ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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V.

Merkwürdiges Bekenntniß eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat.*) 1

Moritz, Karl Philipp

Gleich bei der ersten Nachforschung, wegen des Thäters der Verwundung und Entleibung, entstand ein starker Verdacht gegen den Inquisiten. Er wurde daher mit Steckbriefen verfolget, in Dannicko unterm Chursächsischen Amt Gommern b betreten, von da ausgeliefert, und demnächst von den Nedlitzschen c Amtsgerichten, jedoch in Magdeburg, wohin derselbe mehrerer Sicherheit wegen gebracht wurde, zur Inquisition gezogen.

Weil er von dem Amte Gommern so fort ausgeliefert wurde, und also eher, als die Beerdi-[41]gung des Ermordeten geschehen war, zu Nedlitz ankam; so wurde er zu dessen bereits mit einem Sterbehemde bekleideten Körper geführet.

Der inquirirende Justitiarius gab ihm durch Zeichen zu verstehen: ob er den Körper für denjenigen halte, welchen er ums Leben gebracht habe? Es wurde ihm zu solchem Ende die Wunde am Halse gezeiget, und die Art und Weise, wie die Verwundung durch ein Messer geschehen sey, vorgemacht.

Hierauf geberdete sich der Inquisit sehr kläglich, er weinte, zeigte auf sich, und des Ermordeten Wunde, und nickte dabey mit dem Kopfe: Woraus um so mehr geschlossen wurde, daß er sich für den Mörder bekenne, weil er äußerst bestürzt war, und bei Vorzeigung der mit Blut beschmierten Kleidung des Getödteten sogleich mit der Hand darauf zeigte, daß solche Kleidungsstücke dem Ermordeten zugehörten.

Die Bewegung seines Körpers und seiner Gliedmaßen war dabei außerordentlich. Er wimmerte, sobald er den erblaßten Körper ansah, und gab durch Zeichen zu verstehen, daß er von dem Orte weg seyn wollte.

Tages darauf wurde er an den Ort des begangenen Mordes geführet, und, auf das daselbst liegende Blut zu sehen, angewiesen.

Er nickte darauf mit dem Kopfe, und gab durch Zeichen am Halse zu erkennen, daß dieses der [42]Ort sey, wo der Ermordete ums Leben gekommen wäre.

Auf die Frage: ob dieses der Ort sey, wo er die That begangen hätte? gab er durch Zeichen in so weit eine deutliche Antwort: daß er bei der That zugegen gewesen, und der Ermordete durch Schnitte am Halse ums Leben gekommen sei.

Er bezeigte auch durch Leibesstellung dieses: daß der Ermordete etwas auf seinem Rücken gehabt habe, und derselbe rückwärts sei übergezogen worden.

Man machte zu gleicher Zeit einen Versuch, ob Inquisit, wie verlauten wolle, schreiben könnte. Man schrieb die Frage hin: Ist dieses der Ort, wo ihr den Messerkerl ermordet?

Allein aller angewandten Mühe ungeachtet, gab er keine schriftliche Antwort, sondern er machte bloß die ihm vorgeschriebenen Worte nach. Hingegen schrieb er, als ihm die Frage: Wie heißt euer Nahme? geschrieben war vorgeleget worden, auf ein ihm vorgehaltenes Brett, mit der ihm in die Hand gegebenen Kreide mit sehr leserlichen Buchstaben seinen Nahmen: J. Brüning.

Am 7ten benannten Monaths wurde Inquisit von dem Justitiarius in Beisein zweier Assessoren anderweit vorgenommen, und die Gelegenheit dazu gab die Nachricht, daß der Inquisit am zweiten Finger der rechten Hand eine sehr kleine Verwundung habe, welche dem Ansehen nach ein Biß wäre, [43]und dem Inquisiten, wie er vorgabe, von dem Entleibten solle zugefüget worden seyn.

Es wurde auch im Verhöre diese kleine Wunde, so bereits fast völlig wieder zugeheilet war, bemerket, und von dem Inquisiten durch Zeichen zu verstehen gegeben, daß er solche von dem Ermordeten durch einen Biß bekommen habe.

