ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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III.

Ueber den Anfang der Wortsprache in psychologischer Rücksicht.

Pockels, Carl Friedrich

In welcher Sprache sollte der erste Mensch, der noch keine Sprache kannte ― und da eine angebohrne Sprache so gut ein Unding ist, als angebohrne Ideen ― die Gottheit verstanden haben. Dieß ist die große Schwierigkeit, welche sich der Meinung von einem übernatürlichen Ursprunge der Wortsprache entgegenstellt. Wir wollen einmal voraussetzen, daß die Gottheit aus wichtigen Absichten dem ersten Menschen die Erfindung der Sprache selbst überließ.

Die Wortsprache des ersten Menschen, oder wenn man lieber will, der ersten Menschen, ist gewiß auf eine ganz andere und zugleich langsamere Art entstanden, als die Sprache unserer Kinder. [94]Jene mußten erfinden, erst Wörter schaffen; diese dürfen nur lernen, nur schon in Gang gebrachte Wörter annehmen. Welch ein Unterschied!

Wie die erste Wortsprache würklich entstanden ist? ― Wie sie entstanden seyn kann? sind zwei Fragen, die in Untersuchung ihres Ursprunges gemeiniglich miteinander vermischt werden. Man glaubt, die erste Frage zu beantworten, wenn man die letzte beantwortet, und das ist gewiß ein Fehlschluß.

Aber ist Wortsprache nicht ein dringendes Bedürfniß der menschlichen Gesellschaft? ― wird nicht der erste Mensch früh dieses Bedürfniß zu befriedigen angefangen haben? ― Die Erklärer des Ursprungs der Sprache, die ihre Leser bloß mit diesen Fragen abgefertigt haben, wollten doch wohl nicht dafür angesehn seyn, als ob sie uns auch nur das Entstehen können der Sprache gezeigt hätten. Wir wissen es alle gar wohl, daß Sprache ein Bedürfniß des geselligen Menschen ist; aber deswegen wissen wir lange noch nicht, auf welche Art, unter welchen Umständen die ersten Menschen dieses Bedürfniß zu befriedigen angefangen haben. Einem Bedürfnisse wird nicht immer auf einerlei Art, nicht einmal von einerlei Menschen abgeholfen.

Um zu wissen, wie die erste Wortsprache der Menschen entstanden ist, müßten wir eine sichere [95] historische Nachricht von jenen ersten Menschen haben;

1) in welchem Alter er auf die Welt gesetzt wurde, und mit welchen Kräften und Anlagen seines Geistes und Leibes;

2) in welche Gesellschaft und Verbindung mit andern Menschen; (Das, was Moses hierüber sagt, ist zu den Untersuchungen über die Erfindung der Sprache unbrauchbar, weil sein Mensch nicht die Sprache erfunden hat.)

3) wie verwandelte er seine Gesichts- und Zeichensprache, die unläugbar der Anfang aller Sprache gewesen seyn muß, stufenweise in hörbare Wörter;

4) erfand er die Ausdrücke für Individuen, für ihre Handlungen und Würkungen, die er nicht durch Gesichts- und Zeichensprache mittheilen konnte ― eher oder später, als die, welche er durch jene Sprache mittheilen konnte, und welchen Grund hatten diese Ausdrücke in der Natur der bezeichneten Sache, in den Nebenumständen derselben, in der jedesmaligen Stimmung der Seele bei Erfindung eines neuen Worts; ― oder verfuhr der Mensch dabei ganz blindlings, ganz willkührlich? ―

5) wie kam er mit andern Menschen überein, daß nur diese und keine andere Wörter für diesen und jenen Gegenstand gelten soll-[96]ten? Waren Despoten, denen die andern blindlings folgten; oder waren zärtliche Väter und Mütter, die sich zum Besten ihrer Familie unter einander vereinigten, (nicht nach Rousseaus Einfall, gelegentlich, und nur des sinnlichen Vergnügens wegen zusammenkamen, und eben so leicht wieder auseinander liefen*) 1 die ersten Sprachlehrer ihrer Untergebenen?

Von allen dem sagt uns aber die Geschichte gar nichts. Sie zeigt uns vielmehr den Menschen gleich bei seinem Anfange auf einer sehr hohen Stufe der Kultur, ohne die Jahrhunderte zu berühren, in welchen der Mensch erst nach und nach dahin gelangen mußte.

Was war also natürlicher, als daß die Meinungen der Gelehrten über die Entstehung der Wortsprache sehr verschieden ausfallen mußten. Unter mehrern Meinungen giebt es immer eine, welche die bequemste ist, und gemeiniglich auch, weil sie die wenigste Anstrengung des Verstandes erfodert, den meisten Beifall findet. Welche es hier ist, wissen wir; aber welche die wahrscheinlichste seyn mag; ― welche in der Natur des Menschen; ― in dem natürlichsten Gebrauche sei- [97] ner Organen; ― in der Beschaffenheit seiner individuellen Vorstellungen den meisten Grund hat? ― Dies ist nun die Frage.

