ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters Seinselbst.

M.

Die Furcht, lieber alles in der Welt als eitel, schmeichlerisch und heuchlerisch zu scheinen, hat mich von unzähligen, wenigstens gesetzmäßigen (wenn auch nicht der Quelle nach tugendhaften) Handlungen, besonders solchen, die an Großmuth gränzen, zurückgehalten. Denn der mögliche Gedanke andrer, ich wolle besser scheinen, als ich sey, war mir unerträglich; lieber wollte ich in der behaglichen Mittelmäßigkeit bleiben. Aber ist nicht eben diese Furcht ein Beweis von einer raffinirten Eitelkeit, und daß ich eben deswegen den Schein derselben haßte, weil ich wirklich eitel war? Zugleich ist's aber auch ein Beweis, daß ich mit ziemlicher Kälte viel über einen Entschluß zu denken pflegte, und über dem Denken die Wärme zum Handeln verlor.


Bei Anton Reisers Bemerkung (Th. 3. S. 176): »Mystik und Metaphysik treffen in so fern [56]wirklich zusammen, als jene oft eben das vermittelst der Einbildungskraft zufälligerweise herausgebracht hat, was in dieser ein Werk der nachdenkenden Vernunft ist,« fielen mir Kants Träume eines Geistersehers ein, in Beziehung auf seine jetzigen Schriften. a Kant realisirt jetzt durch ernste, kalte Philosophie seine Phantasieen und Träume; welches um so begreiflicher ist, da in jenem Buche doch ein Philosoph phantasirt hat, und diese sollen ja wohl öfters im Traume besser als im Wachen räsonniren. Vielleicht wahrer, inniger, origineller! Ob ich gleich kein Philosoph bin, so hab' ich doch oft die erhabensten, größten und befriedigendsten Blicke und Uebersichten im Schlafe — vielleicht sind sie aber nur alsdann im Verhältniß zu der schwächern und mattern Denkkraft größer, erhabner und befriedigender: denn dasjenige, dessen ich mich am Morgen noch deutlich davon erinnere, hat doch bei weitem diesen Werth nicht, den ich am Abend vorher zu fühlen glaubte, vielleicht weil ich früh mehr als Abends verlangte.


Beobachtungen über meinen Charakter: Wenig feine Empfindungen — wenig Rührung — intensiv und extensiv schwache Phantasie — schweres Denken; mühsames Schreiben — abstractes und subtiles Denken, zuweilen Spitzfindigkeit — Unglaube und Zweifelsucht — Kälte, langsame Prüfung, Furcht vor Uebereilung und Schwärme-[57]rei; beinahe Aergerlichkeit über den, mit dem ich nicht sympathisiren kann. — Achtung für's Gute, so fern es recht und erhaben ist. — Gewohnheit, das Mangelhafte, die Schranken des Guten und Bösen zu bemerken. — Mäßigung in der Liebe und im Abscheu, Billigkeit, affectfreies Urtheil — Gewohnheit, Unähnlichkeiten schnell zu bemerken, Scharfsinn. — Unterlassungssünden aus Mangel an Eifer. Diese halte ich meist für schlimmer, als Begehungssünden aus Stolz und gröberer Sinnlichkeit. — Uebergewicht der vorstellenden Kräfte. — Hang zur Sonderbarkeit. — Langsamer Wechsel der Vorstellungen. — Festigkeit einmal befestigter Meinungen und Gewohnheiten, weil solche Lagen der Vorstellungen, worin Neigungen anfangen, selten sind, also leichter vorhandne fortdauern, als neue entstehen. — Absondrung des Denkens vom Empfinden und Handeln. — Feste Freundschaft. Wenn auch äussere Ursachen Trennung veranlassen, und die Empfindung geschwächt ist, so ist doch die innerste verborgne Neigung kaum zu erschüttern. — Wenig Eitelkeit, viel Stolz. — Lebhafte Aeusserung und Gefühl eigner Mängel; Verbergung des Guten; eine gewisse Scham, gut zu scheinen, und Empfindungen, Eifer mit Worten zu zeigen, die Beifall erhalten könnten. — Schwierigkeit, sich jedesmal in die gehörige Stimmung zu versetzen. — Schwäche des Triebs, andern zu gefallen, in gewissen Stücken. —

[58]

Ich denke mehr in Gesellschaft, und fühle mehr in der Einsamkeit. Der abwesende Freund ist mir mehrentheils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen für ihn zärter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche. Es ist, als wenn mich etwas gewaltsam zurückzöge, wenn ich Freundschaftsgefühle in Worten ergiessen will; ich fürchte, zu wenig zu sagen, und doch vielleicht dem Freunde mehr sagen zu scheinen, als ich empfand. Will ich's doch, so erkaltet mit den Worten die Empfindung. Eine verworrne Empfindung von Schaam unterdrückt den Ausbruch von Gefühlen für's Gute, wo ein Zeuge dabei ist, und diese Scham schwächt auch so lange die Empfindung selbst. In erwachsnen Jahren hab' ich auch vielleicht nie aus eigner Rührung oder Mitleid in andrer Gegenwart geweint, selbst da, wo ich mit dem innersten Gefühl den Gedanken verband, daß vielleicht eine Thräne des Mitgefühls Trost für den geliebten Leidenden seyn würde. Kaum war ich allein, so ergoß sich das volle Herz in einen Strom von Thränen.