Bei dieser Gelegenheit gab der Inquirens, wiewohl vergeblich, sich viele Mühe, von dem Inquisiten auf schriftliche Fragen dergleichen Antwort, oder auch nur eine Antwort durch Zeichen zu erhalten: der Inquisit schrieb bloß die ihm vorgelegten Fragen ab oder nach, ungeachtet er den Verstand der ihm vorgeschriebenen Wörter zu haben schien.

Als ihm aber mancherlei Zeichen durch Bewegung des Körpers und dessen Gliedmaßen waren vorgemacht worden, die ihm begreiflich machen sollten, daß man von ihm zu wissen verlange: ob er nicht dem Messerkerl, und auf was für Art, den Hals abgeschnitten und also ihn ums Leben gebracht habe? gab er durch seine Gestus zu erkennen, daß er den Sinn verstehe und Antwort geben wolle.

Er beugte sich mit Unterlegung der Hand gegen den Kopf zur Seite, und bezeichnete einen Schlafenden; er stellte neben sich einen großen Mann vor, so ihm nach der Tasche gefaßt hätte; wies auf die linke Seite, als den gewöhnlichen Ort eines Degens oder Couteau; d bezeichnete, daß [44]das daselbst gehabte Instrument lang gewesen, und er mit demselben von dem Kerl (den er mit Beschreibung eines Bogens über den Rücken bezeichnet hat) im Schlafe überfallen worden sei: man schloß daraus, daß er sich die Augen mit den Händen gerieben, und sich dabei als einen Menschen geberdet habe, der unvermuthet aus dem Schlafe gebracht wird.

Die übrigen Geberden des Inquisiten wurden dahin gedeutet, daß er bei dem erwähnten Anfalle aufgesprungen sei, darauf ein kleines Messer ergriffen, den Messerkerl hinterwärts um und zur Erde niedergezogen, und mit dem ganz klein beschriebenen Messer ihm in den Hals geschnitten habe.

Bei dem Verhör bezeigte der Arrestant durch seine Gestus ganz deutlich mit Annehmung zorniger Gebehrden und Stellungen, daß er auf den Messerkerl böse gewesen.

Die Ursache hievon suchte er folgendergestalt zu beschreiben: der Messerkerl, auf dessen Figur hinweisend, habe ihm in der Nacht, da er mit ihm im Wirthshause geschlafen, ganz sachte in seine Tasche gegriffen, und ihm einen Beutel, davon das Band aus der Tasche gehangen, herausgezogen, bei welcher Beschreibung er den einer viertel Elle langen Beutel vom Tische nahm, solchen in seine Tasche steckte, den Band heraushängen lies, und [45]die Handlung dadurch den Umstehenden zu zeigen suchte.

In diesem Beutel sei Geld gewesen, welches ihm mit sammt dem Beutel der Ermordete im Schlafe weggenommen.

Er stellte ferner hiebei vor: wie er bei seiner Erwachung diesen angeblich von dem Messerkerl ihm entwendeten Beutel vermißt, und seine Verwunderung gegen denselben zu erkennen gegeben, welcher ihm aber hierauf trotzig und verächtlich begegnet und s.v. den Hintern gewiesen.

Wegen dieses entwandten Geldbeutels sei er hinter dem Messerkerl hergefolget, und (hier nahm er bittende, doch eifrige Mienen an) wie er nochmals den Geldbeutel zurück verlanget, habe dieser ihm solchen zu geben sich geweigert, den Rock aufgehoben, und den Hintern gewiesen, auch, da er mit Eifer den Beutel verlanget, ihn mit dem in der Hand gehabten Stock über den Arm geschlagen.

Bei dieser Handlung stellte er sich in der Gestalt eines wüthend Zornigen, nahm einen neben ihm stehenden bei dem Arm, kehrte selbigen mit dem Rücken nach sich, und stellte die Action vor, wie er den Messerkerl hinterwärts zu Boden gerissen.

