ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Sonderbarer Gemüthszustand eines jungen Menschen von funfzehn Jahren*). 1

Schmidt, Valentin Heinrich

Ein hiesiger Bürger brachte vor etwa drei Jahren seinen Sohn in die Stadtschule. Seine Fähigkeiten waren seiner körperlichen Grösse nicht angemessen; daher ward er in die zweite Klasse gesetzt. [29]Hier saß er oft unter einer gemischten Anzahl der Kleinern, deren kindisches Betragen ihm bei seinem reifern Alter nicht mehr gefiel.

Da er sich aber sonst gut betrug und mit anhaltendem Fleiße die Lehrstunden besuchte, gewann er das Vertrauen seiner Lehrer. Dies dauerte eine Zeit, bis die zu große Ungleichheit seiner Mitschüler und die Abneigung gegen die französische Lehrstunde, wo er den Unterricht unter seinen Fähigkeiten zu seyn glaubte, den Wunsch in ihm rege machten, die Schule bald möglichst wieder zu verlassen.

Er versuchte unter mancherlei Vorwand von seinen Eltern die Erlaubniß dazu zu erhalten, die ihm aber jederzeit versagt wurde. Endlich sagte er es ihnen ohne Rückhalt, daß ihm die Anfangsgründe der Sprache, die man in der untern Klasse trieb, hinlänglich bekannt wären, und er daher jede Stunde, die er dort zubrächte, für verloren hielte. Diese aber schrieben es bei einer strengen Erziehungsart ihrer Kinder auch diesesmal seinen noch unreifen Einsichten zu, und hielten ihn noch nachdrücklicher zum fleißigen Besuche der Schule an.

Nun aber änderte sich auf einmal sein ganzes Betragen. Er schien tiefsinnig und schwermüthig zu werden. In der Zeichenstunde, nahm er statt zu arbeiten, eine abgestumpfte Feder oder eine Mohrrübe, befestigte sie in den Tisch, und hieb den obern Theil mit einem Streich herunter. Hie-[30]zu hatte er von dem Tage an stets ein ungewöhnlich großes Messer bei sich. So wird mirs auch gehen, setzte er hinzu, und bald darauf drangen Thränen aus seinen Augen.

In diesem Zeitpunkte antwortete er auf alle Fragen seiner Mitschüler nichts. Es schien, als wenn eine tiefe Schwermuth, die mit einer Reue über ein begangenes Unrecht verknüpft war, sich seiner bemächtigt hatte. Er sah starr und still auf jeden, der ihn befragte, und selbst seine Lehrer erhielten entweder keine oder nur abgebrochene Antworten von ihm, die keinen Sinn hatten.

Man hielt es anfänglich für eine vorübergehende Schwäche, als er es aber mehrere Tage fortsetzte, ununterbrochen bald weinte, bald durch Worte, Gebehrden und Handlungen Verwirrung des Verstandes äusserte, befragte man ihn genauer, und erhielt noch keine befriedigende Antwort. Man fand für gut, nicht mit Schärfe in ihn zu dringen. Seine Mitschüler entfernten sich von ihm.

Hierauf schnitt er in den Tisch einen Galgen, oder bemahlte damit ein Papier, setzte sich das Messer an die Kehle oder auf die Brust, sprach vom Ersäufen, mit dem Zusatz, daß er es längst würde gethan haben, wenn er seinen Eltern diesen Gram hätte verursachen können, drohete einige seiner Mitschüler, und besonders auch den französischen Lehrer zu erstechen, einen Balken herunterzureissen [31]und ihnen damit auf den Kopf zu werfen, und dergleichen mehr.

Bei dem allen kehrten stets seine Thränen zurück; und dies schien ihm Erleichterung zu verschaffen, und ruhige Zwischenzeiten zu geben. Dann sahe er stets vor sich hin, und bekümmerte sich um keine Gegenstände, die um ihn waren. Aus der Schule ging er öfters so, daß er sich vor den Kopf schlug, verzweiflungsvolle Gebehrden machte, mit den Füssen stampfte und noch mehrere Zeichen des Unwillens von sich gab.

