ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Fortsetzung des Schreibens von Herrn Abbé L'Epee an Herrn Direktor Heinicke.

l'Epée, Charles Michel de

Sie sagen, die Wörter, sie möchten nun gedruckt oder geschrieben seyn, sehen aus, wie eine Reihe von Fliegen und Spinnenfüssen; sie haben keine eigentliche Figur oder Gestalt, welche sich die abwesende Einbildungskraft vorstellen könne; ja man könne kaum einen Buchstaben von dem andern, geschweige denn ein ganzes Wort, im Gedächtniß unterscheiden.

Z.B. führen Sie das Wort Paris an, und sagen, das man sich dieß Wort, so wie es geschrieben ist, lange nicht so deutlich vorstellen könne, als wenn man es aussprechen hört.

Sie scheinen also die bewunderungswürdige Erfindung der Buchstaben ziemlich gering zu schätzen, indem sie dieselben mit Fliegen und Spinnenfüßen vergleichen.*) 1

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Sie behaupten also, aber Sie beweisen nicht, daß die Gestalt eines jeden Buchstaben nicht ausgezeichnet genug sey, um den einen nicht mit dem andern zu verwechseln.

Ich rufe die Taubstummen selbst gegen Sie zu Zeugen auf, deren die meisten vom ersten Tage ihres Unterrichts an schon eine so lebhafte Idee von der Gestalt der Buchstaben erhalten haben, daß sie nach weggenommner alphabetischen Tafel, auf Befragen die einzelnen Buchstaben durch das Fingeralphabet wieder hersagen können. Indem sie z.B. den Daumen und kleinen Finger herunter und die drei mittelsten Finger in die Höhe halten, bezeichnen sie den Buchstaben m, dessen Figur sie sehr deutlich ausdrücken, indem sie auch noch den Zeigefinger herunterhalten, bezeichnen sie n; durch den Daumen und Zeigefinger in Form eines Cirkels zusammengehalten wird o bezeichnet u.s.w. Ihr angeführtes Wort Paris würden sie auf die Weise mit Kreide oder mit den Fingern sehr bald wieder darzustellen wissen, wenn es ausgelöscht wäre.

Sie belieben noch zu erwägen, daß die großen Buchstaben, wie man sie zu Inschriften an Häusern u.s.w. braucht, noch weniger mit Fliegen und Spinnenfüssen zu vergleichen sind. Wir bedienen uns daher auch beim Anfange des Unterrichts der Taubstummen größerer Buchstaben, die wir nach und nach immer kleiner machen.

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Sie scheinen nicht zu glauben, daß ein geschriebenes Wort in der Einbildungskraft füglich könne dargestellt werden, weil sie die Buchstaben von dem Grunde, worauf sie befindlich sind, abgesondert betrachten, so daß dadurch ihre Farbe verschwindet: allein die Buchstaben mögen nun gedruckt oder geschrieben seyn, so können wir sie uns doch nicht ohne einen solchen Grund denken, dessen Oberfläche sie mit ihren Zügen färben, und also in eine weiße oder schwarze Farbe gekleidet, die Einbildungskraft beständig in Bewegung setzen, woher das Bild von ihnen eben so deutlich wird, als wenn wir sie in dem Buche oder auf dem Papiere vor Augen sehen.

Allein, was setzen Sie denn nun an die Stelle dieser von Ihnen verworfnen Methode? Sie sagen: meine Schüler lernen lesen, und die Wörter laut und deutlich und mit Verstande hersagen. Sie denken träumend und wachend in ihrer artikulirten Sprache. Ein jeder kann sie anreden, wenn er nur die Worte langsam ausspricht. Die Schriftsprache gründet sich in ihrer Vorstellung auf die Tonsprache, die sie zwar nicht durch das Ohr, sondern durch einen andern Sinn empfangen. Zuerst ist ihr Geheul erbärmlich, aber nach zwei oder drei Jahren lernen sie laut und deutlich reden, und am Ende selbst deklamiren.