Die männlichen Eigenschaften des Geistes zogen mich immer am stärksten an. Standhaftigkeit, Festigkeit, Duldsamkeit und Muth waren mir sehr bald die verehrungswürdigsten Eigenschaften eines Mannes, und ich dachte mir immer künftige Lagen meines erwachsnen Alters, wo ich diese auf eine [59]recht auszeichnende und glänzende Art ausüben und zeigen wollte; doch lag mir an dem Fecisse beinahe mehr. Der Umgang mit kleinen Kindern war mir mehrentheils zu fad, und ein Erwachsner, der mich in eine ernsthafte Unterredung zog, erwarb sich dadurch meine ganze Zuneigung. Jede eigentlich kindische Behandlung, die manchmal captatio benevolentiae seyn sollte, würkte grade das Gegentheil; ich fühlte mich gedemüthigt. Es war mir fast immer ärgerlich, wenn ich aus der Gesellschaft der Erwachsnen unter die Kinder verwiesen wurde.


Wie kommt's, daß mich in Wissenschaften, die ich eigentlich studire, nicht bloß im Vorbeigehn ansehe, beinahe nichts, was ich gearbeitet vorfinde, nur zur Hälfte befriedigt, daß mir's, wenn's Andre noch so gut finden, doch das Rechte nicht ist, und ich immer eine — oft nur dunkle, aber äusserst lebhafte — Ahndung von etwas Besserm fühle, die mir den Genuß dessen, was da ist, zur Hälfte verdirbt, und macht, daß ich's auch nicht so fortpflanze und brauche, wie es wohl gut wäre. Wo es dann geschehen muß, weil ich nichts Beßres weiß und habe, da geschieht's doch mit Widerwillen und Unlust, deren unzeitigen Ausbruch ich oft gewaltsam hemmen muß. Ist das Seelenkrankheit, oder was sonst?


[60]

An dem Mangel an Wärme und Enthusiasmus für's Gute, besonders für's Moralische, ist mein Hang zum Speculiren, zum Auflösen und Zergliedern, zum allgemeinen, abgezognen Denken, vornehmlich schuld. Gespaltne Strahlen wärmen minder als vereinte, und gespaltne Gedanken können das Herz nicht erwärmen, und ein kühles Herz kann nur aus Eitelkeit Eifer heuchlen. Ich finde immer Bedenklichkeiten gegen die Reinheit und den ächten Gehalt des Guten, und kann mich nicht schnell und feurig dafür interessiren. Ich finde es oft verdächtig, wenn auch das Herz zu wallen anfängt, diesen Aufwallungen mich preiß zu geben; besonders hält mich aber die Erinnerung an etwas zurück, das sich meiner öftern Bemerkung dargeboten hat. Ich meine dieses, daß wir öfters, um das glänzende Gute zu thun, einen Theil der Erfüllung unsrer stillen, eingeschränkten, nahen, aber deshalb nicht unheiligen Pflichten aufzuopfern pflegen. Ich bin eingeschränkt, und fühle es, daß ich's bin, und will nicht weiter würken, als ich kann. Es ist auch eine Art von Aufopferung, und die unedelste Art derselben wohl nicht, auf große Tugenden Verzicht zu thun, um die kleinern zu behaupten, und es ist eine Art von geistiger Enthaltsamkeit, die mir so wichtig scheint, als die körperliche nur immer seyn mag, welche darin besteht, seiner Sittlichkeit keinen höhern Schwung geben zu wollen, als man, ohne Schwindel und gefährlichen Fall zu befürchten, jetzt [61]eben aushalten kann. Auch der Trieb nach Erhöhung seiner edelsten Vollkommenheit, das heißt, der sittlichen, kann durch Ausschweifung und Ueberschnellung seinen eignen Endzweck aufhalten und hindern. — Der andre Hauptgrund meiner Kälte bei Veranlassungen, wo ich hätte warm seyn sollen, ist der Mangel an Biegsamkeit und Geschmeidigkeit meines Charakters, die mühsame und schleppende Umschmelzung der Gestalt und des Tons meiner Vorstellungen. Ich bin eben in andre Gedanken vertieft, in fremdartige Betrachtungen und Gefühle hineingezogen, die meine ganze Vorstellungskraft noch beschäftigen und fesseln. Nun kann nichts tiefe Eindrücke auf meine Seele machen, alles Heterogene wird abgestoßen, oder in meinen vorigen Gedankenkreis hineingezogen, wo es nun ganz anders aussieht, und ganz etwas anders würkt, als wenn außer dieser und in einer ganz andern Verbindung es mir sich darstellte. Am kältsten werde ich, wo die Begriffe des andern, mit dem ich eben zu thun habe, mir zu idealisch, seine Foderungen übertrieben, der Eifer schwärmerisch und von keiner allseitigen Vorstellung der Sache, wie sie in der wirklichen Welt ist und seyn kann, begleitet zu seyn scheint.

M.

Erläuterungen:

a: Kant 1766.