Es ist am allerwahrscheinlichsten, daß hörbare körperliche Gegenstände, die den Menschen theils wegen des nothwendigen Gebrauchs, den sie bald damit anfingen; theils wegen ihres frappanten Anblicks; theils wegen des Fürchterlichen, das sie bei sich hatten, zugleich sehr interessant waren, die ersten Wörter zur Sprache hergegeben haben, und zwar deswegen, weil der Mensch nicht nur einen natürlichen Hang hat, gehörte Töne nachzuahmen, sondern auch würklich, obgleich nicht immer auf eine genaue Art, durch Hülfe seiner Stimme nachahmen kann. Dieses Nachahmen war die erste menschliche Sprache.

Die Thiere mußten gleich vom Anfang an die interessantesten Geschöpfe für den Menschen seyn; er lebte in ihrer Gesellschaft und lebte zugleich von ihnen, sie waren ihm anfänglich theurer und wichtiger als der Mensch selbst, es war nöthig sie genau von einander unterscheiden zu können ― er gab ihnen die ersten Namen, und dieses waren keine andern, als Töne ihrer eignen Stimme, die er nachmachen konnte, und wodurch er zugleich auf eine sinnliche Art Individuen aufs genaueste zu unterscheiden im Stande war. (Adam gab zuerst den Thieren ihre Namen. Sollte der Ge-[98]schichtsschreiber, weil er vielleicht auf dieselbe Spekulation vom Ursprunge der Sprache fiel, und sie sehr wahrscheinlich fand, nicht deswegen die Sache als ein würkliches Faktum erzählt haben?)

Es giebt wirklich noch in allen Sprachen, was man vornemlich bei den Sprachen der Wilden bemerkt haben will, Wörter, die nur durch die menschliche Stimme von dem Schalle hörbarer Gegenstände gleichsam abkopirt sind, noch so viel Verben, die in ihrer Aussprache eine überaus große Aehnlichkeit mit der tönenden Wirkung eines Körpers haben. Es ist begreiflich, daß durch die Länge der Zeit; durch neu entstandene Dialekte; durch Aufnahme fremder Sprachwörter; vornemlich durch den großen Zuwachs solcher Ausdrücke, die abstrakte Begriffe bezeichneten, und die man hernach oft an die Stelle der Naturtöne setzen mochte, sich die meisten dieser Urwörter verloren haben müssen. Ihre Wiederfindung würde uns, wenn sie möglich wäre, einen wichtigen Schlüssel zur Kenntniß des ersten Wörterbuchs der Menschen geben.

Die Menschen bezeichneten also höchst wahrscheinlich zuerst Individuen von der Art, als wir angegeben haben. Das Wort für eine hörbare Wirkung eines sinnlichen Gegenstandes, wurde das Wort für den Gegenstand selbst. Die Sprache blieb dabei zwar immer noch sehr arm und übelklingend, aber ihr Wörtervorrath war damals [99]doch schon groß genug, sich wenigstens über eine Klasse von Gegenständen ohne eine weitläuftige Zeichensprache auszudrücken.

Aber wie kamen die Menschen auf Substantive, Adjektive und Verben, die nicht hörbare Gegenstände z.E. nur sichtbare bezeichneten, und wo die menschliche Stimme nichts nachzuahmen hatte? Hier wird die Erklärung des Ursprungs der Wörter schon viel schwerer, und ich möchte behaupten, am allerschwersten. Hier stehen Gehör und Gesicht nicht in der engen Verbindung mit einander, als Gehör und Stimme, und doch ist es nicht ganz zu läugnen, daß sich Eigenschaften blos sichtbarer Gegenstände durch eine gewisse Beugung der Stimme, als solche, ausdrücken lassen. So bezeichnete man z.E. Höhe und Niedrigkeit vielleicht durch das Steigen und Fallen des Tons; Schnelligkeit und Langsamkeit einer Bewegung durch Schnelligkeit und Langsamkeit der Stimme.

Ueberhaupt mochte die Art der Aussprache, der wir hier sehr unrecht den Namen Deklamation geben würden, bei den ersten Menschen oft den Mangel an Sprachwörtern ersetzen helfen.

Zur Bezeichnung solcher Prädikate sinnlicher Gegenstände, die den Geschmack, Geruch und zum Theil auch das Gefühl des Menschen reitzten, hat man sich wahrscheinlich am längsten der bloßen Zeichensprache bedient. Es ist merkwürdig, daß wir mit dem Ausdruck jener Gegenstände, ob wir [100]gleich für sie und ihre Wirkungen auf unsere Sinnen, bestimmte Wörter haben, noch am meisten die Gesichts- und Zeichensprache verbinden; nicht so mit Bezeichnung blos sichtbarer und hörbarer Gegenstände.

