ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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VIII.

Auszug aus der Antwort des Herrn Abbé l'Epee auf den Brief des Herrn Direktor Heinicke.

l'Epée, Charles Michel de

Sie glauben, daß Sie einen kürzern und leichtern Weg Taubstumme zu unterrichten, als der unsrige ist, gefunden haben: indem sie nehmlich behaupten, daß die Lehrlinge gleich von Anfang an zum Reden müssen gewöhnet werden, wodurch dem Unterricht gleichsam eine weitere Thüre eröfnet, als nach meiner Methode durch geschriebene Charaktere und methodische Zeichen, möglich ist.

Sie sind also gleicher Meinung mit dem Perriere, der schon vor dreißig Jahren, in einer französischen Schrift, die er im Jahr 1751 der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Paris überreichte, a eben dieses behauptet, und folgendermaßen in der dritten Person von sich spricht:

»Perriere theilt seinen Unterricht in zwei Theile, zuerst sucht er vorzüglich die Sprache, nachher den Verstand zu bilden. Zuerst lehrt er sie also die Kunst, einzelne Wörter in unsrer Sprache zu lesen und auszusprechen, alsdenn aber auch ganze Redensarten, die am häufigsten im gemeinen Leben vorkommen, nebst den Nahmen der Dinge, die zum täglichen Gebrauch [74]sind, als Essen und Trinken, Kleider, und Hausrath.

In der zweiten Abtheilung aber lehret er sie alles übrige, was nöthig ist, um ihre Bildung vollkommen zu machen, nehmlich die Kraft und Eigenschaft der Verborum, und wie sie sich derselben nach den Genius der Sprache grammatisch richtig bedienen sollen, es sey im Reden oder im Schreiben.

Wenige Tage, nachdem sie diesen Unterricht genossen haben, sind seine Schüler schon im Stande, einige Wörter deutlich auszusprechen.

Die ganze erste Hälfte des Unterrichts wird binnen zwölf oder höchstens funfzehn Monathen vollendet, vorzüglich, wenn die Lehrlinge noch von zarterem Alter sind. Die andre Hälfte aber erfordert längere Zeit, wenn es damit zu einiger Vollkommenheit gebracht werden soll.«

So weit Perriere, der mir erlauben wird, zu sagen, daß diese Methode den Progressen der Lehrlingen sehr schädlich ist, weil er es zwölf oder vierzehn Monathe lang in ihrem Verstande dunkel bleiben läßt.

Wir schlagen freilich einen ganz anderen Weg ein, indem wir in die Fußtapfen derer treten, die wir von unsrer frühesten Jugend an zu Lehrern gehabt haben, unsrer Ammen, Wärter, oder nur um wenige Zeit ältern Brüder und Anverwandten, denen es gar nicht so sehr um der Bildung unsres [75]Verstandes zu thun war, und die demohngeachtet fast in jedem Augenblick unsrer Kindheit, dieselbe unvermerkt bewürkten. Diese unsre frühesten Lehrer würden vergeblich die Dinge ein jedes mit seinem eigenthümlichen Nahmen benannt haben, wenn sie nicht unsre Augen durch ein Zeichen mit der Hand, oder durch einen andren Wink, darauf gelenkt hätten.

Diese gleichsam von der Natur vorgeschriebene Methode ist allenthalben befolgt worden, indem man sich dreier Hülfsmittel dabei bediente: zuerst des tönenden Worts, denn der Gegenwart der Objekte, und endlich des Hinblicks mit den Augen.

Eben das ist auch der Fall beim Unterricht der Taubstummen. Denn die Seele bekömmt den Begriff von der Beschaffenheit eines jeden einzelnen Buchstaben nicht durch die allenthalben beständig offne Thür, nehmlich durch die Ohren, sondern durch die Augen, als Fenster, die nur den sichtbaren Gegenständen offen stehen, indem zugleich der Lehrer ihm denselben bezeichnet, damit kein Irrthum statt finde.

