ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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IV.

Ein sonderbarer Hang zum Stehlen. a

Nencke, Karl Christoph

Voriges Jahr ließ sich ein Rekrut bei dem Grenadierbattaillon von Scholten an der sächsischen Gränze wieder engagiren. Er gab vor: zuletzt aus der Vestung Schweidnitz desertirt zu seyn, und bei verschiedenen Regimentern gedient zu haben, wo er immer von einem an das andere abgegeben worden. Man versprach sich anfänglich nicht viel Gutes davon. Allein er hielt sich einige Monath sehr ordentlich, machte keine Excesse, war kein Säufer, verrichtete seinen Dienst, und hatte überdieß eine gute Gestalt und Positur. Endlich wurde er wegen einiger unbedeutender Diebstähle zur Verantwortung gezogen. An einem Ort nahm er einen Hammer und warf ihn auf die Straße, wo er sich nicht weiter darum bekümmerte, bis ihn endlich ein paar Tage drauf der Geldmangel nöthigte, ihn wieder aufzuheben und zu verkaufen, wodurch seine Dieberei entdeckt wurde. Bei einem Kaufmann nahm er ein halb Pfund Gewicht, welches man noch bei ihm fand. Er gestand im Verhör, daß weder Liederlichkeit noch Noth ihn zum Stehlen reitzten, welches auch Zeugenaussagen und andere Umstände bewiesen; allein er hätte einen unwiderstehlichen Hang, Dinge, die er oft gar nicht zu nützen wüßte, zu stehlen. Der Paroxismus überfiel ihn mit Zittern und entsetzlicher Angst, und er wäre nicht ehr [19]ruhig, bis er etwas genommen. Oft fiele er mitten in der Nacht in diesen Zustand, wo er aufstehen und das erste beste ergreifen müßte, was ihm in die Hände fiele. Oft ergriffe er in dieser Angst, Töpfe und andere zerbrechliche Sachen, die er denn in Stücken zerschmisse, und sodann ruhig wäre. Dieses Unglück sei die Ursach, warum er von einem Regiment an das andere abgegeben worden. Die schreklichste Strafe wäre bei ihm fruchtlos, denn er sei in diesen Anfällen seiner Sinnen gar nicht mächtig; übrigens glaube er, daß ihm böse Leute etwas angethan. Er glaubte mit einer leichten Strafe davonzukommen, versprach, so viel möglich auf seiner Hut zu seyn, oder wenigstens den Diebstahl sogleich anzuzeigen; aber das Stehlen ganz zu lassen, könne er nicht versprechen; allein er wurde als ein incorrigibler Dieb, nachdem ihm die Haare abgeschnitten worden, über die Gränze gebracht.


Auch hat mir ein noch lebender Staabsofficier erzählt: daß er einen reichen Kavalier gekannt, der sich nicht entbrechen können, hin und wieder etwas einzustecken, solches aber nach einiger Zeit seinem Eigenthümer wieder einhändigen zu lassen.

Berlin den 14ten November 1783.

Nencke.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Wingertszahn 2011, insbes. S. 100-103.