ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden.

Schubart, Ludwig Albert

1787 im Nov.

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— Ich denke nun die Merkwürdigkeiten dieser Stadt so ziemlich durchgemacht zu haben, und muß Ihnen gestehen liebster Freund, daß ich weit mehr Anziehendes darinn fand, als ich mündlichen und schriftlichen Nachrichten zufolge erwarten durfte. Dieß gilt von würdigen und interessanten Menschen eben so gut, als von politischen- litterarischen- und Kunst-Merkwürdigkeiten. Gestern führte mich mein Freund Doctor H*. zweiter Leibmedicus des Fürsten, nach unsrer Verabredung ins Tollhaus, welches er Amts halber selbst zu versehen hat. Er gestand mir, daß sich anfangs, als ihm diese Pflicht auferlegt wurde, seine ganze Menschlichkeit dagegen empörte, und daß ihn die gräßlichen Gruppen von Menschenelend, und von fluchender Verzweiflung und viehischer Fühllosigkeit eine geraume Zeit für Freude und geselligen Umgang abgestumpft hätten. Mählig aber hab' er sich durch den täglichen Anblik an das Schauspiel gewöhnt, und eine reichere Quelle als irgendwo zu neuen physiologisch-psychologischen Ideen und Beobachtun-[91]gen gefunden, welche er zu seiner Zeit dem Publicum mittheilen werde.

Die äußere und innere Einrichtung des hiesigen Tollhauses hat mir ungemein wohl gefallen. Das Gebäude liegt hoch, gesund, und öffnet eine der schönsten Aussichten ins N—thal. Es hat vier Stokwerke, wovon jedes aus einer Reihe kleiner reinlicher, und mit allen Nothwendigkeiten versehener Zimmer besteht, die armen Unglüklichen sind hier nicht wie Vieh aufeinander gedrängt, und die Einflüsse des Mondes müssen ungewöhnlich stark und Menschenfeindlich seyn, wenn man hier zwei und drei Hirnkranke in einem Zimmer beisammen findet. Ich selbst fand unter den eigentlich Tollen, die im untersten Stokwerk hausen, durchgehends in jedem Gemach nur einen. In den obern Stokwerken, wo sich solche befinden, die entweder auf dem Weg der Beßerung, oder nur periodisch krank, oder nur noch zur Prüfung da sind, fanden wir zwar bisweilen mehrere beisammen. Diese werden aber strenger als andere bewacht, und getrennt, so bald bey einem die Krisis ausbricht. H.— sagte uns, er habe dies Beysammenseyn schon in verschiedenen Fällen als die beste Methode gebraucht, Scheinbargesunde zu prüfen, und so oft drey und mehrere zugleich gänzlich geheilt. Es wäre zu wünschen, daß diese Behandlungsart an andern Orten nachgeahmt und die Aufsicht über dergleichen [92]Personen überhaupt immer nur philosophischen Aerzten anvertraut würde. So aber fand ich selbst in den größten berühmtesten Städten Teutschlands Tollhäuser, wo oft ein Dutzend und mehrere Seelenkranke in ein niedriges, schmuziges Zimmer hineingepreßt waren, wo der Rasende, der Tolle, der Wahnsinnige, Aberwitzige, der Halbkranke, der Genesene in ekelhafter Verworrenheit neben einander lagen, und die widerkehrende Natur gewaltsamer Weise von der unheilbaren Wuth des Nachbars angestekt, und in den Abgrund eines fürchterlichen lebendigen Todes hinabgerissen wurde! —

Mein Freund H*. erzählte uns, als er uns an den verschiedenen Gemächern herumführte, manche intereßante, psychologisch wichtige Geschichte von den Unglüklichen, die wir sahen. — Wir stiessen ein paarmal auf so barokkische Hanswurstfiguren, daß mich mitten unter den traurigsten Vorstellungen ein unwiderstehlicher Kitzel zum Lachen anwandelte. Der eine hatte ein paar Beinkleider auf seine Pritsche gelegt, und zerdrosch den Großsultan, den er unterm Hammer zu haben wähnte, so unbarmherzig, daß Se. Türkische Majestät wie mürber Zunder aus einander fuhren; — der andere las einem bemüzten Haubenstok, den er für Gott den Vater hielt, wegen einer zerbrochenen Flasche, den Leviten so kräftig, daß ihm die Mütze vom Kopf flog; — dort massakrirte einer als [93] Alexander Magnus mit seinem Pantoffel alle Fliegen seiner Klause, und wähnte eben so viel Perser erwürgt zu haben; — hier bot ein anderer dem Teufel — einem schwarzen Hosenfragment, das an der Wand hieng, eine Priese Tabak, daß er ihn in Ruhe lassen sollte; u.s.w.

Ganz im Hintergrunde des untern Stockes fanden wir einen rasenden Magister, bei dem die Wuth eben auf ihren höchsten Grad gestiegen war. Er hielt sich für das graunvolle Wesen aus der Offenbahrung Johannis — mit der Sternenperücke, wie er sich ausdrükte, — dem Mondgesichte — dem Wolkentalar, und den gigantischen porphirnen Kurirstiefeln. Eben stund er auf seinem Tische mit ausgestrekten Armen, und warf auf seine Gemeinde — sie bestund aus einem halben Dutzend Arzneytöpfen, — einen ganzen Hagelregen Ebräischer, Griechischer, und Lateinischer Sarkasmen hinunter. Sein geschorner Kopf war mit Goldflittern besäet — seine Backen aufgedunsen, sein weißes Bettuch hieng ihm bis auf den Boden hinab, und seine beschmuzte Universitätsstiefel hatte er über den Tisch ausgestrekt. Wir hatten ihm schon eine ziemliche Weile zugehört, als er mit einmal vom Tisch sprang, ein paar Töpfe aus seiner Gemeinde ergrif, und sie mit solcher Wuth durchs Gitter nach uns warf, daß wir uns kaum noch vor seinem mystischen Grimm zurückziehen konnten.

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Sollten Sies wohl glauben, sagte mir H. beim Weggehen, daß dieser Mensch vor sechs Tagen noch auf meinem Zimmer schlief, mit mir aß, spazieren gieng, und über die merkwürdigsten Gegenstände der Litteratur und Philosophie mit voller Gegenwart des Geistes sprach? — ja daß er neugierige Fremde allein im Hause herumführte, und sie von dem Zustand und der Geschichte der merkwürdigsten Narren unterrichtete? —

Ich. Mein Gott, und wie kam er in so kurzer Zeit in diesen fürchterlichen Zustand? Er scheint mir unter all' ihren traurigen Alumnen der bedaurenswürdigste zu seyn.

H*. Seine Geschichte ist die merkwürdigste aber auch die grauenvollste unter allen, so mir bisher vorgekommen sind. Der Psycholog bleibt entsezt vor seinem Gemählde stehen, der führende Stab entsinkt ihm, und er kann nur ohne Leitgestirn zum Unerforschlichen hinauf staunen.