Indeß nun die Stummen das geschriebene oder gedruckte Alphabet ansehen, lernen sie zugleich ihr Handalphabet, welches Perriere die Daktilologie nennt, und darin besteht, das sie ihre Finger in so verschiedene Lagen bringen, als einzelne Buchstaben nach gewissen Merkzeichen zu unterscheiden sind.

[76]

Was man Buchstabiren nennt, geschiehet nicht durch einen Laut der Stimme, sondern durch die nach den aufeinander folgenden Buchstaben abwechselnde Lage der Finger.

Ich schreibe z.E. an eine Tafel das Wort Fenster und lasse den Taubstummen seine Augen darauf richten: dieser bedienet sich sogleich der Handzeichen, womit er jeden einzelnen Buchstaben andeutet, und wiederholet dieses drei, vier oder fünf mal, so daß er seine Augen auf das Wort heftet und alle sechs Buchstaben nacheinander darin bezeichnet: alsdann kehret er seine Augen von dem Worte ab, und bezeichnet eben dieselben Buchstaben in eben derselben Ordnung durch die Daktilologie.

Darauf muß er sich wieder nach der Tafel wenden, und das Wort Fenster, welches der Lehrer während der Zeit ausgelöscht hat, wieder anschreiben.

Ist also der Taubstumme nur ein aufmerksamer Zuschauer, so wird er die einzelnen Buchstaben dieses Worts in ihrer Ordnung sich sehr leicht ins Gedächtnis prägen können, und sie nicht so leicht wieder vergessen, weil dieses Wort sowohl im Sprechen durch die methodischen Zeichen, als auch in unsern öffentlichen und Privatlektionen häufig vorkömmt.

Beiläufig ist hier noch zu bemerken, daß zu diesem Geschäfte, in Gegenwart und unter Anwei-[77]sung eines Lehrers, selbst bei den ersten Neulingen nicht mehr als zwei Minuten erfordert werden.

Sobald die Taubstummen durch die Daktilologie das ganze Alphabet ins Gedächtniß gefaßt haben, schreiten wir zu einem andern wichtigen Geschäfte fort.

Zuerst kommt wenig darauf an, ob der Taubstumme gut schreibt oder nicht, wenn nur die Buchstaben zu erkennen sind, denn die Konjugationen und Deklinationen bedürfen nicht sowohl einer zierlichen Schrift, als vielmehr nur einer deutlichen Bezeichnung der Endigungen. Daher wird dieß Geschäft gleich mit dem zweiten Tage, wo nicht schon mit dem ersten angefangen. Es werden nehmlich zwei oder drei Tempora eines Verbums, wovon ihnen ein Schema vorgelegt ist, täglich gelernet, welche sie nachher auf eine Tafel, nach weggelegtem Schema, mit Kreide schreiben, und in einer Zeit von sieben Tagen wissen sie das ganze Verbum Porter (tragen) auswendig, und haben sich dasselbe so ins Gedächtnis eingeprägt, daß sie die Tempora und Modos von alle den Verbis, die nach eben der Konjugation gehen, sowohl geschrieben, als durch die methodischen Zeichen, darstellen können.

Mit welcher Begierde zu lernen die Kinder diese Beschäftigung anfangen, und darinn fortfahren, läßt sich kaum sagen. Wir bringen ihnen indeß durch kleine Fragen die ersten Grundsätze der Reli-[78]gion bei, welche wir durch die methodischen Zeichen erläutern, die die Lehrlinge auswendig lernen, und am folgenden Tage an die Tafel schreiben: Dieses thun sie mit solchem Vergnügen, daß sie oft vor Freuden weinen, und wir uns selbst kaum der Thränen dabei enthalten können.