Es können Jahrhunderte verflossen seyn, ehe die Menschen die bloße Pantomimensprache gegen die Wortsprache umtauschten, und in dem rohen Zustande der menschlichen Natur, wo die Menschen noch nicht so genau miteinander umgingen; sich noch keine geistigen Ideen mitzutheilen hatten; nur ihrer Instinkte wegen miteinander zusammenkamen, war Pantomime für den Ausdruck ihrer Empfindungen und Gedanken auch zureichend genug ― selbst zureichend genug, als sie schon unter der Herrschaft eines Mächtigern zu stehen anfingen. Erst die genauere Verbindung miteinander in Familien, der nähere Umgang, den sie miteinander unterhielten, muß die Zeichensprache nach und nach verbannt haben. Der gesellig werdende Mensch will seine Gefühle, seine Entwürfe gern deutlicher andern mittheilen, als durch bloße Zeichen. Diese sind ihm nicht mehr zureichend genug, sich bei andern beliebt zu machen. Die väterliche und mütterliche Liebe braucht Ausdrücke des Mundes, den Geist geliebter Kinder zu bilden, und diese Liebe nebst der, welche beide Geschlechter für einander fühlten, waren sehr wahrscheinlich zwei große Beförderungsmittel der [101] Ausbildung der Sprache. Musik und Tanz thaten gewiß auch das ihrige dabei. ― In einem andern Klima, wo die Natur die Menschen rauher geschaffen hatte, war auch vielleicht ein Despot der erste Gesetzgeber der Sprache.

Die Sprache mußte schon große Fortschritte gemacht haben, die Begriffe der Menschen mußten schon sehr vervielfältigt, verfeinert, geordnet, die Nothwendigkeit des Sprachunterrichts insbesondre mußte schon dringender geworden seyn, als sie Abstrakta zu benennen anfingen. Ehe die Menschen ganze Geschlechter und Arten von Geschöpfen kennen lernten, verging wahrscheinlich viele Zeit. ― Für diese Geschlechter und Arten wurde der schon bekannte Name eines einzelnen dahin gehörigen Individuums ohne Zweifel der nachherige Allgemein- oder Geschlechtsname, und mithin waren die Bezeichnungen der Thierklassen ― (wieder, weil sie den Menschen am ersten bekannt werden mußten) ― auch die ersten Wörter für Abstrakte.

Später noch folgten die, welche Eigenschaften des menschlichen Geistes, Pflichten, Tugenden und Laster andeuteten. Es ist in der That leichter auszumachen, wie die Menschen auf diese Begriffe, als wie sie auf die Ausdrücke derselben gekommen sind ― Es läßt sich hier durchaus nicht bestimmen, ob die Menschen blos willkührliche zufällige Wörter für abstrakte Begriffe gradezu [102]angenommen haben, oder ob sie sich bei Annahme derselben nach gewissen vorherbestimmten Sprachgesetzen, nach einem vorhandenen Gefühl von Harmonie oder Uebelklang des Worts für diese oder jene Tugend, oder nach andern Nebenumständen gerichtet haben. Dies sind Geheimnisse, die kein menschlicher Scharfsinn je ganz aufdecken wird.

Auch kann es nicht geläugnet werden, daß die ersten Spracherfinder abstrakter Ausdrücke, sich die Abstrakte schon lange ziemlich deutlich vorgestellt hatten, ehe sie noch die bestimmten Wörter für sie besaßen. (Freilich mußte eine große neue Helligkeit mit der symbolischen Kenntniß in das Gebäude ihrer Begriffe gebracht werden.) So hatten sie gewiß Vorstellungen von Größe, Raum, Zeit, Kraft, Zahl, ― nur noch nicht ganz deutliche Vorstellungen, weil sie bei allen diesen Begriffen noch nicht so leicht die Menge von Individuen absondern konnten, deren Bilder sich in ihre Seele drängten, wenn sie sich das Abstraktum allein vorstellen wollten. Eben so übten sie gewiß schon die Tugenden der Gerechtigkeit, der Menschenliebe, der Wohlthätigkeit aus, ehe noch der abstrakte Name für jede Tugend vorhanden war.

Pokels.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) Discours sur l'origine & les fondemens de l'inégalité parmi les hommes. p. 90. Ed. Genev. 12. Tom. I. a

Erläuterungen:

a: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. Die Seitenangabe bezieht sich auf eine Ausgabe, die 1755 in Amsterdam bei Rey veröffentlicht wurde. In Rousseau 1782-1789 befindet sich der Aufsatz im ersten Band, aber die korrekte Seitenangabe wäre S. 111.