Nachdem wir im ganzen Hause herum waren, verlohr sich H. mit mir in eine angrenzende Allee, und fuhr fort:

»Der Vater des beweinenswerthen Mannes, von dem wir so eben sprachen, ist ein reicher biederer Pächter der Nachbarschaft. Er entdekte in diesen seinem einzigen Sohn früh schon Anlagen, die ihn in einen größern Würkungskreis zu rufen [95]schienen, als den ihm seine Geburt, und sein Stand anwiesen. Er schikte ihn also aufs hiesige Gymnasium, besuchte diesen seinen Liebling oft, und das Herz im Leibe lachte dem wakern Manne bey den guten und immer bessern Nachrichten, die er jedesmal von seinem Franz einzog. Weil ich damals schon das Dorf des Pächters zu versehen hatte, so kannt ich ihn lange her, und war leider mit eine unschuldige Ursache, warum er seinen Sohn den Studien weihte. Er besuchte mich, so oft er in die Stadt kam, schüttelte mir öfters die Hand und rief freudetrunken: O wie hat er so wahr gesprochen, liebster Doktor! — der Bube ist unserm Schulmeister schon Tannenhoch über den Kopf gewachsen. Meiner Seel, wenns so fort geht, so wird er ein Kerl leibhaftig wie er. Da frag' er nur, da hör er nur wie der Blizjunge schon schreiben, und lesen, und rechnen, und Figuren machen, und Lateinisch, und Griechisch, und Gott weiß was er alles kann!! Er soll mir aber auch bey meinem Großvater auf die Universität nach T**. und soll mir ein Geistlicher werden, und predigen lernen, daß es 'ne Lust ist. Was meint er, wenn mein Goldfranz im schwarzen Mantel und Kragen auf der Kanzel perorirt, ob wir da aufpassen wollen? O laß mich der liebe Gott diese Freude auch erleben, eh ich in die Grube fahre!«

Freudeträhnen rollten dem guten Mann die Wangen herab. Nur einen Blik in die Zukunft, [96]guter Gott, und wie so ganz anders wäre alles geworden; — wie glüklich lebte der Alte jezt mit seinem Kinde! Wie ruhig hätt er auf dieser Stüze entschlummern können! —

Franz war jezt 16 Jahr alt, hatte in öffentlichen Prüfungen schon verschiedene Preise erhalten, und war nicht nur in den meisten Sprachen und Wissenschaften, die auf dem Gymnasium getrieben wurden, der Erste, sondern hatte sich noch durch sein Privatstudium andere gründliche Vorbereitungskenntniße für die Universität erworben. Geliebt und geehrt von seinen Lehrern und Mitschülern verließ er das L—sche Gymnasium, und blieb ein Halbjahr bey seinen Eltern auf dem Lande, wo er in Geräuschloser Zurükgezogenheit sich ganz der Philologie und Philosophie weihte, nur selten, und immer nur wissenschaftlicher Gegenstände wegen die Stadt besuchte, und auf seinem Dorfe außer seinen Eltern mit niemand als mit dem Amtmann, einem geistvollen Belletristen, und mit seinem gelehrten Herrn Pfarrer Umgang pflog, und, wie sich Se. Hochwürden ausdrükten, Honigsüsse Lateinische Verse schrieb.

Sowohl eigner Drang des Jünglings, als der Rath verschiedner erleuchteter Freunde bestimmten endlich den Vater, seinen Liebling auf die Universität nach T**. zu schicken. Seine Vorkenntnisse, [97]sein schnelles Fassungsvermögen, und sein Privatfleiß zogen hier in kurzem die auszeichnende Aufmerksamkeit seiner Lehrer auf ihn. Er machte den ganzen philosophischen Cursus durch, und hatte sich die Wolfische Philosophie, die damals gäng und gäbe war, bald so eigen gemacht daß er ein paarmal bei öffentlichen Disputationen seinem Präses den kalten Schweis aus der Stirne trieb.

Im dritten Jahre begann er seine Theologische Laufbahn, und dieß mußte der Abgrund seyn, in welchen alle seine Anlagen und Kenntnisse, alle seine Plane, und Aussichten, all die süssen Träume, und Hoffnungen seines Vaters, und seiner Freunde auf ewig versanken.

Das Studium der Kirchengeschichte, und der Bibel im Grundtext zog bald die ungetheilte Aufmerksamkeit seiner ganzen Seele an. Alle übrige Theologische Wissenschaften trieb er nur, in so fern sie ihm Licht über dies Buch aller Bücher leihen konnten. Ich weiß nicht, welch ein unseliges Ungefähr ihn frühzeitig antrieb, die Offenbahrung des Johannes zum Hauptgegenstande seiner Schriftforschung zu machen. Vielleicht seine lebhafte Phantasie, — vielleicht Neigung zum Wunderbaren und Mystischen; — vielleicht auch eben die Schwierigkeit, womit die Auslegung dieses dunkeln, bildlichen, von einer glühenden Dichter-Phantasie er-[98]zeugten Buches verbunden ist, — zogen ihn an, der Auslegung und Deutung desselben alle seine Seelenkräfte zu widmen. Damals hatten wir die treflichen philosophischen Wegweiser zu Erklärung dieser Theosophischen Visionen noch nicht. Das meiste, was darüber geschrieben war, schien mehr gemacht zu seyn, den Forscher in noch dunklere Gewinde des Mysticismus zu verwickeln, als ihn herauszuleiten. Franz las alles, was er über sein Lieblingsthema auftreiben konnte, vernünftelte, sann, hing aller Warnungen seiner Freunde ungeachtet Nächte lang über Folianten, die von Aberwitz und Scholastischen Träumen strozten, und in nicht gar einem Jahre ward der trefliche, vielversprechende Jüngling erst verrükt,— dann toll;— dann rasend, und an Ketten gelegt.