Dieser Uebung in den ersten Monathen, wo ein jeder besonders vorgenommen wird, werden zweimal wöchentlich die öffentlichen Vorlesungen hinzugefügt, welche den Taubstummen zur Erlernung der methodischen Zeichen äußerst nützlich sind. In diesen Vorlesungen diktirt nehmlich ein Lehrer durch die methodischen Zeichen, und die Materie, welche in der Ordnung der Vorlesungen folgt, wird in Frag' und Antwort getheilt, und mit Kreide auf eine fünf Fuß breite Tafel mit großen Buchstaben geschrieben. Sie enthält etwas mehr oder weniger als vierhundert Verba, und wird alsdann vor den Augen von funfzig Lehrlingen aufgestellt.

Alsdann wird durch die methodischen Zeichen gebetet, und die methodische Erklärung von den Verbis in einer jeden Frage hebt an, welche ohngefähr zehnmal wiederholet, und zuerst von dem Lehrer oder von einem der geschicktern Schüler unternommen wird, der auf die übrigen Achtung giebt, damit die Erlernung dieser Zeichen allmälig zu den jüngern und ungeübtern herabsteige, und sie dieselben machen lernen.

[79]

Diese Zeichen aber stellen nicht nur die einfache Bedeutung eines Wortes, sondern auch seine grammatikalische Beschaffenheit dar, wie Persona, Numerus, Tempora, Modi, ja sogar Genera und Casus verschieden sind: auch haben die Adverbia, Konjunktionen und Präpositionen ihre eignen Zeichen. Von den Neulingen aber, welche dieser Uebung beiwohnen, wird nichts verlangt, als die Zeichen der Nennwörter, welche häufig vorkommen.

In Zeit von einem Monathe werden also mehr als dreitausend Verba in den öffentlichen Uebungsstunden auf die Weise durchgegangen und wiederholet. Da nun der größte Theil derselben oft wieder vorkömmt, so prägen sie sich so tief ins Gedächtniß ein, daß die Eindrücke nicht nur niemals wieder ausgelöscht werden können, sondern von Tage zu Tage noch immer fester werden.

Ferne sey es also, daß wir die Seelen, welche nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, und aller Unterweisung fähig sind, zwölf bis funfzehn Monathe lang blos mit der Uebung reden zu lernen quälen sollten, als ob es nicht Menschen, die unserer Sorgfalt anvertrauet sind, sondern unvernünftige Thiere wären.

Warum sollen wir sie in der beweinungswürdigen Unwissenheit der nöthigsten Heilswahrheiten lassen, da wir ihnen sowohl von dem Daseyn eines Gottes, als auch von den vorzüglichsten Geheim-[80]nissen der Religion, ob zwar nicht deutliche, doch hinlängliche Begriffe geben können, so daß, wenn sie während der Zeit sterben, sie durch Christum die ewige Seeligkeit zu erlangen fähig sind.*) 1

Was auch Perriere sagen mag, so ist immer jene Methode, welche die angebohrnen Seelenkräfte schneller entwickelt, derjenigen weit vorzuziehen, welche erst binnen einem Jahre und später die Dunkelheit im Verstande zerstreut.

Freilich würde die Länge des Weges zu entschuldigen seyn, wenn einige Hofnung zu einem glücklichern Ausgange Statt fände, und der Weg selbst leicht und angenehm wäre.

Aber im Gegentheil wird den Lehrlingen nicht nur ein langer, sondern auch ein rauher und unebner Weg vorgezeichnet. Das große und schwere Geschäft wird mit einer ekelhaften und lästigen Arbeit angefangen, welche doch noch erträglicher werden würde, wenn sie nur mit irgend einer andern Uebung abwechselte, wodurch die Seele allmälig einige Nahrung erhielte, und der Verstand allmälig erleuchtet würde. Aber nein! jetzt ist die Stunde zum Reden, die Zeit zum Denken ist noch nicht da: eine dicke Finsterniß ruhet auf der Seele, während daß das Band der Zunge gelöset wird.

