ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R...

R***

(S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.)

Daß ich von einem Laster zurückkam, welches meinen Körper sowohl als meinen Geist zerrüttete, dies hatte ich großentheils meiner erlangten bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklärtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht läugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Mädchen das Ihre beitrug. In meiner Nachbarschaft wohnte ein Mädchen, das ich öfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Ich hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Züge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefühl für Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Ich schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Interesse foderte, ein Ideal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Mädchens Namen. So oft ich bei ihrem Hause vorüberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas höflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz müßte gerade so stark für mich, als das meinige für sie, schlagen. [66]Zu furchtsam mich ihr zu entdecken, dachte ich weiter nicht auf Gelegenheit sie näher kennen zu lernen, sondern lebte der Zuversicht, für einander geschaffne Seelen fänden sich schon von selbst. Indeß sprach ich mit ihr auf meinen einsamen Spaziergängen, ohne sie bei mir zu haben, ich schrieb Briefe an sie, ohne sie abzuschicken, setzte meine Empfindungen auf, die mir beim Spazierengehen einfielen, und zerriß sie wieder. Kurz, ich liebte einen Schatten, ein Bild, das sich meine Einbildungskraft mit allen Farben der weiblichen Tugend, nach meinen damaligen freilich sehr eingeschränkten Begriffen davon, ausmahlte. Ich verließ das Gymnasium und die Stadt, ohne den Gegenstand meiner Liebe gesprochen zu haben. Ich hatte doch den Vortheil von meiner Leidenschaft für dieses Mädchen, daß meine Triebe eine andre Richtung bekamen, daß mir mein voriges Laster immer abscheulicher wurde; denn um ihr zu gefallen, lebte ich so ordentlich, daß ich glaubte, ihr vor jedem meiner Gedanken und Handlungen Rechenschaft geben zu müssen. Sie war also in allem Betracht mit eine Ursache zu meiner Genesung, ich wurde dadurch wieder ein Mensch, und zwar ein vernünftiger Mensch. Jene Empfindungen der Theilnahme an der menschlichen Gesellschaft wachten in mir wieder auf, und machten mich mehr als bisher gesellig.

Ich bezog die Universität, und mit dieser Veränderung meiner Lage änderte sich denn auch meine [67]ganze Denkungsart. Die schwachen Spuren der vormaligen Leidenschaft wurden durch die Zeit ausgetilgt, und ich lag die ganze Zeit meiner akademischen Laufbahn den Studien ob, ohne je wieder in Versuchung zu kommen, mich zu verlieben. Aber die Liebe war deswegen nicht aus dem Herzen des Jünglings entflohen, die vorigen Triebe schlummerten blos eine Zeitlang, und wurden durch andre entgegengesetzte stärkere geschwächt und zurückgehalten. Es war einer Stunde oder vielmehr einem Augenblick vorbehalten, meine Leidenschaft wieder anzufachen.

Ich kam, nachdem ich ausstudirt hatte, zu dem würdigen Mann in Condition, der mich auf Schulen und Universitäten von Zeit zu Zeit mit Geld unterstützt hatte. Hier fing ich erst wieder an meines Lebens recht froh zu werden, hier erhub sich der Geist wieder einigermaßen, der bisher von der Armuth und Sorgen, mit denen er unaufhörlich zu kämpfen hatte, darniedergedrückt worden war. Ich hatte einen Winter bei ihm und seiner Familie – den ersten meines Lebens, den ich ohne Harm und Kummer verlebte – zugebracht. Die Ankunft des Frühlings, dessen Schönheiten ich aus natürlichen Gründen noch nie so wie itzt empfunden hatte, und ein benachbartes ländliches Fest ruften uns nach L... Wir zogen alle, Alt und Jung, dahin, und freuten uns unterwegs der Natur und ihrer Herrlichkeit. Die Alten giengen Hand in [68]Hand, und die Kleinen hüpften froh um uns herum, und sprangen über Berg und Thal. Nur ich hatte ganz andre Empfindungen, als jene. Ich ward still und traurig, aber so, daß ich himmlische Wonne in dieser traurigen Stimmung genoß. Ich hätte gleich, ohne zu wissen warum, weinen mögen, mußte aber die Thränen unterdrücken. Ich fand ein Sehnen in meinem Herzen, ein Verlangen, das ich mir nicht zu nennen wußte. Es war eine Zeit der Empfindung, die uns, glaub ich, nur einmahl in unserm Leben zu Theil wird. Man ist so ganz der gefühlvolle Jüngling, ist so ganz von unaussprechlichen Gefühlen durchdrungen, daß nichts seeligers gedacht werden kann, es ist einem so wohl und so weh, so weh und so wohl! Dies war jetzt mein Zustand, als ich durch eine plötzliche Erscheinung aus meinem Traume erwachte. Wir waren während, daß ich der Gesellschaft nachging, bis ans Ende des kleinen Wäldchens gekommen, an dessen Ausgang wir in ein Thal hinabsahen, das uns auf einmahl die reitzensten Scenen, die der Wald bisher vor unsern Augen verborgen hatte, darstellte. Schon sahen wir das kleine, aber niedliche Landhaus, das uns heut beherbergen sollte, und bald darauf erblickten wir von weitem die Familie jenes Hauses, die uns entgegen kam. Ein alter ehrwürdiger Greiß, seine Frau, und eine Muhme, die sich bei den kinderlosen Alten aufhielt, und die einzige Freude ihres Alters war, empfingen uns. Deutscher [69]Biedersinn, Rechtschaffenheit, Vertraulichkeit und glückliche Einfalt der Sitten zeichneten diese würdige Familie aus. Schon im voraus kam ich durch die Schönheit der lachenden Gegend, deren Bewohner ich mir nicht anders als ͷαλͼύς νάι αγαδͼύς denken konnte, mit dem besten Vorurtheil hieher, und meine Erwartung ward nicht getäuscht. Ob das Mädchen, liebevoll, sanft und blühend wie die ganze Natur, Eindruck auf mich machte? Meine Seele war durch die Scenen dieses Tages schon so sehr zu sanften Empfindungen gestimmt, daß es nur dieses Gegenstandes bedurfte, um mich auf einmahl zum feurigsten Liebhaber zu machen. Diese Liebe war unschuldig, und machte in der Folge das Glück meines Lebens.