ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Ueber Selbsttäuschung.

Moritz, Karl Philipp

Eine Parenthese zu dem Tagebuche eines Selbstbeobachters. a

Ich unterbreche gerade hier das Tagebuch, um auf den Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, wodurch es für den Psychologen interessant wird.

Es läßt sich kein höherer Grad von Selbsttäuschung denken, als den Vorsatz zu fassen, inskünftige wahr zu seyn, und vor sich selber nicht mehr anders zu scheinen, als wie man ist.

Ohne dabei in Erwägung zu ziehen, daß dieser Vorsatz selbst unmöglich wahr seyn kann; weil es gar keines solchen Vorsatzes mehr bedürfte, sobald man ein wirkliches Vergnügen daran fände, wahr zu seyn, und einem der Schein nicht selbst noch in diesem Augenblicke, lieber als die Wahrheit, wäre.

Nun ist aber dieser höchste Grad von Selbsttäuschung gewiß eine der sonderbarsten Erscheinungen der menschlichen Seele — weil die Wahrheit selber unter der Täuschung erliegt. —

Denn die folgenden Ausdrücke: Das war es eben, was mir bisher so viele Glückseligkeit geraubt hat — und: ich bin nicht den geraden [46] Weg gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag — sind doch wahr — aber der Vorsatz, wahr zu seyn, der in der Morgenstunde, in dem Garten, unter freiem Himmel, feierlich gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind.

Geheime Tagebücher können über dieses noch in tiefes Dunkel gehüllte Phänomen der Selbsttäuschung die besten Aufschlüsse geben.

Sie sind laurende Verräther, redende Zeugen, aber auch lockende Verführer. —

Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge erblicket, und will doch auch da nicht häßlich vor sich selbst erscheinen. —

Er macht sich die bittersten Vorwürfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl zu setzen, wodurch er sich Vorwürfe macht. —

Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem merkwürdigen Tage seines Lebens ein getreues Bild darstelle.

Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine Wichtigkeit zu geben, die es sonst nicht hat — die Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck. —

Er schreibt schöne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsätze kleidet, um sie dadurch festzuhal-[47]ten — und fühlt das Mißverhältniß nicht, das die ganze Masse seines Lebens sich an den Buchstaben festhalten soll, die seine Hand niederschreibt. —

Er will das durch die Buchstaben zwingen, was die Buchstaben selber zwingt.

Unwillkührlich entsteht hieraus die affektirte Sprache einer erzwungenen Religiösität und Moralität; das Unbestimmte, Schiefe und Schwankende in den Ausdrücken; und das oft Fade und Oberflächige der abgleitenden Gedanken, unter denen doch immer der Ausdruck des Wahren sich emporarbeitet, bis auf den Punkt, wo der Wunsch des Wahren selbst zur Lüge, der Haß vor der Verstellung selbst zur Verstellung, und die Furcht vor der Selbsttäuschung selbst zur Täuschung wird.

Daß dies nun in der Natur unsers denkenden und empfindenden Wesens möglich ist, und wie es möglich ist, verlohnet wohl der Mühe des Nachforschens und Denkens — weil da, wo unser Wesen sich selber täuscht, gewiß noch unentdeckte Spuren von seinen verborgenen Grenzen und Umrissen liegen.

Für jetzt lassen wir den Selbstbeobachter weiterreden!

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 633.