Die Grade seiner traurigen Verirrung verlohren sich, wie mir einer seiner Lehrer und theilnehmendsten Freunde schrieb, ganz unmerklich in einander. Mählig wurde der Gedanke an sein Thema in seiner Seele herrschend. Bald wuchs er, gleich einer Eiche über all seine übrige Ideen, und Vorstellungen empor, und entzog ihnen, mit Shakspear zu reden, die Lebenssäfte zur Entwiklung, daß sie wie Blumen welkten, und vergingen. — Alles bezog er nun auf die Offenbahrung, wollte alles, am Ende sogar Dinge des gemeinen Lebens daraus erklären, darauf zurükführen, — darin finden, [99]und sah und hörte, und las, und dachte und empfand alles nur im Bezug auf seine Offenbahrung. Er äußerte dies zuerst in den öffentlichen Theologischen Vorlesungen. Eben der wackere Mann, mit dem ich, über den Ausbruch seiner Seelenkrankheit korrespondirte, las über die Dogmatik, und pflegte Franzen, als dem Scharfsinnigsten unter seinen Zuhörern, häufig während seiner Vorlesung schwere und verwickelte Fragen vorzulegen. Bald fiel es ihm auf, wie ein Kopf, der ehemals die schwierigsten Aufgaben so schön auf die lautersten Grundsätze der Philosophie zurükführte, sich nun auf einmal so ganz in die Offenbahrung verliehren konnte. Er entfernte also seine Fragen absichtlich von diesem Thema: aber umsonst; die heterogenste Materie zog Franz mit Haaren in sein Lieblingsfach hinüber. — Seine Freunde und Mitschüler hielten dies erst für Grille, für eine Art verdekten Stolzes, für einen kurzen zufälligen Vorsatz, gerade da die Ueberlegenheit seines Kopfes zu zeigen, wo so viele strauchelten. — Und vielleicht mochte würklich eine ähnliche Ursache zu den obigen stoßen. — Zwey seiner vertrautesten Haus- und Tischfreunde drangen deshalb aufs angelegentlichste in ihn. Aber sie fanden zu ihrem Erstaunen das Uebel schon so tief gewurzelt, daß ihnen vor der Zukunft zu grauen anfing. Sie liessen sich mit ihm in ernsthaftere Unterredungen ein, boten all ihre Kenntnisse, all ihre Beurtheilung auf, ihren Freund von seinem [100]Irrwege zurükzuführen; er hörte sie nicht. Sie brachten ihm Gründe der Logik und der gesunden Vernunft; — er schlug sie mit Ontologischen Spizfündigkeiten zurük. Sie suchten seine Erklärungswuth bey auffallenden Gelegenheiten auf eine feine Art lächerlich zu machen. Er drohte mit seinem ewigen Haß. Sie nahmen ihm auf Anrathen seiner Lehrer heimlich seine Folianten, seine Manuscripte und Nachtlampe hinweg. Er weinte wie ein Kind, gieng halbe Nächte lang einsam in seinem Schlafzimmer auf und ab, deklamirte Stunden lang ganze Capitel aus seinem Johannes, ließ Geister erscheinen, und disputirte mit ihnen so herzhaft über die Auferstehung, daß alle Schläfer erwachten. Man zog den Arzt zu Rath; man hielt ihn von den Hörsälen zurük; man verordnete ihm zwekmäßige Diät; gab ihm leichte unterhaltende Bücher zur Zerstreuung: Er stieß alles mit Füßen von sich. Man ließ ihn Nachts bewachen, um ihn gewaltsam von seinen nächtlichen Kreuzzügen abzuhalten. Man fand den Wächter am folgenden Morgen unmächtig in seinem Blute. »Halten mich die Hunde für toll? Glauben sie, ich hätte den Verstand verlohren? wollen sie mich wie einen Aberwitzigen gängeln und bewachen lassen? so will ich ihnen auch begegnen wie Hunden. Die Augen, womit sie nicht sehen, will ich ihnen aus dem Kopf reißen, die Ohren, womit sie nicht hören, will ich ihnen vom Haupt [101]zerren!« So schnaubte er jezt seine Freunde an, die ihm helfen wollten.

Natürlich war es bey solchen Ausbrüchen nicht möglich, ihn länger auf der Universität zu behalten. Obiger Lehrer schrieb daher an seinen Vater, stellte ihm den kläglichen Zustand seines Sohnes so glimpflich als möglich vor, und bat ihn, solchen selbst abzuholen, ihn einige Zeit bey sich auf dem Lande zu behalten, einen klugen Arzt über sein Uebel zu Rath zu ziehen, ihm alle Theologische Bücher wegzunehmen, und ihn besonders so viel möglich zerstreuen, und anhaltende zwekmäßige Leibesübungen vornehmen zu lassen.

Der erschrockene liebevolle Vater kam, fragte, wollte seinem Franz in die Arme stürzen. Aber der Schaden hatte unterdessen so fürchterlich um sich gefressen, daß man den Unglüklichen binden mußte, und es für gefährlich hielt, seinen Vater vor ihn zu lassen. — Doch der ungestümme Vater ließ sich nicht halten. »Großer Gott, sollt es wahr seyn? sollt' es so weit mit meinem einzigen Kinde gekommen seyn? — Es ist nicht möglich! Laßt mich zu ihm! Wer will den Vater von seinem Liebling trennen?« Er drang mit Gewalt ins Zimmer, wo sein Franz auf einem Bette halbgebunden lag. Dieser fuhr wie aus einem Schlummer empor. »Jesus Christus wie er aussieht? — kennst [102]du mich nicht, mein Sohn? — ich bin gekommen, dich mit nach Hause zu nehmen, wo deine Mutter mit Schmerzen auf dich harret. O sieh mich nicht an mit diesem durchbohrenden Blik. Liebster Franz, kennst du deinen Vater nicht mehr? —« Bey diesen Worten verbarg der Jüngling sein Haupt ins Kissen, und weinte und jammerte, daß dem Vater die Worte versagten. Er warf sich lautweinend auf seinen Sohn: da hiengen sie lange in einer sprachlosen Gruppe, daß alle Anwesende sich wegwenden mußten. — Endlich faßte sich der Vater. »Sprich, theures Kind, willst du nicht mit mir nach Hause? dort soll dich deine Mutter pflegen, dort will ich dich auf meinen Händen tragen. So sieh mich doch an! Hörst du deinen Vater nicht?« Jezt wandte Franz sein tränendes Antlitz, küßte seinen Vater, winkte, und lispelte ihm ins Ohr: »Ja, ich will mit ihm. Die Verräther dort glauben, ich habe den Verstand verlohren. Ist das nicht eine höllische Lüge? — Lebt meine Mutter noch? — Ich will ihm helfen sein Feld bauen Vater. — Seyd ihr noch nicht fort, ihr Hunde? — — Ich will in seinem Weinberg arbeiten. — — Was, noch immer hier, Verräther?« — Er fuhr schäumend, und zähneknirschend vom Lager empor, und schlug seinen Vater, der ihn zu beruhigen suchte, so wüthend ins Angesicht, daß ihm das Blut ströhmend über die Wangen floß. Man riß den Alten hinweg, man [103]rief um Hülfe, man holte den Arzt; denn der Anfall war diesmal so fürchterlich, daß der Rasende den untern Theil der Bettlade hinausstampfte, und sein Kissen mit den Zähnen zerriß. Vier Männer stürzten über ihn her, und banden ihm mit Mühe die Hände. Der händeringende, wehklagende Vater mußte mit Gewalt hinweggeführt werden.

