ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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II.

Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Ideen.

Wedekind, Georg Christian Gottlieb

Diepholtz den 4ten Januar 1785.

Im Sommer 1783 mußte ich eine Reise nach Göttingen machen. Bekanntlich ists mit dem Verreisen eines Arztes immer so eine Sache — und darum freute ich mich recht sehr, alle meine Patienten auf so erwünschter Besserung zu sehen, daß ihnen schriftliche Instructionen ein vollkommenes Genüge leisten konnten.

Frau Pastorin Soltenborn befand sich mit unter der Anzahl der Reconvalescenten, die ich zurücklassen mußte, und nach allen medicinischen Gründen zu urtheilen, konnte ich ihrentwegen ganz unbesorgt seyn. Zwar hatte sie einen schwachen und empfindlichen Körper, und war auch, durch Schuld ihrer ehemaligen Kinderwärterin, auf der einen Seite etwas verwachsen; aber demohngeachtet genoß sie immer eine gute Gesundheit.

Etwa ein Vierteljahr vor ihrer letzten Krankheit bemerkte ich, daß sie auf einmal sehr blaß wurde, und mit verstörtem Gesicht plötzlich die Gesellschaft, worin ich mich auch befand, verließ. Nachher sagte sie mir, es wäre ihr auf einmal übel geworden, und sie hätte heftiges Herzklopfen und starke Beängstigung gespürt. Weil aber diese Zu-[81]fälle fast eben so geschwind, als sie entstanden, wieder vergangen waren, so glaubte sie sich zu einer neuen Schwangerschaft Glück wünschen zu können. Doch sahe sie sich zwar bald in ihrer Erwartung getäuscht, indessen befand sie sich wohl.

Die Krankheit, womit meine seelige Freundin im vorigen Sommer befallen wurde, war nichts anders, als ein gelindes und gutartiges anhaltendes Fieber, welches sie sich wahrscheinlich durch vieles Wachen und ängstliches Sorgen, bei den Krankheiten ihrer Kinder, zugezogen hatte. Kühlende und ausleerende Mittel hatten so gute Wirkung, daß am sechsten Tage wenig Fieberhaftes mehr wahrzunehmen war, die Patientin sich größtentheils außer Bett aufhalten konnte und ihr Appetit zurückkehrte. Kurz alle Zeichen einer baldigen völligen Genesung waren vorhanden.

Nun hätte ich zwar gut und gern schon am dritten Tage der Krankheit meiner Patientin reisen können, so wie ichs mir auch vorgesetzt hatte; aber ich weiß nicht, was es war, was ich so bedenklich bei meiner Patientin fand. — Soviel weiß ich wenigstens, daß ich es mir nicht angeben oder erklären konnte, was es war. Wie ich sechs Tage lang meine Patientin recht genau beobachtet und noch gar nicht hatte finden können, warum ich mich beunruhigte, so entschloß ich mich, abzureisen. Um recht sicher zu gehen, brachte ich eine Instruction, die auf alle Fälle, die ich mir als möglich bei [82]der Krankheit dachte, eingerichtet war, zu Papier, und erklärte diese meinem Apotheker, dem ich in meiner Abwesenheit alle meine Kranken übertrug, aufs genaueste.

Kaum war ich eine halbe Stunde weit von Diepholtz, nach meiner Abreise, entfernt, als sich allerlei ängstliche Vorstellungen, über den baldigen Tod meiner Kranken, von neuem recht lebhaft bei mir einfanden. Durch meine Abreise glaubte ich die Pflichten als Arzt und Freund verletzt zu haben — ich stellte mir die Folgen meines Vergehens von der schlimmsten Seite vor, kurz meine Imagination mahlte mir die schrecklichsten Bilder. Von der andern Seite bemühte ich mich mit kalter Vernunft das Täuschende meiner Imagination aufzudecken. Recht unpartheyisch wiederholte ich mir in Gedanken die Geschichte des Verlaufs und Entstehens und aller Zufälle der Krankheit; aber so sehr auch meine Pathologie und Semiotik mich fest überzeugten, daß es mit der Krankheit nichts auf sich habe, so vermogte doch meine Vernunft nichts gegen meine innere Empfindung. Ich fühlte es, daß die letztere mit der erstern davon lief, und ich konnte es nicht ändern. — So war ich nun im heftigsten Selbstkampf beinah zwei Meilen weit weggeritten, als sich meiner Brust eine so grosse Beklemmung bemächtigte und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Noch einmal erwägte ich, was das Publikum von meiner [83]Rückkehr urtheilen würde, und wie nothwendig meine Reise wäre; — aber alles umsonst! Fast unwillkührlich wandte ich mein Pferd und jagte so geschwind es laufen konnte, nach Diepholtz zurück. Kaum war ich wieder in die Stadt geritten, als ich es recht lebhaft fühlte, wie närrisch ich gehandelt hatte. — Gern hätte ich von neuem meine Reise angetreten, aber mein Pferd schwitzte genug für heute. — Mit einem rechten Verlegenheitsgesichte ritt ich vor dem Hause meiner Kranken vorbei und wußte gar nicht, was ich machen sollte, als ich sie am Fenster stehen und mich freundlich grüßen sahe. Es war mir nicht möglich, eine andere Ursach meiner Rückkehr zu erdichten, — und meiner Patientin wars nicht möglich, sich des Lachens zu enthalten.