Auf der Erde habe er den Ermordeten mit einem Einlegemesser, worauf gelbe Buckeln, nehmlich auf [46]der Schaale gewesen, dessen Klinge vorn zugespitzet und schmal gewesen, (wie er solches an dem vorgelegten Einlegemesser sowohl, als einem mit Kreide auf dem Tisch gemahlten Messer, beschrieb) in den Hals gestochen, so daß die Spitze des Messers auf der andern Seite wieder herausgekommen.

Der Ermordete habe die Arme nach ihm ausgestreckt, und demselben in den zweiten Finger der linken Hand gebissen, an welchem er noch die Narbe zeigte: (bei dieser Vorstellung zeigte er wieder durch Annehmung einer zornigen Miene, daß ihn dieser Biß noch mehr in Zorn gebracht.)

Darauf er, auf das Messer zeigend am Halse hin und zurückziehend, mit dem Messer am Halse hin und her geschnitten, auch mit voller Faust dem Messerkerl so auf das Maul geschlagen, daß er ihm die Zähne dadurch ausgedrückt.

Um ihn durch neue Fragen nicht konfus zu machen, ließ man ihn die angefangene Beschreibung fortsetzen, da er denn die Suite dieser Handlung auch dermaßen beschrieb: Wie er den Messerkerl, da demselben das Blut aus dem Halse gelaufen und er die Hände bereits entkräftet ausgestreckt, auf die Seite geleget, und ihm den Messerbündel mit dem Trageriemen sachte abgenommen, sich solchen Bündel über seine Arme gemacht, und damit fortgegangen sey.

[47]

Bei Beschreibung des Weges, welchen er genommen, hielt sich Arrestant an die auf den Tisch mit Kreide gemahlte Figur der Kienheide und des Weges nach Nedlitz, mahlte an der Kirschallee eine Mühle, oberwärts aber noch einige Thürme, und noch eine andere Mühle, davon die erste vermuthlich die Relitzsche bedeuten sollte.

Er wieß, wie er noch diesseits der Nedlitzer Mühle um die Nedlitzer Kienheide dicht herum, jedoch nicht nach Nedlitz zu, nach der andern Mühle heraufgegangen, sich aber vorhero in einen Graben geleget, und sich umgesehen.

Er wieß zugleich auf einen hieher gezeichneten Schäfer, und gab so viel zu verstehen, daß er den Schäfer gesehen, sich aber in Erwählung seines Weges immer umgesehen, und solchem aus dem Gesichte zu kommen gesucht, und endlich nach den Dorfe gekommen, wo er arretirt worden.

Bei Vorstellung dieses Dorfs mahlte und beschrieb er ein Wirthshaus, darin er sich mit des Entleibten Sachen hingesetzt und das Geld überzählet.

Indessen sei ein großer starker Mann, welchen er mit einer großen rauhen Mütze mahlte, in dem Wirthshause beim Geldzählen an ihn gekommen, und habe von ihm ein Papier verlanget.

Hier ergrif er einen Bogen Papier vom Tisch, wieß auf die gezeichnete Figur, so daß Papier von ihm verlanget, und welcher er auch den Bogen zugestellet.

[48]

Da dieser den Bogen gelesen, (welche Handlung er ganz deutlich vorstellte,) sei diese Person zornig und unwillig auf ihn geworden, und ohngeachtet er derselben Pfeifenröhre und andre Sachen geben wollen, diese obbeschriebene Person dennoch zornig geblieben, habe ihn mit der Hand in die Haare gefaßt, ihn dabei geschüttelt, und endlich habe sich diese Person zu Pferde gesetzet, und habe Bericht (so er durch Schreiben suchte begreiflich zu machen) von ihm abgestattet, indessen aber ihm den Messerbündel und Sachen wegnehmen und versiegeln lassen.