Das Wort Paris also, welches meine Schüler in einem Augenblick fassen, daß sie es wieder an [76]die Tafel schreiben können, behalten Ihre Schüler nicht ehr im Gedächtniß bis Sie dieselben erst gelehrt haben, wie die Lage der Zunge, Zähne, Lippen und Kinnbacken bei der Aussprache eines jeden einzelnen Buchstaben beschaffen seyn müsse; und wenn sie es nun dahin gebracht haben, so können sie doch selber nicht urtheilen, ob sie es durch den Ton der Stimme recht oder unrecht ausgedrückt haben.

Zugegeben aber, daß sie durch diese Artikulation weiter kommen; könnte dann die Einbildungskraft jedes Wort ihnen nicht eben so gut ins Gedächtniß zurückrufen, wenn sie auch nicht jede Lage der Sprachwerkzeuge in eben der Ordnung wieder darstellten, indem sie durch die innere Berührung der Zunge mit den übrigen Sprachwerkzeugen den ehemaligen Laut nachahmen ― Wer fühlt nicht die Langsamkeit und Schwierigkeit hierbey?

Daß aber die Schüler sowohl wachend als träumend in ihrer artikulirten Sprache denken sollen, begreife ich nicht recht. Der Franzose denkt also in der französischen, der Lateiner in der lateinischen, der Deutsche in der deutschen Sprache, ich aber denke oft in keiner, da es sich häufig zuträgt, daß ich mir im Traume Dinge vorstelle, die mir bloß meine Phantasie vormahlt, und ich mit keinem Nahmen in irgend einer Sprache zu nennen weiß; ja es fügt sich auch, daß ich an Dinge denke, die einen mir unbekannten Nahmen haben, wie unzäh-[77]lige Instrumente der Handwerker, die ich zwar gesehen aber deren Nahmen ich nie gehöret habe.

Ja sogar im Wachen trift es sich oft, daß ich gern und lange an Personen oder Sachen denke, deren Nahmen ich mir vergeblich ins Gedächtniß zurückzurufen suche.

Ich gehe weiter: Sie haltens für unmöglich, daß die Taubstummen alle Wörter der Sprache, wodurch wir unsre Gedanken ausdrücken, im Gedächtniß behalten und sie wieder hinschreiben können, sobald ihnen nur die methodischen Zeichen vorgemacht werden.

Allein es ist bei uns nicht die Rede von allen möglichen Wörtern, sondern nur von denen, welche im gemeinen Leben oder in unserm Religionsunterricht oder in irgend einem moralischen Buche vorkommen. Was aber Kunstwörter oder technologische Ausdrücke anbetrift, so lernet dieses der Taubstumme freilich nicht, und es ist genug, wenn er nur die Wörter weiß, die für den größten Theil der Menschen zu ihren Lebensbedürfnissen hinlänglich sind.

Daß aber dergleichen Worte den Taubstummen entweder aus einem aufgeschlagnen Buche oder aus einem entsiegelten Briefe, durch die methodischen Zeichen diktirt werden, bezeugen so viele Personen aus allen Gegenden, die ich nicht hätte betrügen können, wenn ich gleich gewollt hätte. Täglich sind Leute bei unserm Unterricht zugegen, die [78]sich nicht auf das Gerücht verlassen. Sie kommen voll Mißtrauen, aber sie gehen nicht so wieder weg.

Selbst Perriere sahe, wie ein von ihm geschriebener Brief durch die methodischen Zeichen einer Taubstummen diktirt wurde, und brach in die Worte aus: hätte ich es nicht gesehen, nie hätt' ich es geglaubt.

Perriere hätte, welches wohl zu merken ist, diesen Brief auch seinen Schülern diktiren können, aber nur mit dem Unterschiede, daß er ihnen durch Hülfe der Daktilologie die einzelnen Buchstaben eines jeden Worts angezeigt hätte, die seine Schüler zwar nachgeschrieben, aber den Sinn dieser Reihe von Buchstaben nicht verstanden hätten.

Die methodischen Zeichen hingegen sind keiner besondern Sprache eigen, sie bezeichnen kein Wort noch irgend einen Buchstaben, sondern drücken Ideen aus, und wenn diese der Schüler verstanden hat, so kann er sie wiederum in seiner Sprache, es sei welche es wolle, ausdrücken, und dann ist es unmöglich, daß er den Sinn des Worts nicht fassen sollte, welches er sich selber zu schreiben wählet.