[81]

Und was kann während der Zeit der vortreflichste Lehrer thun, als das Geschäft eines bloßen Schulmeisters verrichten, welches auch leicht einem jeden andern übertragen werden könnte, wenn man nicht der unerfahrnen Menge ein Blendwerk vormachen will. Denn jener Theil des Unterrichts erfordert keine große Seelenfähigkeiten; unsere Aufseherinnen der Tauben und Stummen haben dieselbe bei einigen jungen Mädchen in Ausübung gebracht, nachdem wir ihnen bloß einige Tage lang zu dieser mechanischen Arbeit eine geringe Anweisung gegeben hatten. Hier kömmt es nicht sowohl auf Geschicklichkeit als Geduld an.

Wenn aber zu jener undankbaren Arbeit (zu deren glücklichen Beendigung Perriere zwölf bis funfzehn Monate Zeit fordert) der Lehrer und der Schüler täglich mehr als zwei Stunden, nehmlich eine Vormittags, und eine Nachmittags, verwenden, so werden beide so ermüdet seyn, daß sie die Beschwerlichkeit dieser Methode selbst wohl fühlen werden. Aber wie soll der Schüler seine übrige Zeit zubringen, dessen Verstand auf keine Weise beschäftigt wird? Er wird Langeweile haben, wenn er nicht Spielereien treibt, denn ohne Hülfe seines Lehrers kann er nichts Vernünftiges unternehmen.

Wir aber geben seinem Verstande vom ersten Anfang an schon Nahrung, und fahren nachher ohne Unterbrechung damit fort.

[82]

Da Perriere seine Methode von niemanden bestritten fand, so setzte er auch keine Grundsätze derselben fest, und blieb vier und zwanzig Jahre lang in ruhigen Besitz derselben: als dieselbe aber in meiner methodischen Unterweisung, die im Jahr 1775 ans Licht trat, von mir angegriffen wurde, so erklärte er, daß er seine Methode ausführlich vertheidigen würde, sobald es ihm seine Geschäfte erlaubten. Allein noch hat er keine Hand ans Werk gelegt. Wie würde er triumphirt haben, hätte er vorausgesehen, daß Sie mit ihm zur Vertheidigung derselben gemeinschaftliche Sache machen würden!

Eh ich aber über diesen Satz mich mit Ihnen weiter einlasse, so bitte ich, zu erwägen, daß ich gar nicht gesonnen bin, Ihre Art reden zu lehren, mit der Perrierischen zu verwechseln, weil mir weder Ihre Methode noch die seinige hinlänglich bekannt ist. In einem Punkte trift ihrer beider Meinung zusammen: sie behaupten nehmlich, daß die Tauben und Stummen eher zur Sprache, als zum Verständniß der Sachen und Wörter angeführt werden müssen. Das ist es, was ich mir zu wiederlegen vorgenommen habe; ich fahre also jetzt fort, Ihre Einwürfe einzeln zu beantworten.

(Die Fortsetzung folgt.)*) 2

Fußnoten:

1: *) Freilich ein sonderbarer Grund des Herrn Abts, der vermuthlich glauben muß, daß die andern Taubstummen alle verdammt werden. <M.>

2: *) Ein Aufsatz, den mir Herr Nikolai gütigst mitgetheilet hat, und welcher im nächsten Stück, nebst der Fortsetzung dieses Aufsatzes von Herrn Abt L'Epee, erscheinen wird, verbreitet über die gegenwärtige Streitfrage in Ansehung der Taubstummen vieles Licht. Auch behalte ich mir vor, über die in diesem Magazine gesammleten Fakta von Taubstummen künftig allgemeine Reflexionen, die menschliche Seele betreffend, anzustellen.
M.

Erläuterungen:

a: Pereire stellte am 11. Juni 1749 und am 27. Januar 1751 taubstumme Schüler in Sitzungen der Académie Royale des Sciences in Paris vor. Er publizierte seine Reden als Mémoires jeweils in demselben Jahr.