ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Beobachtungen über Taubstumme. a

Eschke, Ernst Adolf

Erster Versuch.

Niemand wird wohl bezweifeln, daß es der Mühe werth sey, diese Klasse der Menschen zu belauschen, zu sehen, in welchen Stücken sie sich uns Hörenden nähern, oder von uns abweichen und sich entfernen. Dieß und nichts anders ist der Zweck aller Beobachter, die berufen oder unberufen ihr Augenmerk auf Geistesentwicklung und Denkart der Taubstummen richten; und ob deren Anzahl gleich groß ist, so hoffe ich dennoch ein Plätzchen darunter zu finden, und werde zu dem Ende in jedem Stücke dieses Magazins kleine Beobachtungen über Taubstumme liefern, worin ich dem Leser ohne Rückhalt sage, wie weit die Erkenntniß der Taubstummen in abstrakten Begriffen geht; oder worin ich vielmehr Gründe beibringe, durch die ich beweise, daß Taubstummgeborne eigentlich gar keine Erkenntniß abstrakter Begriffe haben. Ausser dem verspreche ich zu zeigen, daß eine lange zusammenhängende Gedankenreihe und Erinnerung an die Vergangenheit der Taubstummen Sache nicht ist, ohne durch gegenwärtige Eindrücke darauf gebracht zu werden.

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Ich schreibe: kleine Beobachtungen. Denn ich will hier die kleine Münze einzelner Erfahrung so lange sammeln, bis ich sie in Goldstücke allgemeiner Anmerkungen umsetzen, und diese zu dem wichtigen Kapitale gedachter Resultate schlagen kann.

Von meinem Schwiegervater Heinike, und durch eignes Studium und unablässigen Selbsteifer ärndtete ich viele Erfahrung in meinem Fache. Des darf ich mich wohl rühmen, ohne den Fehler der Aufgeblasenheit mir auf die Schultern zu bürden.

Lebrecht F. ein Zögling im Institute zu Leipzig, war 15 1/2 Jahr alt, als er in das Institut kam.

Er hat in der zartesten Jugend, ehe er die Sprache noch fassen konnte, das Gehör durch die Pocken verloren. Beim ersten Blick sieht man es ihm an, daß sein Körper von einer thätigen Seele bewohnt wird.

Sein Geschäftigkeitstrieb ist ausserordentlich. Sich die Zeit zu kürzen, sann er darauf, Fliegen und Flöhe zu verbannen, Vögel und Fische hingegen auf eine schlaue Art zu fangen.

Besonders mußte ihm die Verbannung der Flöhe unglaubliches Kopfzerbrechen gekostet haben, denn sie war künstlich und sinnreich. Ich will sie im zweiten Versuche beschreiben.

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Lebrecht stellt seine Gedanken durch sehr passende Zeichen allemal dar, und ich vermuthe schier, daß Herrn Abbé de l'Epee und Herrn Abbé Storks gepriesene methodische Zeichen nicht passender seyn können.*) 1

Bei seiner Ankunft im Institute zu Leipzig sah sich Lebrecht in eine neue Welt versetzt, und man witterte es ihm ab, daß er sich lieber wieder in die alte sehnte. Herr Direktor Heinike und ich däuchten seiner Freiheit ein Kapzaum, und er schien darüber empfindlich. Indessen erwarb ich mir bald Zugang zu seinem Herzen, Liebe und Vertrauen. Ich gab ihm nach, wo ich konnte. Erlaubten Wünschen eilte ich zuvor, und blieb ihre Erfüllung augenblicklich unmöglich, so suchte ich sie wenigstens zu beflügeln. Ich lauerte auf die Minuten, wo er meinen Unterricht anzunehmen geneigt war. Ich strengte ihn Anfangs nicht im mindesten an. Worauf seine Aufmerksamkeit stieß, da folgte ich ihm treulich. Und so betrachteten wir in einer Stunde öfters mit ziemlich flüchtigen Blicken eine Menge Gegenstände, die so pudelnärrisch durch einander liefen, wie sie kaum ein Marionettendirektor zusammenzumischen im Stande ist.

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Ueberdies brauchte ich bei ihm noch diejenigen schuldlosen Kunstgriffe, mit welchen ich so vielen der Taubstummen Lust zum Lernen inokulirte, und die ich, ohne Winkelzug und Zikzak, dem Publikum enthüllte in meinen

Reflexionen über Thier- und Menschensprache; auch über die sämmtlichen Lehrer der Taubstummen. Fragment eines Briefes an Bürger. (in Müller' s und Hofmann' s medizinischen Annalen.)

Hierdurch gelang es mir: seinem nicht geringen, beinahe akademischen Freiheitsstolze Zaum und Gebiß in's Maul zu legen, und den guten Lebrecht ganz an mich zu ketten. Ich wurde gewahr, daß die Krankheit des leidigen Geniefiebers, Sturm und Drang, heimlich in ihm wüthete. Wie ich dagegen eiferte, wie und welche Medikamente, aus Beweisen, Thatsachen und Beispielen, ja sogar aus meinem eignen Beispiele komponirt ich ihm eingab: dies behalte ich mir vor künftig zu erwähnen. Es ist gewiß, daß jeder gute junge Kopf die sublunarische Welt in der Erst als Dichter und Träumer angaft. Er schaut alles edler, höher, vollkommner, himmlischer, geläutert und gesäubert vom Unreinen, Irdischen; natürlich auch übertriebner, wilder und verwirrter. Am besten dünkt mich, wenn er das im Stillen auskocht; sonst wird er ein Kontreband in der menschlichen Gesellschaft.

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Acht Wochen spielte ich, so zu sagen, mit ihm. Aber nachdem griffen wir unser Werk mit vereinten Kräften fröhlich und guter Dinge an. Binnen sechs Wochen brachten es Herr Direktor Heinike, ich und sein eigner Fleiß so weit, daß Lebrecht die ihm vorgelegten Fragen zu beantworten vermochte, wie man es verlangte. Es versteht sich, daß es Fragen über sensible Dinge seyn mußten. Vom Sensiblen geht man dann zum Intelligiblen.

Ich habe bei unserm Lebrecht so Vieles bemerkt, was in psychologischer Rücksicht merkwürdig mir scheint. — Aber ich fand mich genöthigt, hier erst minder interessante Sachen zu erzählen, um im zweiten Versuche dahin zu kommen, wohin ich will.

Berlin am 14ten Oktober 1789.

Ernst Adolf Eschke.

Fußnoten:

1: *) Mit beiden Herren Abbés stehe ich jetzt über unsre heterogenen Lehrarten im Briefwechsel.
Eschke.

Erläuterungen:

a: Eschke publizierte anschließend weitere Beobachtungen zu Lebrecht F. in der Berlinischen Monatsschrift (Eschke 1795/1796,) 'Erster Versuch', Bd. 26, S. 535-547 und 'Zweiter Versuch', Bd. 27, S. 336-356.