Wie groß der Unterschied zwischen jener und dieser Methode zu diktiren sei, bemerkte Se. Kaiserliche Majestät beim ersten Anblick. Da ich nehmlich einer Taubstummen die Worte durch die Daktilologie diktirte: es sei ferne von mir, daß ich mich rühme, denn alleine in dem Creutz, und ihr befahl, daß sie den Sinn dieser Worte durch die [79]methodischen Zeichen an den Tag legen solle, so gab sie zur Antwort: sie wisse nicht, was diese Worte sagen sollten.*) 2

Der Kaiser bemerkte sogleich, daß diese Methode bloß mechanisch sei, und man immer dieselbe Antwort erwarten müsse.

Demohngeachtet verschmähen wir den Gebrauch der Daktilologie nicht ganz; wo sie nöthig ist, um die eigenthümlichen Nahmen der Menschen, Länder, Städte u.s.w. auszudrücken, welche, ihrer Natur nach, durch die methodischen Zeichen nicht können dargestellt werden.

Se. Kaiserl. Majestät hat noch einen andern Versuch in unserer Kunst mit angesehen: ich hatte nehmlich fünf Taubstumme so gestellt, daß der eine nicht sehen konnte, was der andre schrieb, und so diktirte ich ihnen einen Satz, der ohngefähr aus zehn Wörtern bestand, und den ich durch die methodischen Zeichen ausdrückte, dieser Satz wurde von dem einen mit französischen, von dem andern mit lateinischen, von dem dritten mit italiänischen, von dem vierten mit spanischen und von dem fünften mit englischen Worten aufgeschrieben.

Hieraus können Sie schliessen, daß ich nicht mit Unrecht behauptet habe, die allgemeine Sprache, welche schon so lange von den Gelehrten ge-[80]wünscht ist, könne aus den methodischen Zeichen bestehen. Der gelehrte Abt Condillac hat schon gewünscht, daß die Lehrer in den Schulen verschiedner Nationen kein Wort vorbringen sollten, dessen methodische Zeichen sie nicht auch ihre Schüler lehrten.

Doch will ich nicht mit Stillschweigen übergehen, was mir oft von gelehrten Männern eingeworfen ist: es sei unmöglich, wenn jemand einen ganzen Satz durch die methodischen Zeichen ausdrücke, daß er nicht die seiner Sprache angemessene Ordnung darinn beobachte; nun sei aber doch der Genius der Sprachen so verschieden, daß wenn einer zum Beispiele die französische Wortfolge durch die methodischen Zeichen beobachte, ein Italiäner und noch weniger ein Deutscher den Sinn des ausgedrückten Satzes fassen könne.

Allein man bemerke, daß ich eben so viele Zuschauer voraussetze, welche von ihrer ersten Kindheit an unterrichtet sind, und denen die methodische Zeichensprache so geläufig ist, wie ein Franzose die französische, und ein Deutscher die deutsche Sprache versteht: dieß vorausgesetzt, bemerke man, was geschehen würde, wenn jemand in Gegenwart von zwölf Franzosen, die lateinische Sprache vollkommen inne habend, einen Satz französisch diktierte, und ihn ins Lateinische übersetzen lassen wollte.

Von diesen Zwölfen würde man keinen einzigen finden, der sich vornehme, die französische Wortfolge in dem Satze beizubehalten, da ein jeder [81]nur bemüht sein würde, den Sinn des Satzes deutlich auszudrücken.

Eben das wird aber der Fall bei einem jeden Satze seyn, der aus der methodischen Zeichensprache in eine andere übersetzt werden soll. Man wird sich nicht um die Folge der körperlichen Bewegungen bekümmern, sondern die Ideen, welche durch dieselben ausgedrückt werden, nach dem eigenthümlichen Charakter der Sprache zu bezeichnen suchen.

Ich werde also niemals dem Lehrer der Taubstummen zu Wien rathen können, daß er seine Schüler selbst reden lehre, sondern daß er Personen unterrichte, welche sich dieser mechanischen Arbeit unter seiner Aufsicht unterziehen, er selbst aber soll nützlichere und wichtigere Dinge thun.

Fußnoten:

1: *) Dieß folgt wohl aus der Vergleichung nicht. <M.>

2: *) Das ist dem armen Mädchen wohl zu glauben! <M.>