Franz wurde nun, von all seinen Lehrern, und Universitätsfreunden bedauert, nach dem Dorfe seines Vaters gebracht. Dieser hofte gewiß, daß sich hier das Uebel in kurzem legen werde. Er räumte ihm ein verborgenes Zimmer in seinem Hause ein, hielt ihm Wächter, beschwur mich bey Gott und allen Heiligen, seinem Kinde, und sollt' es sein Vermögen kosten, zu helfen, und gab gegen seine Bekannte vor, sein Sohn liege an einer langwierigen Krankheit darnieder, wo ihm die Gegenwart von Menschen schädlich seyn könnte. — Aber alle Vorkehrungen des zärtlichen Mannes waren vergebens. Die Anfälle seines Sohnes stellten sich beinah täglich bey den unschuldigsten Veranlassungen mit solcher Violenz ein, daß er mir einst verzweifelnd um den Hals fiel, und ausrief: »Nehm' er ihn in Gottes Namen hin. Was ein Vater thun kann, das hab' ich gethan. Kein Mittel ließ ich unversucht, den Verlohrnen zurükzubringen. Mein Verstand steht hier stille. Menschenhülfe schüttelt den Kopf. — Da komm ich eben von ihm herunter. Er schien so stille, und [104]so weich. Ich trat an sein Lager, und sagte ihm von meiner Liebe vor. Die Tränen schossen ihm die Wangen herab. Mit einmal fuhr er zuckend herum, sprach von gräßlichen Geistergestalten, brach in einen Strohm von unverständlichen, sinnlosen Worten aus, und hätte mich, glaub ich erwürgt, wäre er nicht gebunden gewesen. Ich hab's immer bemerkt, daß sein Anfall am heftigsten ausbrach, wenn er kaum vorher noch wie ein Kind gerührt war.*) 1 Länger kann ich den Jammer nicht ansehen. Nehm er mein Kind zu sich in die Stadt. Rath er, helf er! lieber will ich ihn begraben, als länger lebendig tod vor mir sehen.« —

Ich hatte den Eltern nehmlich schon öfters vorgestellt, wie mirs bey meiner Entfernung von dem [105]Kranken unmöglich sey, ihm diejenige Aufmerksamkeit zu widmen, die sein Uebel nothwendig erforderte, und ernstlich darauf angetragen, ihn ganz zu mir in die Stadt zu nehmen. Sie wollten sich aber lange schlechterdings nicht darzu verstehn. Jetzo nahm ich den Antrag des Vaters um so gerner an, und ließ sogleich Anstalten zur Abreise machen.

Franz kam also zu mir in die Stadt. Anfangs war ich willens, ihn in mein Haus zu nehmen. Der Vorsteher des Tollhauses erbot sich aber, ihm ein Zimmer in seiner eignen Wohnung einzuräumen, und mit ausgezeichneter Sorgfalt sein zu warten. — Da dieser Mann öfters um den Kranken seyn konnte, als es mir meine übrigen Geschäfte gestatteten, da er überdies aus langer Erfahrung die Behandlungsart solcher Unglücklichen sehr gut versteht; so überließ ich ihm diesen ohne Bedenken, nachdem ich ihm vorher aufs gnaueste vorgeschrieben hatte, wie er in allen Stücken gegen ihm verfahren sollte.

Nun wurde dem Jüngling ein erfahrner Wächter gesezt, welcher in ruhigen Zwischenräumen über Dinge des täglichen Lebens mit ihm zu reden angewiesen war. Besonders schärft' ichs ihm ein, wenn Franz fragen sollte, wo er sey, und warum er hier sey? — ihm immer zu antworten: Er befinde sich in meinem Hause in der Stadt, leide lange schon an einem bösartigen Fieber, und sey von seinem zärtlich besorgten Vater ins Haus des [106]Stadtdoctors gethan worden, um desto gewisser, und bälder wieder hergestellt zu werden. — In der Diät hielt ich ihn weit strenger, als ich es im Hause seines Vaters thun konnte. — Er trank auf der Universität gern Wein, und dieser mochte unstreitig das Seine zu seinem Uebel beygetragen haben. — Auch jezt begehrte er in lichten Zwischenräumen dieses Getränk mit Ungestümm. Ich ließ ihm nicht das geringste weder von Wein, noch von Fleisch und dergleichen reichen. Mit den leichtesten aufs sorgfältigste zubereiteten Speisen, mit Milch und Wasser mußte er seinen oft unbändigen Hunger, und Durst, nach und nach, — nie auf einmal stillen. Das Herz blutete mir oft wenn er bald mit gebieterischem Ungestümm, bald mit drohender Wuth, bald mit den Trähnen des Kindes seine Lieblingsspeisen, und Weine begehrte, und ich hätte in dem Augenblick nicht Vater seyn dürfen. — Ein paar der besten Geschichtschreiber, und einige Englische Romane wurden ihm nach einiger Zeit zur Unterhaltung gegeben. Am Ende forderte er selbst sein Klavier welches er sehr artig spielte. In der That war er mir hierin nur um einige Tage zuvorgekommen; denn da mir die Wichtigkeit der Musik in der Heilkunst der Seelen lange schon aus den auffallendsten Beyspielen bekannt war, so hatt' ich sie gleich anfänglich in den Plan zu seiner Genesung aufgenommen. — Von seinem Zimmer hatte er die lachendste Aussicht [107]auf Wälder, auf Rebenberge, auf Fluren, Dörfer, Triften, und Gewässer, und ich sorgte dafür, daß sein Gemach täglich mehrmals mit frischer Luft angefüllt wurde. Er liebte Nachtigallengesang bis zur Schwärmerey. Ich ließ verschiedene der besten vor seinem, und den angränzenden Fenstern aushängen. Er hatte eine intusiastische Liebe für Kinder. Ich ließ späterhin Vormittags, wo er immer am ruhigsten war, einige der Liebenswürdigsten zu ihm bringen. Kurz jede seiner ehmaligen Neigungen benuzt ich, seine Aufmerksamkeit zu fixiren, und seine Thätigkeit von dem Abgrunde ihrer Verirrung abzuleiten. Ich selbst endlich besucht' ihn des Tages wohl vier, und mehreremal. Besonders versäumt' ich die Morgenstunde nie, wenn er vom Schlaf erwachte, wo ich ihn immer als einen meiner Kranken behandelte, und mich mit ihm über leichte und angenehme Dinge unterredete. Er wurde beim Erwachen täglich ruhiger, und verträglicher, und die geringste traurige Vorstellung konnt' ihn bis zu Trähnen rühren. Ich vermied daher dergleichen Vorstellungen sorgfältig, und unterhielt ihn gewöhnlich mit interessanten Anecdoten, späterhin auch mit literarischen, und politischen Neuigkeiten, an denen er ehedem so sehr hieng. Arzeneimittel braucht' ich nur wenige, und äußerst einfache, wenn es sein Zustand eben zu erfordern schien. Anfangs lenkte er oft von den entferntesten Ideen die ich ihm vortrug, in seine [108]mystischen Träume ein. Ich bat, ich beschwur ihn bey Gott und seinem Leben, davon abzulassen, weil dieß eben der Weg sey, wodurch er sich seine Krankheit zugezogen, und weil er unvermeidlich den Tod wagte, wenn er ihnen weiter nachhienge. So macht ich nach und nach die Furcht vor dem Tode zum Gegengift seiner verirrten Grübeleien. So oft sich sein Blik in Apokaliptische Gesichte verlor, so oft er über die Nachtgestalten seiner Fantasey zu rasen begann, erhob ich meine Stimme noch mächtiger als er, droht' ich ihm, meine Hand ganz von ihm abzuziehen, und ihn dem Tode zu überlassen, wenn er den Unsinn nicht fahren liesse. Auch seinen Wärter wies ich an, eben so gegen ihn zu verfahren, und ihm sogar mit Schlägen zu drohen, wenn er von den scheußlichen Bildern nicht abliesse. Außerdem entfernt ich von ihm jede physische, und moralische Ursache, die in ihm Furcht, Schreken, Aufwallungen, oder andere violente Empfindnisse, und Leidenschaften hätte erregen können. Seinen Blutsfreunden, besonders seinem Vater verbot ich es, so sehr er in mich drang, ihn zu besuchen, weil ich bemerkt hatte, daß, obgleich seine Gegenwart anfangs heilsame Würkungen bey ihm zu haben schien, am Ende doch immer ein Anfall erfolgte, der all das Gute vereitelte, was ich bei ihm mit viel Mühe und Zeitaufwand hervorgebracht hatte.

