ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Beobachtungen zur Seelennaturkunde.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Ich fühle in mir keinen stärkern Trieb, als den Trieb zur Thätigkeit. Ein einziger geschäft-[93]loser — müßiger Moment ist Tortur für meine Seele. Sie fühlt in sich das Leere; und das Gefühl der Leerheit im Menschen kann nur das peinlichste seyn. Der Würkung nach, vermöge des stillen Tobens einer heftigen unbefriedigten Begierde, und der verzehrenden innerlichen, oft sich äußerlich empörenden, aufbrausenden Unruh, kömmt dieses Gefühl der Sehnsucht am nächsten. Ganz natürlich. Im Menschen ist ein ewiger, und ununterbrochener, nothwendiger, wechselseitiger Einfluß der Seele und des Körpers. Da die Urkräfte eines lebendigen Körpers stets wirksam sind, und die Lebenssäfte stets in ihrem Kreislauf herumgetrieben, folglich die inneren Werkzeuge und der Seelenorgan stets regegemacht werden, und theils, indem sie auf den Körper zurück wirken, ihr Bedürfniß — durch die äußern Werkzeuge äußern müssen; theils in sich selbst Vorrath aufsuchen; das Gedächtniß zu Hülfe nehmen, und veraltete Ideen zurück rufen. So ist der ganze Mensch thätig, so muß alles in ihm thätig — würkend seyn. — So ist der Trieb zur Geschäftigkeit allgemein, und in der menschlichen Natur gegründet. Die Hauptsache bleibt dieselbe; so unabänderlich die menschliche Natur im allgemeinen ist; so unabänderlich sind die Triebe, die in ihrer Wesenheit angepflanzt liegen. Menschliche Natur im Individuum aber modifizirt sich; so wie ihr Verhältniß zu andern Individuen; folglich auch ihre Triebe [94]nach eben dem Verhältniß zu andern Menschen, Thieren, oder leblosen Dingen.

Die Natur des menschlichen Individuums ist die wechselseitige, Ein- und Zurückwürkung der Seele und Körperkräfte dieses oder jenes Menschen; so wie die Natur des Körpers der Mechanismus desselben ist, und die Natur der Seele, die Kraft zu empfinden, zu denken und zu wollen, als eben so viele wesentliche Eigenschaften einer einzigen Urkraft in der einfachen Substanz.

Man sieht oft deutlich, wie die Modifikation der menschlichen Natur, (nicht der einzelnen des Körpers, oder der Seele), die Triebe im Menschen modificire. Es scheint aber der Seele der Aushaltungstrieb zu fehlen; ich meine das Ankleben, das starre ununterbrochene, langwährende Ausharren der Seele an einem Standpunkt ihrer Kraft; es scheint, ihre Kraft vermag nur bis zu einem gewissen Grade des Ausharrens hinan zu steigen, nach dessen Ueberschreitung sie schlaff wird, und sich nach Ruhe sehnt. Die Nachlassung der angespannten Seelenkraft folgt in einem Subjeckt eher, im andern später; ob aber diese endliche Erschlaffung allgemein sey? darüber will ich jeden zu seiner Selbstbeobachtung aufrufen; so wie ich die meinige fortsetzen werde; übrigens wird man sie nicht so leicht a priori demonstriren, noch aus der Analogie der Körperskräfte darthun können; obwohl sie [95]vielleicht, durch den jetzigen Zustand der Seele in Verbindung mit dem Körper erklärbar wäre.

Ich kann nicht umhin, hier eine Bemerkung anzuschliessen; wozu ein mir jüngst in die Hände gerathner Plan einer abzuhandelnden Seelenlehre den Anlaß gab.

Die beste Behandlung einer Seelenlehre, glaub ich, wird diese seyn: wenn man Körperlehre, insbesondere die des menschlichen Körpers vorausschickt, welche beide die Menschenlehre heissen. Nur ein solches System, wo von einem Rücksicht auf das andere genommen, und mit dem andern verbunden untersucht wird, kann eine deutliche und gründliche Seelenlehre, kann unverfälschte Menschen- und Seelenkenntniß erzeugen, und richtige Imputationsregeln angeben. So läßt sich leichter auf die Existenz eines Wesens kommen, das wir Seele nennen; nähmlich: durch das Geistige unserer Vorstellungen erster und anderer Classe, und ihre Inkompatibilität mit der Materie, dann kann man auch desto sicherer zu der Untersuchung ihrer Natur, ihres eigenthümlichen und selbstständigen Wesens schreiten.

Ist ja der Körper unserer Seele das nächste, muß ich nicht von der Aeuserungsart auf die äußernde Kraft schließen? und würkt unser Geist nicht durch die Sinne, welche auch zugleich seine Würkungsart bestimmen, da sie den Grund derselben in sich fassen? Unsere Psychologen vergessen [96]meistens jene Eigenschaften und Kräfte abzuhandeln, die ihren Grund einzig in der Verbindung beider Substanzen haben. Hieher gehören auch jene Kräfte, deren Entwicklung das Daseyn und die Mitwirkung entsprechender Kräfte der andern Substanz nothwendig hat. Giebt das eine solide Menschenkenntniß; wenn man jede Substanz abgesondert, ohne Rücksicht auf die andere und ihren jedesmahligen, nothwendigen Einfluß untersucht? einseitig wird sie; — einseitig die ganze Beurtheilung des Menschen und seiner Handlungen etc. Ist doch der Mensch nicht blos Seele — nicht blos Körper; er ist Körper und Seele; — ein durch die nothwendige, beständige, wechselsweise Ein- und Zurückwirkung beider Kräfte und Naturen zusammenfließendes Ganze. Wie vieles Licht würde eine solche Menschenlehre über das eigenthümliche Wesen der Seele, über das, was ihr bleibt nach der Trennung, und zugleich über unsern moralischen Zustand verbreiten! Wie würde sie dabei noch öffentliche- und Privattoleranz befördern!

L. A. Schlichting.