeichnen sehr auffallend und bedeutend [94]die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Bewohner dieses Orts.

So oft die Glocke auf dem Thürmchen angezogen wurde, tönte sie in Reisers Ohren, wie die Sterbeglocke aller irrdischen Wünsche und Aussichten, in die Zukunft dieses Lebens. —

Denn hier war nun das Ziel von allem — nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus den Bezirk dieser Mauren treten — er fand hier seine immerwährende Wohnung, und sein Grab. —

Das Geläute der Kartheuser wird noch mehr durch die Art, mit der es geschieht, und durch seine Langsamkeit traurig und melancholisch. —

So wie nehmlich die Kartheuser sich auf dem Chor versammlen, thut jeder nach der Reihe einen Zug an der Glocke, und nimmt darauf seinen Platz ein, bis alle vom Aeltesten bis zum Jüngsten hereingetreten sind.

Nun horchte Reiser auf den Schall dieser Glocke zuweilen in der stillen Mittagsstunde, zuweilen um Mitternacht, oder bei frühem Morgen, und jedesmal erneuerte sich der Eindruck davon so lebhaft in seinem Gemüthe, daß immer das ganze Bild der Einsamkeit und Stille des Grabes mit erwachte. —

Es kam ihm vor, als ob diese abgeschiedenen Menschen ihren eigenen Tod überlebten, in ihren Gräbern umher wandelten, und sich einander die Hände reichten —

[95]

Mit dieser Idee wurde er nach und nach so vertraut, und sie wurde ihm so lieb, daß er sie manchmal um die angenehmsten Aussichten in das Leben nicht hätte vertauschen mögen.

Er hatte nun auch wieder einen Brief von Philipp Reiser aus Hannover erhalten, der eben so wie ehemals die Gespräche desselben, statt einer besondern Theilnehmung an seines Freundes Schicksale, eine etwas weitläuftige Schilderung seiner damaligen Liebe enthielt, und wie weit er nun schon in dieser Liebe gekommen sey, und was ihm noch für Hindernisse im Wege ständen.

Demohngeachtet trug Reiser diesen Brief beständig bei sich, und laß ihn zum öftern durch, weil Philipp Reiser doch sein einziger Freund war.

Ohnweit der Kirschlache war ein angenehmer Spatziergang, wo zwischen grünem Gebüsch im Thale sich ein klarer Bach ergoß. — Die Aussicht war rund umher gehemmt, und man befand sich in einer reitzenden Einsamkeit. —

Hier brachte Reiser manche Stunde auf den grünen Rasen am Ufer des Baches zu, und dachte über sein Schicksal nach, und wenn er zu denken müde war, so laß er den Brief seines Freundes durch, den er, so wenig ihn auch der Inhalt interessirte, am Ende fast auswendig lernte — denn er hatte doch einmal nichts zu lesen, was ihm näher gewesen wäre, als dieser Brief.

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Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebürtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstädte vertauscht — und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte.

Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihn, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief laß, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte.

Darum war ihm unter den Studenten auch O... so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am öftersten von ihm unterredete.

Dieser O... war damals ein junger liebenswürdiger Schwärmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreitz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefühle — zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefühlvolles Herz.

An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartheuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hineinzugehen.

Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kürze des Lebens unterhalten, wobei zu [97]bemerken ist, daß Reiser damals neunzehn und O... zwanzig Jahr alt war, und wußten nicht, was sie mit dem Rest ihrer Tage anfangen sollten, als sie in dem Kloster anlangten, und in die Kirche traten, welche schon durch ihre leeren weißen Wände, und den einsamen Chor die Stille des Grabes predigte.

Die Kirche wird nehmlich außer den Karthäusern selber fast von niemand besucht, und weil keine Gemeinde dazu gehört, so ist hier auch weder Kanzel noch Stühle oder Bänke, sondern nichts als die leeren Wände und der flache Boden, welches dieser Kirche, bei dem dämmernden Lichte, das von oben durch die Fenster fällt, ein sehr ernstes und melancholisches Ansehn giebt.

O... und Reiser knieten ganz allein an einem Pult vor dem Chore, als die weißgekleideten Mönche einer nach dem andern hereintraten, und jeder sich bückend seinen Zug an der Glocke that.

Sie setzten sich an ihre Pulte auf dem Chor und stimmten ihren Bußgesang in tiefen, traurigen Tönen an — bald standen sie auf und sangen Hymnen, die traurig zurück erschallten; dann fielen sie auf ihr Angesicht, und flehten in tiefen klagenden Tönen um Erbarmung. —

Ganz an dem einem Ende des halben Zirkels stand ein Jüngling mit blassen Wangen von ausnehmend schöner Bildung — Reiser konnte seine [98]Augen nicht von den seinigen wenden, die er andachtsvoll gen Himmel schlug. —

O... kannte diesen Unglücklichen, der in den Orden der Karthäuser getreten war, weil der Blitz seinen Jugendfreund an seiner Seite erschlagen hatte — und Reisern schwebte das Bild dieses Jünglings von nun an beständig vor der Seele. —

Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer hinter seiner Wohnung zu, und sehnte sich in den Bezirk jener stillen Mauren hin, die seiner Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren Täuschungen und Blendwerken ausschlossen. —

Mit jenem Jüngling wollte er dort verblühen, und dem Grabe zuwelken — dort wollte er selber sein einsames Gärtchen bauen, — den sanften Strahl der Abendsonne in seiner Zelle begrüßen — und allen irrdischen Wünschen und Hofnungen entnommen mit Ruhe und Heiterkeit dem Tode entgegen sehen.

Als er schon einige Tage in diesen Gedanken vertieft gewesen war, kam O... zu ihm und sagte, daß die Studenten in Erfurt willens wären eine Komödie zu spielen, und daß einige Rollen noch unbesetzt wären. — — —

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 383-390 u. 1043-1048.