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Dies war ungefähr die Methode, deren ich mich, nicht ohne vorhergehende Erfahrung, zu Heilung dieses Unglüklichen bediente, und sie war so würksam, daß er in Zeit von zween Monaten — Bücher las, und mit unverfälschter Beurtheilung mit mir darüber sprach; — daß er Musik-Stüke, die er ehmals nach Noten gespielt hatte, nun auswendig spielte, ja sogar eigne komponirte; (und ich glaube, daß eben dieß am meisten zu seiner gänzlichen Wiederherstellung beitrug) daß er Stundenlang der Nachtigall horchte und ihre Lieder auf seinem Klavier nachahmte; Stunden lang mit Kindern spielte, und sie Lieder lehrte, die er auswendig wuste; daß er ein paarmal wenn sein Anfall eben ausbrechen wollte, ihn aus Furcht vor meinen Drohungen gänzlich erstikte, und sich selbst durch Musik und Bücher zu zerstreuen wuste; daß er mit gewohnter Neugier nach litterarischen, und politischen Novitäten jagte; ja daß er am Ende gar Briefe, und Aufsäze mit seiner ganzen ehmaligen Geistesgegenwart schrieb, mir solche vorlas, mein Urtheil begehrte, u.s.w. Nun ließ ich Stuffenweise verschiedene seiner Bekannten, und Freunde aus der Stadt, und am Ende, nachdem ich ihn hinlänglich vorbereitet hatte, auch seine Eltern zu ihm kommen. Mit allen hatt' ich Abrede getroffen, auf die Meynung anzuspielen, und ihn darin zu bestärken, daß er blos einer hartnäkigen Körperlichen Krankheit wegen zu mir in die Stadt gethan worden, und[110]nunmehro gänzlich hergestellt sey — Um ihn eben in dieser Meynung nicht zu stören, ließ ich ihn im zweyten Monat seines Hierseyns aus dem Hause des Inspectors unvermerkt in mein eignes bringen. Im dritten, den er meist im Umgang meiner Familie, und anderer Freunde zubrachte, äußerte er keine Spur seines irren Zustandes mehr. Er speißte an meinem Tische, wo ich ihn aber kein Haar von seiner Kranken-Diät abgehen ließ; er scherzte; er las uns Aufsätze vor, die er selbst verfertiget hatte; er studirte, und schrieb des Vormittags; Nachmittags nahm ich ihn zu Spaziergängen mit. Kurz der Jüngling war ganz wieder hergestellt, seine Seelenkräfte spielten wieder in harmonischen Akkorden zusammen, seine entfesselte Thätigkeit betrat ihre Laufbahn wieder, dem enteisten Bachstrom gleich, welcher zum erstenmal wieder im Stral des Frühlings durch die Wiese frolokt; — Er fühlte Kraft und Drang zu höheren Berufsgeschäften in sich. Sein Würkungskreis ward ihm hier zu enge. Er hatte den Plan, die Universität noch ein paar Jahre zu besuchen, und sich zu einem dasigen Lehrer zu bilden.

Denken Sie sich die Freude des Vaters, als er seinen schon hingegebenen einzigen Sohn in diesem Zustande sah, und hörte, und umschlang und küßte. Auf sprang er im Taumel der Wonne, kriegte mich am Kopf und herzt' und küßte mich, daß mir die Ohren gellten. »In Gold laß ich ihn ein-[111]fassen, liebster Seelendoktor! Auf den Händen möcht ich ihn tragen, und es in alle Welt hinausrufen: Da seht den zweiten Vater meines Sohnes! — Der Herr Pfarrer soll aber auch 'n Vers auf ihn machen, der sich gewaschen hat, und soll ihn singen und lobpreisen als den König aller Doctoren, als den Groß-Mogul der ganzen Medizinergilde. Und das Gedicht soll mir gedrukt werden, und in den Zeitungen paradiren, daß sein Nahme auf dem Markt, und auf'm Rathhaus, und in allen Gasthäusern, Buden, und Schenken wiederhalle. Und wär ich ein großer Herr, so sollte mir sein Bild in klaren Marmor gehauen, und mitten auf dem Marktplatz aufgestellt werden. — Doch, lassen wir das! Die nächste Woche nehm ich meinen Goldfranz mit mir nach Hause. Und zum Abschied soll hier ein Schmauß seyn in seiner Wohnung. Da wollen wir essen, und trinken, und singen, und klingen und jauchzen, und den lieben Gott loben, daß er uns unsern Franz wieder geschenkt hat. Und Er, Seelendokter soll obenan sitzen, und seine Gesundheit, und meines Franzen Gesundheit getrunken werden, daß ihm das Herz im Leibe hüpfen soll.«

So rief der Alte Freudetrunken aus. Franz, die Mutter, und alle Anwesende stimmten in den Vorschlag ein, und ich konnte um so weniger dagegen einwenden, da die Ehre auf meiner Seite war, und da ich mit Franzen unterdeß so viele Proben [112]angestellt hatte, daß ich in Ansehung seiner sicher seyn konnte.

Alle Anstalten wurden daher zu diesem Genesungsfeste gemacht. Ich sucht' es so einfach als möglich zu machen, lud wenige, und nur einige Busenfreunde des Jünglings, die er ausdrüklich begehrt hatte, darzu ein, und versprach mir einen seligen Tag der Wonne, und des Entzükens.

Der Tag kam heran. Es war ein Sonntag, welcher der merkwürdigste in meinem Leben bleiben wird. Wir giengen Vormittags gemeinschaftlich in die Kirche, wo mein Freund der Stadtpfarrer eine rührende Predigt hielt, und am Ende eine so eingreifende Anspielung auf die Wiederherstellung des Jünglings einwebte, daß wir uns der Trähnen nicht enthalten konnten. Da saß der ehrwürdige Vater, horchte dem Priester mit hangendem Haupte entgegen, blikte dann mit Trähnen der Wonne auf seinen Franz, und weinte zum Himmel: »O erhalt' mir ihn! Du hast ihn mir zum zweytenmal gegeben; drum erhalte mir ihn, Vater des Lebens!«

Ich hatte den würdigen Priester ebenfalls zu unserm kleinen Feste geladen. Es war ein rührender Anblik,als er ins Zimmer trat, und der Altvater ihm feyerlich entgegengieng, und ihm die Hand küßte für seine Predigt. »Ew. Hochwürden [113]haben mir heute Trähnen entlokt, die mehr werth sind, als ein ganzer Jahrgang gedrukter Morgen- und Abendseegen. Gott lohns Ihnen, und tröste Sie im Ungemach des Lebens!«

