ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Verrückung aus Liebe.

Anonym

Ein Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, welche die Natur außer allen Reitzen weiblicher Schönheit mit einem guten Herzen ausgestattet hatte, war der Stolz ihrer wohlhabenden Eltern. Ihre zärtliche Liebe zu ihrer einzigen Tochter machte, daß sie sie allzusehr verzärtelten und ein eigensinniges, mürrisches, empfindsames Geschöpf an ihr erzogen. Zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, saß sie beständig und las in Büchern, zwar in lauter guten, als Gellerts und Weißens Schriften, aber selbst diese machten sie zu einer frommen Empfindsamen, die beständig betete und sang, und darüber alle Arbeit, sich selbst und die Menschen vergaß. Sie genoß selten der freien Luft und des gesellschaftlichen Umgangs, daher wurde sie zurückhaltend und schüchtern. Starkes Getränke, als Kaffee, genoß sie täglich, und an Appetit fehlte es ihr nie, daher wurde sie groß und stark, bekam aber ein unnatürliches Phlegma. Itzt trat sie in den Zeitpunkt, wo sich neue Gefühle in ihr regten, wo ihr Herz bei dem Anblick eines Mannes stärker als vordem schlug. Die Reitze des Mädchens und ihr Vermögen lockten manchen Verehrer herbei, aber keiner gefiel ihr, und ihr mürrisches und einfältiges Betragen verscheuchte einen nach dem an-[44]dern. Endlich erschien Einer, den sie zu besitzen wünschte, ein Offizier; er mochte ihr auf dem Ball, wo sie ihn kennen lernte, wohl manches Schöne gesagt haben, aber sie zu heurathen war ihm gewiß nicht in den Sinn gekommen; denn er kam nie wieder zum Vorschein. Doch hatte sie sich dieses in den Kopf gesetzt, und wurde darin von ihrer Freundin bestärkt, mit der sie über den Gegenstand ihrer Liebe briefwechselte. Zwei Jahre lang hing sie diesen Gedanken nach, und ließ einen andern, den ihre Mutter für sie bestimmt hatte, eben so lange vergeblich schmachten. Er wußte sich unterdeß bei gutwilligen Mädchen schadlos zu halten, und kam nur deswegen zurück, weil ihn ihr Geld lockte. Da nun das Zudringen der Eltern, das wiederholte Anhalten des jungen Mannes und seine verstellte Liebe das Mädchen preßten, so gab sie endlich das Jawort von sich. Itzt fing sie an, ihn wirklich unbegränzt zu lieben. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihn so lange unerhört gelassen. Alle ihre Nerven wurden durch die außerordentlichen Bewegungen ihres Gehirns erschüttert, überspannt, und sie unterlag der Stärke ihrer Empfindungen; denn ein ihr verursachtes Schrecken raubte ihr plötzlich allen Verstand. Mit starrem, fürchterlichen Blick saß sie da; bald brach sie in ein höhnisches Lächeln aus, bald sang und betete sie. Arzneien weigerte sie sich lange einzunehmen: einen Abend verstellte sich der Arzt in [45]ihren vorigen Liebhaber, besuchte sie, und brachte ihr, wie er vorgab, von seinem Bruder, einem Arzte, Medicin. Sie umarmte ihn sogleich, war außer sich vor Freude, und — nahm ein. Itzt ging ihr vermeinter Liebhaber weg; sie nahm zärtlichen Abschied von ihm, und schlief diese Nacht recht ruhig. Als er aber des andern Tages auf ihren Ruf nicht wieder kam, wurde ihr Zustand schlimmer. — Das ihr abgedrungene Jawort scheint sie gereut, und diese schreckliche Wirkungen gehabt zu haben.