Nachdem ich nochmals alle Umstände der Krankheit genau erwogen und mich von dem Ungrunde meiner Bangigkeit überzeugt hatte, ritt ich am folgendem Morgen von neuem ab. Zwar war ich jetzt in soweit Herr über mich, daß ich nicht wieder linksum machte; aber die quälenden Vorstellungen vom nahen Tode meiner Kranken, die konnte nichts unterdrücken. Umsonst bemühten sich meine Göttingischen Freunde, mich zu zerstreuen, und umsonst besuchte ich die Oerter wieder, wo ich als Kind und als Jüngling soviel Freude genossen hatte. — Nichts, nichts wollte mir behagen. Darum hielt ich mich nur zwei Tage in Göttingen auf, und mach-[84]te mich eilig auf meine fast zwanzig Meilen weite Rückreise, ohne mich erst ordentlich ausgeruht zu haben.

Meine Tour ging über Rinteln, wo ich meinen alten Freund den Herrn Professor Kümmel besuchte; auch machte ich daselbst einer vornehmen Dame mein Kompliment. Aber Himmel, wie erschrack ich, als mir diese die Nachricht vom Tode der Frau Pastorin S. noch ganz warm mittheilte! Ich weiß fast selbst nicht, wie ich zum Hause herauskam, und wohl ein Paar Stunden ging ich herum, ohne zu bemerken, wo, bis ich wieder zu meinem Freund Kümmel kam. Die unerschöpfliche Beredsamkeit und der muntere Witz dieses gelehrten Mannes konnten nur bei mir ihrer Wirkung verfehlen; seine gütige Bemühung, mich zu erheitern, war umsonst. Es konnte nicht fehlen, daß die heftige Erschütterung meines Gemüths von üblen Folgen auf meine Gesundheit begleitet werden mußte. — Erst nach ein Paar Tagen, die ich in dem Hause meines gelehrten Freundes, unter der entkräftenden Bemühung, meinen Gram zu verbeissen, zugebracht hatte, befand ich mich wieder im Stande, meine Rückreise von neuem anzutreten.

Niemand konnte mich hier besser trösten, als, wer hätte es denken sollen? der Gatte meiner seeligen Freundin. Er versicherte mir, seine seelige Frau habe sich nach meiner Abreise, bis auf die letzte Stunde ihres Lebens, wohlbefunden. Auf ein-[85]mal habe sie aber gesagt, es knacke ihr was in der Brust, und da sei sie in fünf Minuten mit einem starken Röcheln verschieden. Nach dem Tode habe man gefunden, daß ihre eine Seite ganz blau gewesen wäre. Etwa eine Stunde vor dem Tode seiner seeligen Frau, fuhr mein Freund fort, habe er einen Brief an mich auf die Post gesandt, worin er mir versichert hatte, daß hier alles gesund und seine Frau fast völlig hergestellt wäre. Darum habe er mich auch gebeten, ja recht mit ruhigem Geist die Wonne der ungebundenen Freiheit in Göttingen zu schmecken und sie auch einige Tage länger zu genießen, als ichs vorher willens gewesen wäre u.s.f. Diesen Brief, der fünf Tage nach meiner Abreise geschrieben war, hatte ich nun freilich nicht erhalten können.

Nun erfuhr ich auch von einer Person, welcher die seelige Pastorin, unter dem Beding der geheimsten Verschwiegenheit, es anvertraut hatte, daß sie schon seit vielen Jahren auf der Seite, wohin sie verwachsen war, öfters Stiche hinter den Rippen empfunden und allda ein Pflaster getragen hätte. Mir, und auch sonst keinem Menschen, hatte die seelige Frau hievon nicht das geringste gesagt, weil Leute, die solche Fehler an sich haben, sie gern verbergen mögen.

Während der Krankheit hatte die seelige Frau keinen beträchtlichen Husten, auch klagte sie nicht über Engbrüstigkeit; und doch ist es gewiß genug, [86]daß ein besonders situirtes und plötzlich aufgebrochenes Geschwur die wahre Ursach des Todes gewesen seyn müsse. Doch ich rede hier nicht als Arzt.

Woher kams, daß ich bei allen den guten Umständen, die ich bei der Krankheit (an der nun freilich eigentlich auch die Patientin nicht starb) wahrnahm, so besorgt wegen eines schlimmen Ausgangs derselben war? Von dem innerlichen Fehler, woran die Patientin starb, konnte ich keine deutliche Idee haben, konnte sein Daseyn gar nicht vermuthen. Wenigstens weiß ich mich nicht zu erinnern, daß ich je daran gedacht hätte.