Nun sezten wir uns zu Tische. So rührend anfangs das Gespräch war, so lenkte sichs doch bald zum Scherz, und zur geselligen Freude. Franz nahm den lebhaftesten Antheil an unsrer Unterhaltung. Man sprach über Litteratur, über Kunst, über neue Aufsehenerregende Schriften; — Franz tummelte sich mit dem Herrn Pfarrer und mir so wacker in dieser Materie herum, daß sich der Alte nicht satt sehen, und hören konnte. Die Sprache kam auf politische Neuigkeiten, wo sich der brave Pächter mit unter die Streiter mischte. Franz wußte von allem, urtheilte überall mit bewunderungswürdiger Feinheit. »Auch hier ist mir der Blizbube über'n Kopf gewachsen! — Der Doktor aller Doktoren soll leben!« — rief der Vater, und alle Gläser klangen zusammen. »Mit Wasser willt du deines Doktors Gesundheit trinken? fuhr er zu Franz fort. Eingeschenkt auf mein Wort! Warst ja sonst kein Kostverächter, und das Bissel wird dich nicht beissen.« — Franz trank hier nach mehr als einen Vierteljahr das erste Glas Wein. Nun wurde das bodenlose Capitel der Anekdoten, und Schwänke vorgenommen. Der Pächter ließ eine Rakete nach der andern steigen, und lachte dann immer zuerst, daß die Tafel zitterte. Auch ich [114]ließ meinen Dezem zirkuliren, und trug nicht wenig Dank davon. Se. Hochwürden selbst, denen bereits das Wohlbehagen von der Stirne leuchtete, gaben uns manches ehrsame Universitätssträußchen zum Besten, und holten den Stachel des Schnakens dann immer gar possierlich aus dem blinkenden Glase. — Franz ermangelte nicht, beinah jede Schnurre, aus welchem Gebiet sie auch seyn mochte, mit einer ähnlichen zu erwiedern, und trug besonders ein paar trefliche Anekdoten, die sich während seiner Anwesenheit zu T.* unter dem dasigen gelehrten Senat ereignet hatten, mit so viel Witz und Laune vor, daß der brave Schwarzrok seine Amtsgravität ganz aus dem Gesichte verlohr, und sich den Bauch vor Lachen halten mußte. Mit unter kreißte eine Gesundheit nach der andern, und ich konnt es nicht wehren, daß Franz nicht einmal ums andre in edlem Rheinwein Bescheid that.

So tafelten wir unter geselligen Gesprächen und Scherzen fast die Hälfte des Nachmittags hinweg. Nach Tische wurden bekannte Volkslieder gesungen, wo Franz den Flügel spielte, und mit seiner vollen Akademischen Jovialität vorsang. Er regalirte uns überdies mit einigen herzigen Liedern, die er auf der Universität, und zu Ende seiner Krankheit gemacht, und in Musik gesezt hatte. Der Pfarrer, meine Hausehre, ich, die Jünglinge, alles jauchzte und sang zusammen, und der gute [115]Vater brummte den Baß darein. Kurz, nichts schien zu fehlen, uns diesen Tag zu einem Festtag zu machen. Ich bemerkte an Franz nichts, als eine Fröhlichkeit, die bis an Muthwillen gränzte, doch immer in den Schranken des Wohlstandes blieb.

Es war einer der schönsten Frühlingstage. Ich schlug daher gegen Abend der ganzen Gesellschaft einen Spaziergang vor. Der Vorschlag ward mit einstimmendem Jubel angenommen. Wir besuchten einige Gärten und giengen dann in der prächtigen Allee nicht weit von meinem Hause im Abendstral lustwandeln.

Franz blieb immer bey mir und bey seinem Vater, und sprach mit Entusiasmus von seinen Planen, und von den Freuden die er sich in der Zukunft ausersehen hätte. Ich merkte, daß der Wein stark auf seine Lebensgeister gewürkt hatte, schnitt daher seine Reden ab, wo ich konnte, suchte ihn selbst mit ähnlichen Gesprächen über die Träume meiner Jugend zu unterhalten, und flisterte dem Vater zu, seinen Sohn so wenig als möglich zum Wort kommen zu lassen, weil ihm des Weins wegen zu vieles Reden höchst schädlich werden könnte.

Wir hatten die Allee eben einmal durchlaufen und waren auf dem Rückweg begriffen, als Franz [116]mit einmal stehen blieb, tiefsinnend umherschaute, und ausrief: »Mein Gott die Gegend hier ist mir so bekannt, alles umher mir so vertraut, so frisch und lebendig in meiner Seele. Diesen Baum dort hab ich oft Tage lang beobachtet. Er war meine Uhr. Stund er im Volllichte, und warf er seinen eingeschrumpften Schatten quer durch die Allee; — so war es Zeit zum Mittagessen. Strekte er seinen Schatten gigantisch über das Feld hin, zukte das Sonnenlicht nur noch schwächlich auf seinem Wipfel, so war dies die Stunde zum Abendbrod. Sagen Sie doch, lieber Doktor, wo war ich, als ich diese Gegend hier zur Aussicht hatte? Ach damals führt' ich ein trauriges Leben.«

Ich erschrak als ich ihn so reden hörte. Es war die Gegend, die er von seinem Zimmer im Tollhaus vor sich hatte. »Kein Wunder — erwiederte ich verlegen, — daß Ihnen die Gegend so vertraut ist. Sie kennen sie ja von Ihrer Knabenzeit an, und der Baum wird noch ein überbliebenes Gemählde aus jenem Rosenalter seyn, das Ihnen Zeit, und Ort so eben lebhaft vor Augen brachte.« —

Er. »Nicht möglich! So lebendig sieht die glühendste Fantasie jene Gemählde nicht, als mir die Gegend hier in der Seele liegt. Ich weiß nicht, wie schwül und schauerlich mir bey ihrem Anblik wird.«

[117]

Der Vater. »Weg damit! Was soll die Träumerey am heutigen Tage? Schlag dir den Plunder aus'm Kopf, und stimm 'n schmuckes Weinlied an.

Wir giengen weiter. Unsre Gesellschaft hatte eine gute Strecke voraus gewonnen, und wartete. Auf einmal brach Franz lautlachend aus: »Mein Gott, wie man so blind seyn kann! Da sinn ich hin und her, und kann's nicht reimen. Und Sie lassen mich in der Patsche, sauberer Doktor, und sagen mir nichts. Ist dieß da drüben nicht die Jammerklause, wo ihr mich armen Schächer so lange gefangen hieltet?«

Er wies mit dem Stok gerade auf das Zimmer des Tollhauses, wo er zwey Monate gesessen hatte. Diese Frage setzte mich noch in größere Verlegenheit, als die obige.