Man schonte ihn noch immer und suchte durch Zureden und freundschaftliche Behandlung sein Vertrauen zu gewinnen, um wo möglich auf die Spur seines sonderbaren Betragens zu kommen; aber er blieb sich stets gleich und antwortete höchstens, daß ihm nichts fehle. Ueberhaupt schien es, daß er mehr durch Güte zu lenken war, denn Trotz und Widersetzlichkeit äusserte er nur, wenn man strenge mit ihm verfuhr.

Da die Kinder dieses ihren Eltern entdeckten und einige besorgten, daß er wohl gar einen seiner Mitschüler beschädigen könnte; so meldete man es seinen Eltern, mit der Bitte, ihn auf einige Zeit zu Hause zu behalten. Der strenge Vater wendete diese Tage an, ihn durch scharfe Zucht und durch Einsperren von seinen Narrheiten zu heilen, besonders da er im väterlichen Hause nie dergleichen gezeigt hatte.

[32]

Er schickte ihn wieder; aber ohne Erfolg. Jetzt sprach er von Kuren, denen er sich habe unterwerfen müssen, vom Bade, in das er getaucht wäre, um seinen Kopf wieder in Ordnung zu bringen. Als man in der Lehrstunde einen Brief diktirte, schrieb er, statt des Diktirten, viel verwirrtes Zeug nieder, das keinen Sinn hatte. Nun lief sogar von einem Vater eines andern Schülers ein Schreiben an einen Lehrer ein, worinn er bat, auf diesen Menschen Acht zu haben, weil er einen seiner Mitschüler zu erstechen gedroht habe.

Dieser Wink nebst den vielen nachtheiligen verdrehten Gerüchten über diesen Vorfall, noch mehr aber folgender Brief, der von diesem Jüngling selbst einem Lehrer in dessen Abwesenheit ins Haus gebracht wurde, veranlaßte, daß man gewissere Auskunft darüber suchte. Ich will ihn ganz wörtlich mittheilen.

»Mein lieber Herr K..,

Ich bedanke mich auch für Ihren guten Unterricht, den ich bishero von Ihnen gehabt habe; denn ich werde nunmehro nach Italien reisen, Leben Sie wohl; ich werde mich beständig an Sie erinnern, weil ich Ihnen so gut gewesen bin, als allen meinen Maiters, und ich von Ihnen am meisten gelernt habe. Ich verbleibe mit vieler Hochachtung, u.s.w.«

[33]

Der Schulmann besuchte hierauf die Eltern des jungen Menschen, redete mit Zurückhaltung und Schonung von dem Zustande und den Aeusserungen ihres Sohnes, wo es sich denn zeigte, daß keiner von den Seinigen etwas von einer Reise nach Italien wußte.

Der strengere Vater wußte bald Mittel, ein Geständniß aus ihm zu bringen, welches ihn selbst sowohl als seine Lehrer in Erstaunen setzte. Er gestand nemlich, daß das Mißvergnügen über den Unterricht in der französischen Stunde, sein Widerwille gegen den Umgang mit den Kleinern und der Eckel das schon einmal gehörte immer wieder anhören zu müssen, ihn auf den Gedanken gebracht habe, sich wahnwitzig zu stellen, um dadurch seine Entfernung aus der Schule zu bewirken.

So lößte sich das Geheimniß von seinem Wahnwitze auf, den unter sechs Lehrern einige für gewiß, andere für wahrscheinlich hielten, und wodurch er achtzig seiner Mitschüler zu hintergehen wußte. Diese Rolle hat er über sechs Wochen anhaltend gespielt.

Bald darauf fand der Vater für gut, ihn aus der Anstalt zu nehmen. Ich selbst habe noch kürzlich mit ihm über diesen Vorfall gesprochen, wo er sich des Ausdrucks bediente: jenes wären nur Kindereien gewesen. Sonst ist er äusserst dienstfer-[34]tig und gefällig, und hat besonders vorzügliche Talente zur Musik, worinn er auch itzt mit Beifall Unterricht ertheilt.

V. H. Schmidt.

Fußnoten:

1: *) Dieser Aufsatz, welcher mir von dem Herrn Konrektor Schmidt, meinem Freunde und nächsten Kollegen an der Kölnischen Schule mitgetheilt worden, ist der erste in diesem Journal, der gleich unmittelbar in die Pädagogik einschlägt, möchten doch bald mehrere Schulmänner mich mit ihren gütigen Beiträgen zu diesem gemeinnützigen Endzweck unterstützen? <M.>