ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Noch ein Beitrag zu dem Leben eines reichen jungen Mannes, welcher das Stehlen und Geldborgen nicht lassen konnte. a

Pockels, Carl Friedrich

(Siehe das vorhergehende Stück.)

Der Hang dieses Menschen zum Stehlen und Geldleihen war auf keine Weise einzuschränken, ob man gleich alle Mittel dagegen versucht hat. Er hielt eine Menge Stockschläge aus, wenn man ihn damit wegen seines Bettelns bestrafte, und in dem nehmlichen Augenblick sprach er wieder einen Vorübergehenden um Geld an, oder bestahl seine Nachbarn. Man versuchte endlich das strengste Mittel für ihn, — und er mußte für jedes Vergehen der Art eine Geldsumme erlegen. Er that dies jedesmahl mit einem unaussprechlichen Kampfe, und gestand oft, daß kein Mensch eine Idee von der schmerzhaften Empfindung haben könne, die er alsdenn in sich wahrnehme, wann er, anstatt etwas zu erhalten, seinen heftigen Wunsch noch oben drein mit seinem eigenen Gelde bezahlen müßte, — und doch war auch dieses für ihn äußerst gewaltsame Mittel nicht stark genug, seine Geldbegierde zu mäßigen. Er wurde von dieser Begierde so sehr verfolgt, daß er oft Meilen-weit ging, um in fremden Oertern [41]Geld und Brod einzubetteln. Peina (eine Stadt im Hildesheimschen) war für ihn vornehmlich ein wichtiger Ort, weil er von den vielen hier wohnenden Catholiken viele Gaben als ein herumstreichender Bettler erhielt. Um sich das Ansehn eines Bettlers zu geben, wandte er gemeiniglich seinen Rock um, so daß das Unterfutter zu oben lag, und schlug die Krempen seines Huths herunter. Er wußte die Fremden trefflich durch sein Wehklagen zu hintergehen, nannte sich gemeiniglich einen armen Kranken, der sich nichts verdienen könne, keinen Anverwandten habe, und von den Juristen um das Seinige gebracht worden sey. Sein blasses hageres Gesicht kam ihm hierbei vortrefflich zu statten, und seine weinerliche Sprache flößte schon Mitleiden ein. Oft lief er Tage lang in den Häusern der Stadt umher, und bath sich von dem Gesinde die übrig gebliebenen Knochen der Mahlzeit oder eine Tasse Caffe aus, nahm jede Brodrinde mit vielem Dank an; warf aber auch das Erbettelte manchmahl wieder weg, wenn er nur seine Begierde, etwas zu erbetteln, gestillt hatte.

Mit Anfange des jetztlaufenden Jahrs wurde der arme Mensch merklich kränker, als er bisher gewesen war. Sein Körper war nach und nach ganz zusammengeschrumpft, es hatte ihm schon seit einiger Zeit Mühe gemacht, zu Fuße zu gehen, und er merkte bald selbst, daß er nicht mehr lange würde leben können. Er sprach ganz ruhig von seinem be-[42]vorstehenden Tode, und gab noch eine besondere Probe von Gewissenhaftigkeit und Gedächtnißstärke von sich, die man bei seinem zerrütteten Nervensystem kaum vermuthen konnte. Es fiel ihm nehmlich in seiner Krankheit ein, daß er noch vielen Menschen etwas schuldig sey, was er ihnen vor mehrern Jahren abgeborgt habe. Er nannte gegen 50 verschiedene Personen nach ihren Ständen und Namen, von welchen er vor vielen Jahren Kleinigkeiten an Geld, zu 1 – 16 Gr., auch wohl nur wenige Pfennige und andere Sachen geliehen hatte, und befahl, daß diesen Leuten alles bei Heller und Pfennigen wiedererstattet werden möchte, weil er sonst nicht ruhig sterben könne. Einen großen Theil seines Vermögens vermachte er an die Armen, und erwartete nun seinen Tod.

Eines Tages lag er beinahe ganz sprachlos und entkräftet auf seinem Krankenlager, als ein Bekannter in die Stube trat und sich nach seinem Befinden erkundigte. Auf einmahl schien wieder einiges Leben in den ausgemergelten Körper des Kranken zu kommen, und man bemerkte, daß er einigemahl seine kraftlose Hand auszustrecken suchte, die aber vor Mattigkeit sogleich wieder aufs Bette zurücksank. Man verstand es gleich, was der Kranke von dem Angekommenen verlange, er wollte nehmlich noch zuletzt etwas Geld haben, man fragte ihn daher: ob er sein Verlangen nicht mit Worten ausdrücken könne? Nun strengte der arme Mensch noch [43]einmahl alle seine Kräfte an, öffnete mühsam seinen Mund, und langsam lallte er noch die Worte: leihen Sie mir einen Groschen!

So unwiderstehlich war sein Hang zum Gelde, daß er auch selbst durch die Macht der Krankheit und durch die Annäherung des Todes nicht unterdrückt werden konnte. Endlich starb er würklich im Januar an der Krankheit der Rückgradsdürre, die unheilbar gewesen war.

Ich will nun noch einige Umstände in meiner Erzählung über diesen sonderbaren Menschen nachholen, wovon ich, als ich den ersten Aufsatz im vorhergehenden Stücke mittheilte, noch keine Nachricht hatte, und die es noch mehr aufschließen, wie jener unwiderstehliche Hang zum Stehlen und Geldleihen und überhaupt zum Betrügen in ihm nach und nach entstanden seyn mag.

