ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Hat die Seele ein Vorhersehungsvermögen?

Hennig, Georg Ernst Sigismund

Königsberg den 18ten März 1783.

Als ich vor einiger Zeit das erste Stück Ihres Magazins zur Erfahrungsseelenkunde zu lesen bekam, war mir eben ein Vorfall begegnet, den ich Ihnen sogleich als einen Beitrag zu dem psychologischen Problem: ob die Seele (wenigstens hie und da irgend eine und die andre) ein Vorhersehungsvermögen habe, zuzuschicken mir vornahm.

Ich war nehmlich vor einigen Wochen zu einer hiesigen Kaufmannsfrau, Namens Krausin, im Löbnicht wohnhaft, gerufen worden, die nicht lange zuvor niedergekommen war, und mich jetzt in ihrer Krankheit, wegen einiger Gewissensangelegenheiten zu sprechen verlangte. Bei dieser Frau hatte sich im vorigen Jahr 1782 im Monath Januar der Umstand ereignet, daß eines ihrer Kinder gestorben war, welches sie ungemein zärtlich liebte. Schon [79]damals hatte sie gesagt, daß sie dies Kind nicht lange überleben würde. Aufs folgende Jahr würde sie im Monath Januar wieder entbunden werden und in diesen Sechswochen würde sie sterben.

Ihr Mann, ein sehr vernünftiger Mann, der sie zugleich ungemein zärtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gründe entgegen, wie niemand sein Ende wissen könne, und sich nicht vor der Zeit unnöthigen Kummer machen müsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden — Genug sie fühlte sich einige Monathe darauf würklich in andern Umständen und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende.

Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschäften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thränen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr beständigen Kummer verursachten.

Sie ward hierauf würklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war — Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, worüber sich indeß die Mutter gar nicht betrübte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto größre Last seyn würde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch glück-[80]lich vorübergegangen und schien nirgend etwas von einer Gefahr zu befürchten zu seyn. Indessen fand sich ein Geschwür am Unterleibe, welches der Arzt für eine Drüse hielt, wo sich die Milch hingezogen und verhärtet hätte, wobei sie die erstaunlichsten Schmerzen empfand.

Ihr Mann, mit dem ich mich vorher unterredet, eh' ich ins Krankenzimmer trat, hatte mir alle diese vorher angezeigten Umstände entdeckt, die mir aber zum Theil schon bekannt waren, da sie zu unsrer Gemeinde gehörte. Nach mancherlei Gesprächen über ihren Seelenzustand, wo sie, nachdem sie jedermann hinauszugehen ersucht hatte, alle ihre Gewissensangelegenheiten und Zweifel entdeckt, lenkte ich denn auch die Unterredung auf die vorhererwehnte Materie, wünschte aber zugleich, daß Gott ihr bald an Leib und Seele helfen wolle.

Hier indeß versicherte sie mich, daß sie gewiß sterben werde, und da ich sie näher um die Gründe, die sie davon hätte, befrug, antwortete sie mir: daß sie zwar nicht sagen könnte, woher sie es eigentlich wisse, doch aber sei ihr das gar wohl erinnerlich, daß schon an dem Sterbenstage ihres vorigen Kindes, welches nun ein Jahr sei, dieser Gedanke ihr sehr lebhaft geworden wäre. Bei diesen Gedanken blieb sie auch beständig, obgleich der Arzt ihr jetzt noch immer alle Hofnung der Gene-[81]sung gab und zu ihrer Hülfe nicht das geringste versäumt wurde.

Bisweilen wünschte sie wohl um ihrer Kinder und ihres Mannes willen noch zu leben, schien es auch, wegen der guten Vertröstungen, die man ihr gab, zu hoffen, allein sie kehrte immer gar bald wieder zu ihrer vorigen Meinung zurück, und da einst ihre Kinder vor ihrem Bette stunden und sie in ihrer Unschuld baten, sie möchte doch nicht sterben, nahm sie das älteste bei der Hand und sagte sehr lebhaft: »Ja sterben werde und muß ich, meine guten Kinder, aber ihr behaltet einen guten Vater, der für euch sorgen wird, dem folget allezeit.« Sie starb auch wirklich den 8ten Februar, nachdem sich zuvor der Brand in den Eingeweiden gefunden hatte.

Sie war übrigens eine Person von einem sehr lebhaften Temperament, und feuriger Einbildungskraft, schien einen sehr feinen Nervenbau zu haben, mithin sehr empfindsam, ungemein biegsam und weich, und von sehr zärtlichem Gewissen. Ich habe das fast bei allen denen gefunden, die mit ihr ähnliche Vorfälle gehabt, und dies oder jenes vorausgesehn oder wenigstens voraussehen zu können geglaubt haben.

Sie starb indeß nicht eher, als bis sie ihrer Zweifel wegen hinreichend beruhigt war, welches [82]ich immer bei denjenigen wahrgenommen, die in der Art und in dem Grade nach Vergebung und Gnade dürsteten, wie ich es bei ihr gefunden habe. Ich bin u.s.w.

G. E. S. Hennig,
Königl. Kirchenrath und Pfarrer im Löbnicht
zu Königsberg.