Ich. Wie sollten Sie, und dies Zimmer zusammen kommen? — Merken Sies denn nicht, daß dies dort das Tollhaus ist? — Wie könnten Sie sich in aller Welt dahin verirren?«

Er. »Man denke! Als ob ichs nicht wüßte, daß ihr mich über ein halbes Jahr wie einen puren Narren behandelt, mich eingeschlossen, gebunden, und mißhandelt habt? Nicht wüßte, daß ihr mich [118]vom Hause meines Vaters ins Tollhaus transportirtet, und mich da schmachten ließet bey Wasser und Brod unter heulenden Verrükten? — Doch die Zeit ist vorüber. Die Gegenwart lacht um so schöner, die Freyheit schmekt um so köstlicher, wenn man an das Elend der Vergangenheit zurükdenkt. Hunger ist die beste Würze der Speise. — Ich habe da drüben doch auch mitunter manche seelige Stunde genossen. Wenn ich des Morgens zum Fenster hinaus blikte, und die Lerche hörte, wenn ich Berg und Thal, und Stadt und Feld, und Bach und Hügel, und den arbeitenden Landmann im Schimmer der Morgenröthe sah! — Wenn ich die Sonne hinterm Rebenberg dort heraufzittern sah, und an die Millionen dachte denen sie leuchtet! O, da war ich mitten in meinem Jammer so glüklich. Auch machte mir der Inspektor, mein Freund, viel Freude, wenn er sein Abendbrod auf mein Zimmer bringen ließ, sich traulich neben mich aufs Bette sezte, und mir von Schlachten und Thaten erzählte, die er sah, und mitschlug. O es ist ein kreuzbraver Mann, der Inspektor! Wie lange hab ich den ehrlichen Alten nicht mehr gesehen. — Ich denke Vater wir besuchen ihn jezt auf ein halbes Stündchen; dann will ich ihm auch sofort das traurige Zimmer zeigen, wo sein Franz so lange in toder, trähnenwerther Einsamkeit saß. Nicht wahr Doktor, — Sie gehen mit?«

[119]

Ich stund, während daß Franz alles dieß sagte, wie in einen Fiebertraum verlohren. Da ich die Sache so äusserst geheim halten ließ, und Franz die meiste Zeit seines Aufenthalts bey dem Inspector irre, und ohne Bewußtsein war; so begrif ich schlechterdings nicht, woher er alles so bestimmt, und zuverläßig wissen konnte. — Ich suchte ihn gemeinschaftlich mit dem Vater von dem Besuch abzubringen. Wir stellten ihm vor, — daß es zu spät sey; daß wir den Inspector Morgen vor seiner Abreise noch besuchen könnten, wenn er ihn ja kennen sollte; — daß es unsre Gesellschaft übel nehmen würde, wenn wir sie verliessen u.s.f. Umsonst; er schlug alle unsre Einwendungen zurük. »Verderben Sie mir doch die Freude nicht! — fuhr er ruhig, und mit lachendem Munde gegen mich fort; Die Gesellschaft geht in Ihr Haus voran. Wir folgen in einer halben Stunde. Er soll seine Seelenfreude an dem Alten haben, liebster Vater! Jezt sizt er gewiß mit der Brille am Fenster, trinkt seine Vesper-Flasche, und liest in seiner alten Kayser-Chronik.«

Er nahm seinen Vater am Arme. Alles Sträuben war vergebens. Wir fanden den Alten Inspector mit seiner Familie beim Abendessen. Er erschrak anfänglich, als er Franzen erblikte, weil er wuste, wie höchst wichtig mir's war, ihm seinen ganzen dasigen Aufenthalt verborgen zu hal-[120]ten. Doch da er mich dabey sah, und da Franz ihm mit der heitersten Laune, und mit scherzhaften Anspielungen auf ihren ehmaligen Umgang entgegenkam, meinte er, ich selbst hätt es für gut gefunden, ihm das Geheimniß zu entdeken.

Franz nöthigte den Alten wieder an den Tisch, sezte sich neben ihn, kostete die Speise, und erzählte uns abwechselnd mit ihm, so poßirliche Szenen aus seiner ehmaligen hiesigen Gefangenschaft, wie er es nannte, daß wir mitlachen mußten, und unsrer anfänglichen Furcht ganz vergassen. Aber sie wurde wieder rege, als er den Inspector bat, sein ehmaliges Zimmer aufzuschliessen, welches er seinem Vater zeigen wollte. Der Alte fand nichts Arges darin, und war eben im Begriff, die Schlüssel zu holen; als ich Gelegenheit nahm, ihm heimlich zuzuflistern: Er sollte es ums Himmelswillen unterlassen, und irgend einen Vorwand ersinnen, warum er es nicht thun könnte. Dieß mußte Franz unglüklicherweise gemerkt haben. Denn da der Alte eben zu stottern anfieng: Es sey schon zu dunkel; er habe die Schlüssel verlegt; u.s.w. fuhr Franz auf: »Daß mir doch der böse Doktor noch immer nicht trauen will! Aber Sie sollen uns die Lust doch nicht verderben. — Laß sehen! — Ich kenne die Schlüssel wie meine eignen.« — Er suchte in der Stube herum. »Da sind sie ja! Komm voran [121]alter Papa. Wie freut ich mich immer, wenn ich dich vor meiner Thüre damit rasseln hörte.«

Wir gingen nach dem Zimmer. Franz weinte wie ein Kind, als er hineintrat. »Ach mein Gott, da steht noch alles an dem nehmlichen Orte. Hier die Bettlade; — dort das hölzerne Tischgen, und der Armensünderstuhl; — das Christusbild hier an der Wand; — dort die bemahlte Scheibe. — Da komm er ans Fenster, lieber Vater, und seh er, ob ich wahr gesprochen habe. Sieht er den Baum dort in der Allee? Und den Weinberg? Und den Bach im dämmernden Abendlicht? Und den Stadtthurm hier links? — Und die lieblich schwimmenden Gestalten in der Ferne dort, wo sich der Himmel auf den Wald herab neigt? Sieht er das? Ach hier mußte sein Franz am Gitter stehen, und war ausgeschlossen wie ein Missethäter vom Genuß der Himmlischen Natur. Hier lag ich gebunden, wie ein Mörder; hier krümmt' ich mich wie ein Wurm. Alle Menschen verliessen mich, und flohen vor mir, wie vor einem Verpesteten. Elend, und Hunger und Durst liessen sie mich ausstehen, bis mich die Verzweiflung wie ein Fieber ergrif, bis ich wie ein Rasender umherrannte, und um Hülfe brüllte, daß die Vorübergehenden stille stunden, und weinten.«

»Guter Gott, wie können Sie so was sagen, lieber junger Herr, unterbrach ihn der Inspector. [122]That ich nicht alles, was ich Ihnen an den Augen ansehen konnte? bracht' ich Ihnen nicht mehr, als ich sollte?«