Er hatte anfangs studiren sollen, und wahrscheinlich wäre ein vortrefflicher Kopf aus ihm geworden, wenn seine Eltern ihn nicht auf einmahl für einen andern Stand bestimmt hätten, und sein Körper nicht durch heimliche Ausschweifungen, die er im höchsten Uebermaße und fast täglich bei aller dagegen gebrauchten Vorsicht ausübte, zu sehr geschwächt worden wäre. Er wurde also zum Kaufmann bestimmt, und er fand bald an diesem Stande Behagen. Nicht lange vor seinem Tode gestand er noch, daß er eigentlich in diesem Stande sich das Betrügen angewöhnt habe, woraus hernach seine [44]Begierde, Geld einzusammeln und zu stehlen, entstanden sey. Er erzählte noch mit einer Art innigen Wohlgefallens eine Menge von Kunstgriffen, welche die Materialienhändler gebrauchten, um ihre Waaren theils zu empfehlen, theils auch weniger zu geben, als sie fürs Geld geben müßten. Er hatte frühzeitig ein Vergnügen daran gefunden, wie jene allerlei Sachen unter das Gewürz, unter Rosinen und Mandeln zu mischen pflegen, um ihnen desto größeres Gewicht auf der Wage zu geben; eben so hatte er auch bald das Anfeuchten gewisser Waaren, um sie desto schwerer zu machen, gelernt, und war in dem schnellen Abwiegen derselben, um den Käufer zu hintergehen, ein rechter Meister geworden. Dazu war nun noch der Wunsch gekommen, immer recht viel Geld in dem Kaufmannstisch einstecken zu können, und mit diesem Wunsche war nach und nach ein Anderer in ihm groß geworden, für sich selbst etwas einsammeln zu können. Weil er als Ladenjunge mehr kleine als große Münze einzustreichen bekam: so war seine Phantasie auch vornehmlich an jener hängen geblieben, und er foderte selten jemanden mehr als einen Groschen ab, handelte bei seinem Borgen auch wohl bis auf einzelne Pfennige herunter. Dieses Abdingen und Handeln hatte er wiederum in dem Kaufmannsladen gelernt, — und so war eigentlich dieser, wobei aber die im vorhergehenden Stück erzählten Umstände mit dazugenommen werden müssen, — die Schuld seines Geitzes [45]geworden, den er hernach nie wieder ablegen konnte. Von den Talenten seines Kopfs habe ich schon oben gesprochen. Er hatte eine leichte Gabe, wenn er wollte, witzig zu seyn, und besaß eine nicht gemeine Galanterie gegen das andere Geschlecht, dem er oft sehr feine Schmeicheleien zu sagen wußte. Er las sehr fleißig in englischen und französischen Büchern, und hatte die erstere Sprache in einer Zeit von vier Wochen durch Hülfe eines Lexicons allein gelernt. Die Bücher, die er las, suchte er übrigens zusammenzuborgen, wo er sie finden und bekommen konnte.

Als ich das letztemahl mit ihm sprach, sagte er mir mit einer lächelnden Miene, daß seine Geschichte beinahe vor einiger Zeit in die Seelenkunde gekommen wäre, wohin sie sein Pflegvater, nebst seiner Silhouette habe einschicken wollen, welches letztere er sich aber verbeten habe. Uebrigens aber schien es ihm doch ein Vergnügen zu machen, wenn ich ihm sagte: daß erwohl noch einmahl ohne Silhouette ein Plätzchen in diesem Magazin finden könne.


Mir ist noch ein anderes ähnliches Beispiel von einem Hange zum Stehlen bekannt, den man beinahe für angeboren halten könnte. Eine Frau zu D — hatte ihrem Mann schon oft heimlich etwas Geld weggenommen. Sie versucht diese Dieberei eines Tages bei der Abwesenheit des Mannes wieder, und ist eben beschäftigt einen Griff in die Casse [46]desselben zu thun, als er unversehends dazu kommt. Die Frau, welche schwanger war, sank vor Schrecken zur Erde, und gebahr nicht lange darauf einen Sohn, welcher von frühester Kindheit an im Stehlen sein größtes Vergnügen fand. Er konnte sichs durchaus nicht abgewöhnen, und gestand oft, daß er es fortsetzen würde, wenn man auch hundert Galgen für ihn aufrichten sollte. Einen versteckten Hang zum Stehlen kann man bei erstaunlich viel Menschen annehmen, der sogleich ausbrechen würde, so bald die Societät ihm keine Gränzen mehr setzen würde. Im Stande der Natur ist dieser Hang bei allen wilden Nationen offenbar, und die Kinder der Zigeuner sowohl als ihre Eltern sind merkwürdige Beispiele davon. Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. im Brandenburgischen die Kinder der Zigeuner, um diese auszurotten, ihren Eltern weggenommen und in die Schulen gesteckt wurden, geschah es sehr oft, daß sie ihren Lehrern und Vorgesetzten Hühner und Gänse todtschlugen, und dann ihre Beute, welche sie nicht verstecken konnten, mit dem Geständniß selbst vorzeigten: daß sie das Hühner- und Gänse stehlen ohnmöglich lassen könnten. Sehr begreiflich ists, daß dieser Hang durch die täglichen Beispiele von Diebereien von Kindheit an bei ihnen sehr vermehrt werden mußte.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Wingertszahn 2011, insbes. S. 103-108.