Da er den andern Tag (den er nach wieder geendigtem Schlaf vorstellte) mit dem Bündel aus dem Kruge weggegangen, hätten ihn einige zu Pferde und Fuß mit Knüppeln, auch Seitengewehr angehalten; und ohngeachtet er gebeten, ihn gehen zu lassen, sei er doch mit Schlägen und Maulschellen hart begegnet, und geschlossen an Händen nach dem Orte (wobei er zugleich Thürme mahlte, so vermuthlich Gommern seyn sollte) gebracht worden: vorher aber hätten ihn diejenigen, so ihn geprügelt, (wobei er zugleich auf den mit anwesenden Gerichtsdiener wies) alles weggenommen; ihm Hosen, Weste und alle Kleidung durchgesuchet, und die darin befindlich gewesene Sachen und Geld daraus genommen.

An diesem Orte hätte er zwei Nächte bleiben müssen, sei in einem tiefen Loche an einen Stein [49]angeschlossen gewesen, und mit Wasser und Brod gespeiset worden.

Alle diese Beschreibungen machte der Arrestant so deutlich und überzeugend, daß gar keine Zweideutigkeit übrig blieb.

Da man ihm begreiflich zu machen suchte, wie er deshalb, daß der Ermordete ihm, seinem Vorgeben nach, etwas entwendet, demselben nicht hätte den Hals abschneiden, sondern Hülfe bei den Gerichten suchen sollen, gab er auch hier zu erkennen, daß er den Sinn dieser Vorstellung einsehe, und zur Entschuldigung gab er nicht nur durch Mienen und Zeichen zu verstehen, daß der Messerkerl schon sehr weit von ihm weggewesen, sondern mahlte auch auf dem Tische in weiter Entfernung von sich den Messerkerl ab, und wie er denselben durch große Schritte wieder einholen müssen: woraus man den Schluß machte, wie er sich damit entschuldigen wolle, daß er nicht Zeit gehabt haben würde, anderwärts Hülfe zu suchen.

Im Betreff der Frage: ob ihm bekannt, daß er wegen der begangenen Mordthat Strafe verdienet? und was für Strafe? stehet folgendes im Protecoll:

Der Sinn dieser Frage konnte ihm wohl nicht anders als dadurch begreiflich gemacht werden, daß ihm mit Hinweisung auf des Entleibten gemahlte Figur, als auch auf die mit dessen [50]Kleidern behangene hölzerne Maschine die That nochmals zu Gemüthe geführet wurde.

Da er aber bei diesen Vorstellungen noch immer drauf hinwies, daß der Messerkerl schon sehr weit von ihm gewesen, und er ihn verfolgen müssen, so wurde ihm ein ausgezognes großes Seitengewehr vorgezeiget, und ihm mit nochmaliger Hinweisung auf die seine That anzeigende Gemälde gewiesen, daß er deshalb mit dem Schwerdte würde bestrafet werden: worauf er sich demüthigend stellte, vor seine Brust schlug, die Kniee beugte, auch gegen den Himmel wieß, dabei solche Zeichen mit den Händen machte, woraus man abnehmen konnte, daß er damit Reue über die begangne That bezeugen, und dabei versprechen wollte, daß er solche nicht weiter verüben wolle.

Fußnoten:

1: *) Dieser Taube und Stumme Nahmens Brüning hat diesen Mord 1764, im Magdeburgischen, an einem Messerkerl verübt, und wurde zu zeitlebens daurender Zuchthausstrafe verurtheilt.
Da dieß eine Sache ist, die die Menschheit interessirt, und in psychologischer Rücksicht höchst merkwürdig ist, so habe ich kein Bedenken getragen, sie aus den Beiträgen zur juristischen Litteratur in den Preußischen Staaten, wo sie in der 5ten Sammlung steht, a mit Weglassung des bloß Juristischen, auszuziehen, um sie auf die Weise noch gemeinnütziger und zweckmäßiger zu machen.
M.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Beiträge 1780, Erster Abschnitt, Praejudicia juris, S. 1-90, darin S. 4-37.

b: Dannigkow ist ein Ortsteil der Stadt Gommern in Sachsen-Anhalt. Bis 1808 gehörte der Ort zum kursächsischen Amt Gommern, das eine Enklave im Magdeburgischen bildete.

c: Nedlitz ist eine Ortschaft der Stadt Gommern.

d: Französisch: Messer.