ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Ueber die Beobachtung jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

Die Schildrungen jugendlicher Charaktere können freilich nicht so sicher und so wahr den männlichen Charakter bezeichnen, daß man bei jener schon für zuverläßig bestimmen könnte, wie dieser künftig einmal beschaffen seyn müsse.

Der Umstände können viel und mannigfaltige seyn, die eine so starke Umändrung möglich machen, daß dadurch das vorige Gemähide so unkennbar und fremd wird, daß es alsdann vielleicht seinen ganzen Werth verloren zu haben scheint, den es ehmals hatte.

Allein es wird doch gleichwohl nicht ganz umsonst da gewesen seyn. Ein wirkliches Gemählde, welches der Künstler von dem Gesichte eines Kindes verfertigt, wird vielleicht nichts mehr mit dem erwachsnen Manne ähnlich haben; und ich denke immer, man werde gleichwohl jenes mit Wohlgefallen betrachten, wenn man weiß, daß es damals ein richtiger und wahrer Abdruck war.

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Auch können für den Kenner vielleicht noch einige Züge übrig geblieben seyn, die mit ins männliche Alter hinübergingen; und in beiden Fällen bleibt es angenehm zu wissen: so sahest du damals, und so siehst du itzt aus.

Bei der Zeichnung jugendlicher Seelen, ihrer Neigungen und Aeußrungen derselben, hat es sicher noch mehr auf sich. Selten geht doch so eine Verwandlung im Großen vor, daß alles das, was die Seele des Kindes charakterisirte, ganz verloren gegangen, ganz umgeschaffen und verändert seyn, und daß man nun gleichsam einen sich weit ausbreitenden Strom finden sollte, der mit seiner Quelle nicht in Verbindung stände.

Den Erwachsnen zu schildern halte ich für eine weit mißlichere und unzuverlässigere Sache. Tausend Umstände können beitragen, oder schon gewirkt haben, die einander entgegengesetzt waren, welche also die Seele mit umstimmen, und ihr eine ganz andre Richtung geben können, als man grade vermuthet, indem man seine Zeichnung unternimmt.

Die jugendliche Seele ist noch so offen, ist noch ein so reiner, unverdorbner Spiegel, daß man grade hindurch, und das sehen kann, was im Grunde zu sehen ist; wenn man bei dem Manne wenigstens befürchten muß, daß er das nicht ist, was er zu seyn scheint.

Und dann ist es dem menschlichen Gemüthe einmal eigen, auch in die Zukunft zu sehen, und [80]so weit es menschliche Klugheit zuläßt, bei ähnlichen Dingen auf ähnliche Wirkungen zu schließen: daß es also immer angenehm und nützlich seyn kann, wahrscheinlich zu bestimmen: aus diesem Kinde kann ein solcher Mann werden!

So äußern sich itzt die Kräfte seiner Seele, und so werden sie sich künftig äußern! So viel, oder so wenig verspricht er für die Zukunft! —

Für den Pädagogen kömmt dann noch der unmittelbare Vortheil hinzu: daß er Menschenkenntniß sammelt; daß er verschiedene Fähigkeiten und verschiedene Neigungen, verschieden behandelt, und dadurch ungleich nützlicher wird, als wenn er alles, was Kind oder Knabe heißt, gleich behandeln, gleich einschränken oder anspornen wollte.

Von irgend einer Seite wird es also immer etwas werth seyn, jugendliche Charaktere zu entwerfen, und sie dann zu lesen und wieder zu nutzen.

Ich werde also von Zeit zu Zeit fortfahren, mit Genauigkeit zu beobachten, und das Beobachtete ohne Schminke und Zusatz wieder zu erzählen.