ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Aus einem Briefe. a

Anonym

Ist Ihnen jedes Phänomen am Horizont der menschlichen Natur wichtig genug, so wird Ihnen dieses — gleichviel auf welcher Sternwarte entdeckt — gewis auch willkommen seyn.

Zu — studierte vor einiger Zeit ein gewisser —g, ein junger Mann von anerkannten großen Fähigkeiten. Der Hauptzug seines Charakters war ein gewisser kalter Spott, den ich wohl aus einer hellern Intuition der menschlichen Dinge, als gewöhnlich ist, herleiten möchte.

Denn sein kerngesunder Verstand ließ sich nicht leicht von seinem warmen Blute, oder wenn man lieber will, sein Kopf ließ sich von seinem Herzen nicht leicht bestechen.

Sein Herz war sonst das beste, und wenn er sich auch zuweilen über Gefühle lustig machte, die andern eine Quelle von Wonne sind, so waren ihm doch die Gefühle der Freundschaft desto heiliger, [7]von der er immer mit einer gewissen Ehrerbietung, und mit einem würdigen Ernste sprach. —

So lebte er dann auf der Universität ein Jahr in der beneidenswerthesten philosophischen Ruhe.

Nach Verlauf dieses Jahrs kam ein junger Herr von ** nach eben der Universität, und dies war der Zeitpunkt, wo —g's Natur völlig umgeschaffen wurde. Der junge Herr von ** war Einer der schönsten jungen Leute die ich je gesehen. Eine Sittsamkeit und eine Würde deren natürlichsten Folgen Liebe und stille Hochachtung seyn mußten.

—g war, als träfe ihn ein electrischer Schlag, als er ihn das Erstemal sah. Ueber sein Gesicht, sonst nur der Ausdruck der unbefangenen Vernunft, und der geläutertsten Phantasie, jagten sich jetzt wechselseitig Ausdrücke von Empfindungen, wie sich Schatten von Wolken an einem Herbsttage über die Erde jagen.

Kam er ihm von ungefähr so nahe, daß er ihn berühren mußte, so bemerkte man eine sichtbare Angst und ein geheimes Zittern an ihm, und doch konnte ihn nichts aus den Zirkel entfernen, in welchem der Herr von ** war. —g war überall, wo er nur vermuthen konnte, daß von ** sey, und als dieser einmal verreist war, erkundigte er sich genau nach dem Tage seiner Zurückkunft, und reiste ihm, ob es gleich das unangenehmste Winterwetter war, drei Meilen entgegen, um mit ihm [8]in einem Wirthshause, wie von ungefähr zusammenzutreffen, und einige Zeit um ihn seyn zu können.

Seine Ruhe des Geistes hatte ihn gänzlich verlassen, und er ward von einer Unruhe herumgetrieben, die das größte Mitleiden seiner Freunde erweckte, nur daß sie bei einem so ausserordentlichen Falle auf kein Mittel kommen konnten, ihn zu heilen.

—g selbst war von einer sehr angenehmen Bildung, er hatte etwas sehr Hohes in Gestalt und im Gange, und so zog er auch des Herrn von ** Aufmerksamkeit auf sich, und es war augenscheinlich, daß er auch etwas Aehnliches für —g empfand.

Allein eine gewisse Aengstlichkeit von beiden Seiten ließ es nie zu einer Erklärung kommen, welches vielleicht das Einzige gewesen wäre, diesem für ihn sowohl als für seinen Freund so unangenehmen Zustande abzuhelfen.

Merkwürdig dabei war's wohl, daß —g mit einer Art von Wuth über Shakespear's Sonnetten, die er an seinen jungen Freund gerichtet, herfiel, und sie in kurzer Zeit alle auswendig konnte. Er recitirte, so oft er sich allein dünkte, einige davon, und das mit einer Innigkeit, begleitet mit einer Gestikulation, die seine Freunde ausser sich brachte.

Er versicherte mich einmal, daß keiner so gut wie er die Sonnetten je verstanden habe, und [9]dabei drückte er mir die Hand und Thränen stockten in seinen Augen. —

Nun kam die Zeit, wo er diese Akademie verlassen, und sie mit einer vaterländischen vertauschen sollte.

Er ging vor seiner Abreise noch einmal in ein Collegium, wo er gewis war, den Herrn von ** zu treffen, sah ihn fast die ganze Stunde unverwandt an, und schien ganz ruhig abzureisen.

Er blieb anderthalb Jahre auf dieser Akademie, und seine Landsleute schrieben uns: —g sey ein ganz andrer Mensch geworden, er sey still und äußerst melancholisch, und man befürchte, daß ihn diese Schwermuth nie verlassen würde.

—g ging nach vollendeten Studien nach seiner Vaterstadt zurück, wo ich ihn eben bei einer Durchreise gesprochen habe.

Es waren grade drei Jahr, da er zum erstenmale den Herrn von ** gesehen.

Er hatte unterdeß eine langwierige und schmerzhafte Krankheit ausgestanden, welche sein Nervensystem doch ziemlich durchschüttert haben mußte, allein weder die Krankheit, noch die Länge der Zeit hatten vermocht, seine unglückliche Leidenschaft ihm aus der Seele zu nehmen.

Sey's daß Krankheit, oder seine Leidenschaft, oder Beide zu gleichen Theilen ihn so verändert, kurz — ich sah in ihm einen ganz andern Menschen.

[10]

Statt des herzlichen Willkommens womit er sonst seine Freunde begrüßte, lächelte er mir düster entgegen, wie die Herbstsonne — ein mattes unbedeutendes Lächeln, aus dem man nichts machen konnte.

Er unterhielt mich mit dem, was dem Herrn von ** unterdeß begegnet sey — unbedeutende Kleinigkeiten.

Die Veränderung meines Schicksaals schien ihn wenig zu interessiren, ihn der sonst so warmen Antheil an Allem nahm, was seine Freunde anging. Ich verließ ihn bald, weil mich bei ihm graute.

Ich warf mich in dem schmerzlichsten Gefühle in meinen Wagen. Ich war ganz allein; ich dachte über die menschliche Natur nach, und ich gesteh's, ich ward so kleinmüthig, daß ich mich vor mir selbst fürchtete. Kaum war ich in dem nächsten Wirthshause angekommen, als ich mich auf mein Zimmer schloß, und um mich meines peinlichen Gefühls zu entledigen, meine Empfindung in diesem Aufsatze auszuschütten suchte, und meinem unglücklichen Freunde eine stille Thräne weinte.

τὰ παιδικὰ liegen gewis nicht zum Grunde, dafür stehe ich; aber Freundschaftsgefühle äussern sich doch auch nicht so.

Hat man schon Beispiele von einer so seltsamen Verirrung der menschlichen Natur? und wie wäre meinem Freunde zu helfen?

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 103-106.