Franz hörte nichts. Alle Bilder seines ehemaligen grauenvollen Zustandes stürzten wie eine Gewitternacht auf ihn herab. Ich nahm ihn am Arme, ich wollte ihn gewaltsam hinwegführen. Er riß sich los, und fuhr immer fürchterlicher fort: »Hier fütterten sie mich mit Wasser und schimmligem Brod! — Hier wälzt' ich mich im Staube, und rang mit allen Schreknissen desTodes« u.s.f. — Ich befahl dem Inspector und dem Vater, Hand an ihn zu legen. Er stieß uns wüthend zurük, starrte seinen Vater mit der vollen Miene seiner ehmaligen Raserey an und brüllte Schaum vor dem Munde: »Auch er hat sich wider mich verschworen, Rabenvater, auch Er? Er war wohl Schuld, daß sie mich hier einsperrten, und folterten, und der Verzweiflung Preis gaben?« — — Der Inspector war nach Hülfe gesprungen. Ich hielt den Sohn aus allen Kräften. Er schleuderte mich zum zweitenmal an die Wand, ergrif ein großes zinnernes Wassergefäß, das auf dem Tisch stund, faßte seinen Vater hinten am Haar und rief: »Dein Auge ist vertroknet, du hast keine Mitleidsträhne für deinen Sohn, Kannibale? — Ha so soll Blut statt der Trähnen fliessen«. — So rief er, und stieß seinem Vater die Mündung des Gefässes mit knir-[123]schendem Ungestümm vor die Stirne, daß er tod niederfiel.

Er wurde in Ketten gelegt, verfiel selbige Nacht noch schreklicher als je, in seine schwärmende Raserey und ist nun schon seit mehrere Wochen in dem Zustande, in dem Sie ihn heute fanden.«

L. Sch.

Anmerkung.

Da wir diese Erzählung nicht abbrechen wollten, so mußten des Raumes wegen verschiedene psychologische Anmerkungen, und Erklärungen wegbleiben, welche dem Vortrag da und dort einverleibt waren. Auch wurden aus eben dem Grunde in der Erzählung selbst verschiedene Mitteltinten vermischt. So waren z.B. die Stellen im Johannes angegeben, welche den Jüngling anfangs irre führten, die er sich aus seinem ganzen damaligen Ideenvorrathe nicht erklären konnte, und sie daher durch grundlose, schwärmerische Hypothesen seinem Systeme anzupassen suchte. — Es war ausgeführt, wie eben dadurch, daß er diese Hypothesen nach und nach für bewiesene Wahrheit annahm, daß er sie an andere Stellen seines Textes durch neue Hypothesen knüpfen mußte etc. — seine Seele aus ihrer natürlichen Bahn gedrükt wurde, seine Fantasie in die Stelle seiner Vernunft trat, und der ganze Wirkungskreis sei-[124]ner Thätigkeit verschoben ward. — Es war angezeigt, wie ihn die Unmöglichkeit, schwere Stellen aus seinen angenommenen Sätzen zu erklären, — verrückt; Widerspruch von Seiten seiner Lehrer und Freunde — toll; und endlich die Bemerkung, daß man ihn als einen Verrückten und Tollen behandle, — rasend machte. Ferner waren die Grade, nach denen die weise Behandlungsart des Arztes auf seine Seele wirkte, sorgfältig angegeben, und der stufenweise Uebergang zu seiner gänzlichen Wiederherstellung auseinander gesezt. — Endlich war sein fürchterlicher Rückfall, und das Betragen des Arztes dabey durch verschiedne Bemerkungen mehr vorbereitet. Franz hatte z.B. so lange er in der Stadt unter den Augen des Arztes war, keinen Wein gekostet, und trank solchen beim Abschiedsmahle, am Ende sogar hinter dem Rücken des Doctors, — zum erstenmal wieder. — Der Anblick der Gegend, die er während seiner Tollheit täglich vor Augen hatte, brachte durch die Association, welche die Kraft des Weins beflügelte, — jene schwärmerische Vorstellungen und Empfindungen zurück, die einst so oft mit jenem Anblick verbunden waren: diese irren Vorstellungen und Empfindungen mußten desto lebhafter werden und desto mehr Raum gewinnen, — je häufiger und je lebhafter jene Bilder wurden, die mit ihnen in einer so genauen obgleich zufälligen Verbindung stunden. Der Arzt hätte daher eher alles wagen sollen, als er ihn den Vorsteher des Tollhauses besuchen ließ. Franz hatte ferner auch da sein Zustand am schlimmsten war, zuweilen nüchterne Stunden, in denen er also das beabsichtete Geheimnis, daß er im Tollhause sey, und als Toller behandelt werde, — gar wohl von sich selbst entziffern konnte. Weil er sah, wie viel dem Doktor daran gelegen sey, daß er es nicht wisse, schwieg er und störte ihm seinen Kalkul nicht. Als [125]er in der Allee damit herausbrach, war er bereits nicht mehr Meister von seinem Vorsatz, es geheim zu halten; sein alter Anfall fieng hier schon an, und wurde nur durch die Scheu vor dem Arzt, und seinem Vater noch zurückgehalten u.s.w. Was endlich den würklichen Ausbruch im Tollhause betrift, so wird dadurch obige Vermuthung, daß Franz durchaus ruhige Zwischenräume hatte, in denen er sich selbst und seine Lage beobachten konnte, — zur Gewisheit erhoben. Als sein Vater Hand an ihn legen wollte, geriet er in Raserey, und die geheimsten Gedanken seiner aufgewiegelten Seele schäumten über ihr Ufer hin. Es fällt hier auf, daß er seinen Vater für den Urheber seiner dasigen ihm unerträglichen Behandlung hält. Dieser Gedanke konnte aber theils durch seine Ablieferung nach der Stadt, theils dadurch veranlaßt worden seyn, daß ihn sein Vater beinah ein Vierteljahr nicht besuchte, theils auch durch die Betrachtung, daß es dem Vater ja nur einen Wink koste, seinen Sohn aus den Händen seiner Peiniger zu reißen. Er hatte diesen Gedanken tief in seiner Seele verschlossen. Jezt da er sich durch den Augenschein so mächtig zu bestätigen schien, brach er auf einmal aus seiner Grabnacht hervor, und gebahr die Entsezenvolle That.

Doch, vielleicht werden wir veranlaßt, bei einer andern Gelegenheit noch etwas über diesen Fall zu sagen.

S.

Fußnoten:

1: *) Es ist eine allgemeine Bemerkung bey Verirrten dieser Art, daß ihre Anfälle schrecklicher werden, so oft eine Rührung, eine Lieblingsvorstellung ihrer gesunden Tage, ein zärtlicher oft befriedigter Trieb, oder gar eine Leidenschaft vorangeht. Das Gefühl kindlicher Liebe erwachte in diesem und im obigen Falle in der Seele des armen Franz. Vermöge der unüberwindlichen Association aber, in der alle seine Ideen und Empfindungen mit dem traurigen Gegenstande seiner Verirrung stunden, verließ dies süsse Gefühl seinen natürlichen Weg, und theilte seine ganze Lebhaftigkeit jenem herrschenden Gegenstande mit. Zimmermann führt im zweiten Bande seiner Erfahrungen einen interessanten Fall an, der sich aus eben diesem Grundsatz erklären läßt. a

Erläuterungen:

a: Zimmermann 1763/1764.