ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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IX.

Beispiel und Folgen einer schwärmerischen Sehnsucht nach dem Tode.

Hellen, Christian Friedrich zur

Beim Durchlesen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde erinnere ich mich der seltenen Krankheit einer Bauersfrau meiner Gemeine, wovon ich die Hauptzüge in meinen Annotationen aufgezeichnet, hier mittheile:

Vor ohngefähr drei Jahren, wurde ich zu einer kranken Frau gerufen, ihr das heilige Abendmahl zu reichen. Gleich bei meinem Eintritt in das Haus dieser Kranken fand ich deren ganze Familie, die zum Theil aus vernünftig denkenden Bauern bestand, versammlet, die auf mich wartete. Zwar sind dergleichen Versammlungen bei solcher Gelegenheit, (wie der fürtrefliche D. Leß für nöthig hält) hier gewöhnlich; nur diese, auf deren Gesichtern sich ein ungewöhnlich trüber Ernst und tiefes Nachdenken verbreitete, schien mir geheimnißvoll ―. Dieser mir auffallende Anblick enträhtselte sich aber bald, als sich die ganze Gesellschaft um mich versammlete, und mir [65]mit wehmüthiger Stimme zuflüsterte, daß ihre Verwandtin tiefsinnig sey, und schlechterdings sterben wolle. Dabei schien mir der Wortführer schüchtern und mehr zurückhaltend zu seyn, das mich neugieriger machte, in ihn zu dringen, mich nur zutraulich und dreist von dem Zustand dieser Patientin zu unterrichten. Darauf wurde mir denn entdeckt, jedoch ganz blöde, »daß die Patientin seit ihrer letztern Beichte, (die an mehrern Orten hiesiger Gegend noch Gebrauch ist) ganz tiefsinnig geworden, und beständig mit dem Gedanken, sie wolle und müsse jetzt sterben, beschäftigt gewesen sei: ich hätte vielleicht nachdrücklich gesprochen; sie wollten daher bitten, meinen diesmaligen Vortrag besonders darnach einzurichten und zu mildern«. Ich näherte mich der Person selbst, die mich mit anständiger Bescheidenheit empfing, auch ganz vernünftig alle meine Fragen beantwortete, die ich an sie that; nur wußte sie keinen weitern Grund von meiner Herbestellung und ihrem Zubettliegen anzugeben, als: sie wolle und müsse sterben. Ihre Blicke waren dabei wild und ihre Mienen bitter ernsthaft. Ich frug alsdenn nach dem Beruf, den sie jetzt zum Sterben zu haben vermeinte, den sie aber nur aus verschiednen misverstandnen biblischen Sprüchen und besonders aus einem für sie ganz unpassenden schwärmerischen Liede (Gottlob, daß auch diese Lieder, die so vielen Einfältigen zur Verirrung gereichten, durch bessere des neuen preußischen Gesangbuchs in dieser Gemeine willig [66]vertauscht sind ― ich fürchte, auch von dieser Seite nun weniger) hernehmen zu können glaube.

Viele Mühe kostete es, ihre unrichtige Erklärung und Anwendung dieses Liedes zu berichtigen, auf dessen Autorität sie ihren Beruf sterben zu müssen gründete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr über die Bestimmung des Menschen, über die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie sei, etwas umständlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu schwächen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch nicht da sei, überzeugt und andrer Meinung werden würde. Ich erfüllte hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie die Patientin vorher wünschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ sie unter Anwünschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle.

Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt ― »denn die Kranke wolle jetzt sterben« ― Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte, vorüber; die Patientin ganz blaß, entkräftet, und voll der Sterbensgedanken. Ich empfahl ihr, fleißig nach der Vorschrift des Arztes zu mediciniren; gab ihr selbst einigemal ein, laß ihr Gesänge vor, die sich für sie paßten, schlug ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen mögte. [67]Tages darauf wurde ich wieder gerufen, wo der Paroxismus ebenfalls vorüber war, doch aber bald zurückkehrte: hier wurde sie entfärbt wie der Tod; schrie zum Entsetzen jämmerlich; schlug mit Händen und Füßen so stark um sich, daß sie von drei bis vier Personen mit aller Macht mußte gehalten werden; mit unter stieß sie kurze biblische Seufzer aus; blickte starr und steif; hörte mich reden ― antwortete oft kurz, doch passend und vernünftig, nur all' ihre abgebrochnen Worte verriethen, daß ihre ganze Seele zu Todesgedanken gestimmt sey. Dieser Zustand dauerte über eine Stunde. Nachher war sie ganz matt, konnte kaum sprechen, wuste aber von allem, was vorgefallen war, nichts; gesehen hatte sie nichts, obgleich ihre Augen offen waren und starr sahen; gehört hätte sie ebenfalls nichts, auch gar keine Schmerzen empfunden, nur Aengstlichkeit, Bangigkeit.

Einige Tage darauf währte dieser Paroxismus an drei Stunden, wo der Zustand zwar der nämliche, nur weit heftiger und schaudervoller war, so daß sie mit vieler Mühe gehalten werden mußte; ihr unerträglicher Ton konnte in ziemlich weiter Entfernung gehört werden, daß alles herzulief, in Schreck, und die Gegenwärtigen in Furcht geriethen; selbst der Arzt und ich den schaudererregenden Anblick nicht aushalten konnten. Ihre Entkräftung war stärker, wie gewöhnlich, nur sie selbst wußte von nichts, ob ich gleich zu Anfang dieses Paroxismus viel [68]mit ihr gesprochen, und mit lauter Stimme zugeredet hatte, wobei sie oft in meine Worte fiel, und nichts Verstand- und Sinnloses anbrachte.

Dieser heftige Paroxismus minderte sich nach der gründlichen Vermuthung des geschickten Arztes, an Dauer und Heftigkeit allmälig; nur ihre Sinn- und Gefühllosigkeit blieb bei jedem Anfall, die nämliche. So oft er im Anzuge war, ergriffen die mannfesten Aufseher Hände und Füsse der Patientin, und in dieser höchst unbequemen Lage verlangte sie einst (der Paroxismus verminderte sich schon sehr) eine angezündete Pfeiffe Taback um etwas freier zu werden; so bald sie eine Hand los hatte, fuhr sie in aller Geschwindigkeit mit derselben zum Munde, um sie mit Gewalt zu zerbeissen. Ein andermal verlangte sie, ihre Hand loszulassen, die der Aufseher festhielt, sich die Nase zu wischen; ergrif aber, sobald sie los war, die Hand des Aufsehers, um sie zu beissen, statt ihrer eignen (die durch Gewalt wieder in Sicherheit gesetzt wurde) als sie jene nicht habhaft werden konnte. ― Diese Zufälle waren in ihrer Heftigkeit äusserst schaudervoll, bei ihrer Minderung aber sonderbar und etwas gefährlich; schienen mit Ueberlegung und Bewustsein verbunden zu seyn, und doch wußte sie gleich nach dem Paroxismus von dem allen gar nichts. Mancherlei waren die Urtheile des gemeinen Mannes über diesen, besonders letztern Umstand, der aber doch nach vier bis sechs Wochen [69]durch den Fleiß eines gründlichen Arztes vollkommen gehoben wurde.

Diese Frau ist übrigens an die 40; jetzt völlig gesund an Leib und Seele; sie ist von ernsthafter Gemüthsart, stille, nachdenkend, zur Melancholie geneigt, sonst aber gewissenhaft, und auch eine der christlichsten und bravsten Hausmütter dieser Gemeine.

Zur Hellen ,
Pastor zu Dornberg in der Graf
-schaft Ravensberg.