Aber sollte ich deswegen wohl nicht vielleicht eine dunkle Idee von einem solchen Fehler gehabt haben können? Finden doch solche dunkle Ideen bei den sogenannten Ahndungen, wenn sie eintreffen, auch wohl statt.

Folgt nicht aus dieser Erzählung, daß die dunkeln Ideen, solche nehmlich, deren Entstehen und Verhältnisse wir nicht genau kennen, uns oft zum Handeln determiniren? Folgt nicht ferner, daß die dunkeln Ideen und Vorstellungen, wenn sie nur die lebhaftesten sind, uns zu Handlungen zwingen, die uns klare Ideen widerrathen? Folgt nicht endlich hieraus die Bestätigung des Satzes, den der junge Jerusalem so evident erwiesen hat, und den ich so gewiß als mein Daseyn glaube, daß unser Handeln unwillkührlich ist. a Haller lehrte den Satz, auf den stärksten Reiz der Muskelfaser [87]folgt die stärkste Reaction, und der stärkere Reiz vernichtet den schwächern (lumen maius obscurat minus). Ists mit der moralischen Reizbarkeit nicht eben so? Der Reiz kann wirken, ohne daß wir ihn kennen.

Allem diesem füge ich nur noch die Anmerkung bei, daß, ob ich gleich eine sehr lebhafte Imagination besitze, mich doch mein medicinisches Studium, welches ich eifrig treibe, gewöhnt, nach klaren Begriffen zu handeln. — Endlich gehöre ich auch ganz und gar nicht zu den zuckersüßen und empfindsamen Modeärzten, sondern bin zum strengen Ernst geneigt.

Fräulein von May, ein mit einer sehr lebhaften Imagination begabtes aber dabei sehr scharfsinniges und kluges Frauenzimmer von etwa fünfzig Jahren, zog mich wegen einer Unpäßlichkeit zu Rathe. Ich stellte ihr vor, daß keine Arznei ihr geschwinder helfen würde, als ein Brechtrank, und sie entschloß sich auch wirklich, ohne sonderliche Widerrede, am folgenden Morgen diese Arznei zu nehmen. Eine andere Arznei würde ich gern meiner Patientin verordnet haben, wenn mir der überaus grosse Widerwillen, den sie von jeher gegen Brechmittel gehegt hatte, bekannt gewesen wäre. Die Arznei wurde noch des Abends geholt, und die Patientin legte sich mit den angstvollsten Gedanken an das morgen [88]einzunehmende Vomitiv schlafen. Des Morgens um vier Uhr stand sie schon auf und weckte ihr Mädchen, welches ihr die Arznei reichen und Thee zum Nachtrinken bereiten sollte. So wie das Mädchen erzählte, sah das Fräulein schon, ehe es die Arznei nahm, ganz verstöhrt aus, und sprach ganz ungereimte närrische Dinge. Völlig wahnwitzig nahm das Fräulein den Brechtrank ein. Etwa eine Stunde nachher ließ mich die Frau Mutter des Fräuleins, die über den sonderbaren Zustand ihrer Tochter äußerst beunruhigt war, zu sich rufen. Die Patientin delirirte in einem hin und sprach von allerlei Dingen, die größtentheils, wie bei vielen Arten von Verirrungen, an und für sich gar nicht unvernünftig, nur nicht am rechten Ort gesagt waren. Besonders redete sie viel von ihrem nahen Tode, den sie dem Brechmittel beizumessen hätte, und wodurch sie öffentlich an den Tag legte, welch ein grosses Zutrauen sie in mich setzte, da sie auf mein Anrathen ein Mittel genommen habe, wovon sie die tödliche Wirkung vorhergesehen hätte u.s.f. Das Erbrechen erfolgte übrigens so, wie ich es gewünscht hatte, und hielt nicht viel über eine Stunde an. Während dem Erbrechen schlug der Puls etwas lebhaft, nachher aber ganz natürlich. Der Wahnwitz dauerte bis um ein Uhr des Nachmittags, da die Patientin in einen tiefen Schlaf verfiel, woraus sie nach einigen Stunden, an Seel und Leib gesund, wieder erwachte. Weil ich dieses nicht an-[89]ders erwartet hatte, so verordnete ich auch keine andere Arznei, als des Nachmittags um drei Uhr eine gute Dosis Laudanum. Nachher wußte sich das Fräulein weiter nichts von dem Vorgange der ganzen Sache zu erinnern, als, daß sie Abends vorher zu Bette gegangen, und daß sie sich wunderte, wie sie in die Kleider und in ein anderes Bette gekommen wäre.

Offenbar hat hier nicht das Brechmittel, sondern die Furcht vor dem Brechmittel, den Wahnwitz, der als ein wahrer Traum anfing und in den Zustand eines Nachtwandlers gewissermaßen sich umänderte, hervorgebracht.

D. G. Ch. G. Wedekind,
Königl. und Churf. Physikus der Grafschaft
Diepholtz.

Erläuterungen:

a: »[U]nsere dunkle Ideen, so lange sie noch dunkel sind, [wirken] stärker auf uns [...], als die deutlichen« Jerusalem 1776, S. 34.